BERLIN. Wird das Abitur in Deutschland – zumindest in einigen Bundesländern – verschenkt? Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, hat mit seiner scharfen Kritik an einer mancherorts angeblich betriebenen Senkung des Leistungsniveaus eine breite Diskussion ausgelöst. Von Ties Rabe, Bildungssenator in Hamburg und Sprecher der SPD-geführten Kultusministerin in Deutschland, kommt jetzt energischer Widerspruch. Und auch ein renommierter Publizist der konservativen Zeitung „Die Welt“ (die selbst immer wieder Geschichten über das angeblich so leicht gewordene Abitur in Deutschland veröffentlicht), mag in das Wehklagen über den vermeintlichen Niveauverlust der Reifeprüfung nicht einstimmen.

Von einem „Noten-Dumping“ will Rabe, der sich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zu Wort meldete, nichts wissen. Grundsätzlich sei zwar richtig, dass die Abitur-Durchschnittsnoten in den vergangenen Jahren etwas besser geworden seien („auch übrigens gerade in Bayern“). Aber die Unterschiede seien klein, viel geringer als Kraus zu suggerieren versuche. Rabe: „Da ist der Notendurchschnitt durchschnittlich von 2,5 vielleicht auf 2,4 verbessert worden. Das ist jetzt ehrlicherweise kein Weltuntergang.“ Die eigentlich spannende Frage sei doch, ob die Schüler sich die Verbesserung nicht vielleicht auch verdient hätten – schlicht weil sie besser geworden seien. Und darauf gibt es laut Rabe eine klare Antwort: „Wer ehrlich ist, wer seriös argumentiert, der muss zumindest Folgendes einräumen: In den letzten 15 Jahren ist Deutschland, sind Deutschlands Schülerinnen und Schüler bei sämtlichen Bildungstests stetig besser geworden.“
Und immer ist die Schule schuld: Das Märchen vom sinkenden Bildungsniveau in Deutschland
PISA dokumentiere alles in allem eine deutliche Verbesserung der Leistungen von der ersten Studie im Jahr 2000 an. „Das zeigt schon, dass hier etwas in Bewegung gekommen ist und dass deshalb Schülerinnen und Schüler in Deutschland durchaus besser geworden sind“, sagt Rabe.
“Kann sein, dass wir bessere Bildung machen”
Überhaupt: „Was mich übrigens aber besonders stört an der Argumentation, ist, dass alle so tun, als ob quasi eine biologische Grenze in Deutschland existiert, nach der nicht mehr als 25 Prozent der Kinder das Abitur verdient hätten. Und wenn in einem Land mehr als 25 Prozent das Abitur schaffen, dann, so wird flugs behauptet, liege es nur daran, dass das Abitur leichter geworden ist. Ich wundere mich schon über diese sehr biologische Argumentation. Mir ist aufgefallen, bei Olympia gab es einen Medaillenspiegel, da haben kleine Länder wie England deutlich mehr Medaillen erobert als große Länder wie Brasilien. Und man fragt sich schon, haben die da auch einfach niedrigere Sprunghürden gehabt? Nein. Die Engländer haben ihre Kinder, ihre Sportler besser gefördert. Und insofern finde ich es ein bisschen absurd, aus hohen Abiturientenzahlen sofort zu folgern, dass das nur daran liegen könnte, dass man beim Abitur trickst und schummelt. Nein, es kann auch sein, dass wir bessere Bildung machen.“
Angesprochen auf die Klagen der Hochschulen, immer mehr Abiturienten von heute seien nicht studierfähig, kontert Rabe: Es gebe hierfür keinen empirischen Beleg, lediglich Meinungsäußerungen einzelner Professoren.„Aber an einer Stelle ist in der Tat eine sorgfältige Analyse nötig“, so räumt Rabe ein. „Wir stellen fest, Deutschlands Abiturienten heute haben bei bestimmten Basics, in der Rechtschreibung zum Beispiel, auch beim Kopfrechnen, überhaupt bei Rechenoperationen, Dreisatz, Bruchrechnung und viele Dinge mehr, durchaus ihre Schwächen.“
Das liege aber auch daran, dass die Länder in den Bildungsplänen den Fokus verändert hätten und diesen Grundlagen nicht mehr die Bedeutung eingeräumt würden wie in den 60er- oder 70er-Jahren. Dafür würden heute viel stärker Fremdsprachen unterrichtet, werde Medienkunde gelehrt, Repräsentationstechniken und vieles mehr vermittelt. „Und so richtig es ist, dass vielleicht Schüler aus meiner Generation heute im Kopfrechnen oder bei der Rechtschreibung die meisten Abiturienten weit überflügeln, so richtig ist es umgekehrt, dass vermutlich aber die meisten heutigen Abiturienten uns ältere Generation in Sachen Fremdsprachen, in Sachen Englisch, in Sachen Informatik locker an die Wand lernen“, betont der Bildungssenator.
Fazit des Sozialdemokraten: „Vielleicht müssen wir darüber diskutieren, die Bildungspläne wieder ein Stück weit Richtung Basics, Richtung Rechtschreibung zu rücken. Darüber kann man streiten. Aber so zu tun, als ob es das Einzige ist, und diese anderen vielen Dinge, die Schüler heute viel besser können, auszublenden, das wäre auch nicht redlich.“
“Höhere Prüfungsanforderungen”
In eine ähnliche Kerbe schlägt Alan Posener, Korrespondent der „Welt“ (und selbst ehemaliger Studiendirektor in Englisch und Deutsch). „Von wegen Billigabitur – die Schüler sind heute einfach besser“, so ist ein aktueller Beitrag von ihm betitelt. Auch aus eigener Erfahrung bestätigt er einen deutlichen Niveauanstieg: „Ich habe 1969 Abitur gemacht, als die Abiturientenquote bloß zehn Prozent betrug. Als Studiendirektor habe ich dann bis 1989 selbst Abituraufgaben in Englisch und Deutsch gestellt, als schon 33 Prozent eines Jahrgangs Abi machten und allenthalben das niedrige Niveau der Schule beklagt wurde. Aus persönlicher Anschauung kann ich bezeugen, dass die Prüfungsanforderungen 1989 erheblich höher waren als 1969“, so schreibt Posener.
Während früher die Gymnasiasten sich hautsächlich aus dem Bildungsbürgertum rekrutierten („man lernte trotz der Schule“), müsse heute die Schule leisten, was die Elternhäuser vielerorts nicht mehr böten. Und: „Die Einführung des Zentralabiturs in den Ländern hat der Willkür des einzelnen Lehrers enge Grenzen gesetzt.“ Gleichwohl sei das Niveau keineswegs gering. Posener hat sich in seinen Fächern Abituraufgaben aus Bayern und aus Berlin vorgenommen. Sein Urteil: anspruchsvoll. Und sein Fazit (bezogen auf die Bundeshauptstadt): „Die Stadt hat viele Probleme, auch und gerade im Schulbereich. Eine Inflation guter Noten, zurückzuführen auf ein Billigabitur, gehört aber nicht dazu.“ Agentur für Bildungsjournalismus
Früher war die Bildung besser? Von wegen – deutsche Schüler waren schon immer nur mittelmäßig
