WIESBADEN. Nach den Demonstrationen am Wochenende in Wiesbaden für und gegen den neuen „Lehrplan Sexualerziehung“ in Hessen hat sich der Philologenverband des Landes in die Diskussion eingeschaltet. Der Lehrplan sei auf „stillen Sohlen“ dahergekommen, weise aber „eine besondere Brisanz“ auf. „Er formuliert zum Teil irritierende Ansprüche und muss daher Kritik auf sich ziehen“, so heißt es in einer Pressemitteilung des Verbands.
„Sexualerziehung findet in der Schule in erster Linie im Biologieunterricht statt. Das bedeutet, dass biologische Inhalte rund um die körperliche und sexuelle Entwicklung des Menschen im Vordergrund stehen. Schon immer gehörten zum Sexualkundeunterricht auch altersgemäße Informationen über Sexualverhalten, Partnerschaft und Familie sowie das Gespräch über die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen, Prävention in Bezug auf Geschlechtskrankheiten, Möglichkeiten der Empfängnisregelung und Hilfsangebote bei ungewollter Schwangerschaft“, so schreibt der Philologenverband. „Im neuen Lehrplan Sexualkunde ist aber die Schwerpunktsetzung auffallend ethisch und gesellschaftswissenschaftlich ausgerichtet. Persönlichkeitsaspekte, die zutiefst privat sind und primär in den elterlichen Erziehungsbereich gehören, werden in das unterrichtliche Geschehen einbezogen. Die Wertevermittlung wird stärker betont, als dies bei fachlichen Aspekten der Fall ist.“
Problematisch ist dabei für den Philologenverband zunächst die zu erwartende Arbeitsbelastung für die Lehrkräfte: „Gesellschaftliche Problemfelder und Widersprüche sollen mit Hilfe des Sexualkunde-Unterrichts thematisiert, Konflikte womöglich gelöst werden. Entsprechend groß ist die Anzahl der Punkte, die im Unterricht behandelt werden sollen. Eine Vertiefung einzelner Aspekte ist in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Die Konzepte für die Umsetzung sollen ohne Entlastung von den Lehrkräften der beteiligten Fächer in zusätzlichen Konferenzen und Arbeitsgruppen entwickelt werden. Dies lehnt der Hessische Philologenverband als unzumutbare Belastung der Kolleginnen und Kollegen ab.“
“Akzeptanz ist mehr als Toleranz”
Darüber hinaus hat der Philologenverband aber auch mit der inhaltlichen Ausrichtung ein Problem. „Nachvollziehbar ist, dass Sexualerziehung in der Schule als fächerübergreifender Erziehungsauftrag zu verstehen ist, dem man mit Zurückhaltung nachkommt und der sich von ‚Offenheit‘ und ‚Toleranz‘ gegenüber verschiedenen Wertvorstellungen leiten lässt. Schule und Elternhaus sind dabei – sinnvoll zusammenwirkend – gleichermaßen gefordert. Dass sich die schulische Aufklärung etwa mit der Bedeutung von Ehe, Lebenspartnerschaften, Familie, mit sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten beschäftigt, dürfte selbstverständlich sein; wenn allerdings ein ‚wertschätzendes Verständnis‘ für die Vielfalt der partnerschaftlichen Beziehungen, der zum Teil sehr spezifischen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten vermittelt werden soll – so die Zielsetzung des Lehrplans – so ist dies sehr weitgehend“, meint der Verband.
Der Lehrplan verlange eine Erziehung zur „Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intersexuellen Menschen (LSBTI).“ Abgesehen davon, dass hier psychologische und biologische Kategorien miteinander vermischt würden, lasse der Lehrplan weder Eltern und Schülern noch Lehrkräften die Freiheit, zumindest in Teilen zu anderen Bewertungen der verschiedenen Aspekte von Sexualität zu kommen. Die als Bildungsziel ausgewiesene „Akzeptanz“ (im Sinne von Anerkennen, Hinnehmen, Gutheißen) gehe über die „Toleranz“ (das Gelten- und Gewährenlassen) hinaus.
Der Lehrplan ist bereits seit September in Kraft. Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) hatte bereits Anfang Oktober Kritik daran zurückgewiesen. Die Neufassung sei ein Routinevorgang gewesen, um den Plan an die veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, erklärte Lorz. Es sei „keineswegs etwas fundamental Neues enthalten“.
Die Gegner des Lehrplans trafen sich am vergangenen Sonntag vor dem Kultusministerium in Wiesbaden zu einer „Demo für alle“, die Organisatoren zählten rund 1900 Teilnehmer – und mindestens ebenso viele Gegendemonstranten. Veranstalter der „Demo für alle“ war das konservative Aktionsbündnis „Ehe und Familie“ das bereits in Baden-Württemberg gegen ähnliche Änderungen des dortigen Bildungsplans mobilisiert hatte und aktuell auch in Bayern aktiv ist. „Ehe bleibt Ehe“ steht auf ihren Schildern und „Stoppt Gender“. Die Organisatorin, Hedwig von Beverfoerde, kündigte dauerhaften Widerstand gegen den neuen Lehrplan an. Agentur für Bildungsjournalismus
