Früher war die Bildung besser? Von wegen – deutsche Schüler waren schon immer nur mittelmäßig

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ESSEN. Die aktuelle Diskussion um die Rechtschreibung ist für viele Kritiker von Schulreformen mal wieder Anlass, den Verfall der Bildung in Deutschland zu beklagen. Früher war alles besser – die Disziplin, das Niveau, die Lernbereitschaft, so heißt es. Aber: Stimmt das überhaupt? Eine Neubewertung von frühen Leistungstests durch die renommierten Essener Bildungsforscher Prof. Isabell van Ackeren und Prof. Klaus Klemm belegt deutlich, dass deutsche Schüler schon immer nur mittelmäßig waren – lange vor Pisa.

Da schien die pädagogische Welt noch in Ordnung zu sein: Klasse eines Jungengymnasiums in den 60-er Jahren. Foto: Hans-Michael Tappen / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Da schien die pädagogische Welt noch in Ordnung zu sein: Klasse eines Jungengymnasiums in den 60-er Jahren. Foto: Hans-Michael Tappen / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Von wegen Goldene Sechziger

Von Isabell van Ackeren und Klaus Klemm

Für knapp zwei Jahrzehnte hatten deutsche Schulen sich ausgeklinkt. Nachdem die Bundesrepublik 1963 an der First International Mathematics Study (Fims) und 1970 an deren Fortsetzung First International Science Study (Fiss) noch teilnahm, war Anfang der 80er Jahre erst einmal Schluss. Sims und Siss (das S steht für Second) gerieten hierzulande zu Fremdwörtern. Erst im Jahr 1995, mit der dritten Mathematik und Naturwissenschaftsstudie Timss reihte Deutschland sich wieder in eine 40jährige Tradition vergleichender Schulleistungsstudien ein.

Vor dem Hintergrund bitterer Befunde der neueren Studien Timss und jetzt Pisa zur Qualität des deutschen Schulsystems gewinnt ein Rückblick auf die Ergebnisse der älteren Untersuchungen ein doppeltes Interesse: Welches Leistungsbild bieten die Schulen des westdeutschen Staates in den Jahren, in denen Georg Picht die deutsche Bildungskatastrophe verkündete und in denen Ralf Dahrendorf in seiner Schrift „Bildung ist Bürgerrecht“ das Land auf die eklatante Vernachlässigung des Gebots der Chancengleichheit aufmerksam machte? Und: Wie haben sich seither die internationalen Positionen verschoben? Welche Länder haben sich verbessern können, welche sind zurückgefallen?

Eine vertraute Einschätzung

Zunächst ist zu bemerken, dass die Studien zu mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen Fims und Fiss in einzelnen Aspekten methodisch problematisch sind. Nicht in allen teilnehmenden Ländern waren die Stichproben repräsentativ. Zudem waren in Deutschland bei Fims mit Hessen und Schleswig-Holstein nur zwei Länder beteiligt. (An Fiss wirkten dann alle Bundesländer mit). Schließlich ist zu beachten, dass die Zahl der beteiligten Staaten mit zehn bis 19 deutlich geringer war als bei Pisa mit immerhin 32 Ländern. Die Befunde damaliger Studien lassen daher anders als die der aktuellen Untersuchungen nur gröbere Positionsbestimmungen zu.

Dennoch ergibt sich aus den beiden frühen Untersuchungen ein interessantes Bild: Die erste Mathematikstudie testete die Leistung von 13- Jährigen und von Schülern der Sekundarstufe II. Bei letzteren unterschied sie zwischen den Schülern mit vielen Mathematikstunden (in Deutschland waren das Jugendliche an mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien) und solchen mit wenigen (entsprechend alt- und neusprachliche Gymnasien). Die deutschen 13- Jährigen rangierten damals in einem Feld von zwölf Ländern im oberen Mittelfeld auf dem 5. Platz. Israel, Japan und Belgien bildeten das Spitzentrio. Die deutschen Schüler mit  Mathematik als Schwerpunktfach landeten unter den zwölf Teilnehmerländern sogar nur auf dem siebten Platz – wiederum hinter Israel, Belgien und Japan, aber auch hinter wichtigen Vergleichsländern wie England, Frankreich und den Niederlanden. Die Autoren des deutschen Berichts schrieben damals: „…die Leistungen unserer Abiturienten im mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig sind bescheiden gegenüber den Leistungen, die in anderen Ländern von sehr viel jüngeren Schülern zur Zeit ihres Übergangs an die Universität erzielt werden.“

In dieser Bewertung des Leistungsstands in den 60er Jahren ist die heute allzu vertraute Einschätzung wiederzuerkennen: Deutschlands Schüler sind – obwohl deutlich älter als die anderer Länder – Mittelmaß. Nur in der Gruppe der Oberstufenschüler mit Mathematik als randständigem Fach nahmen die deutschen Schüler den ersten Platz ein. Das erklärt sich dadurch, dass damals – vor der gymnasialen Oberstufenreform – für alle deutschen Schüler anders als in den meisten Vergleichsländern Mathematik beim Abitur Prüfungsfach war.

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In den naturwissenschaftlichen Fächern bietet sich ein weniger klares Bild. Getestet wurden 1970 je nach Altersgruppe in bis zu 19 Staatenzehn- und 14-Jährige sowie Schüler am Ende der Sekundarstufe II. Die deutschen Oberstufenschüler nahmen hinter Neuseeland den zweiten Platz ein, die 14- Jährigen landeten hinter Japan, Ungarn, Australien und Neuseeland auf dem fünften Platz, die Zehnjährigen dagegen belegten den drittletzten Rang: Japan, Schweden, Finnland, die Niederlande und andere lagen, zum Teil mit deutlichem Abstand, vor Deutschland. Ob sich in den unterschiedlichen Platzierungen der einzelnen Schulstufen besondere Stärken und Schwächen des Unterrichts spiegeln oder ob sich hier ein „Abstieg“ der  Leistungsfähigkeit im Verlauf der 60er Jahre andeutet, kann im Rückblick nicht mehr entschieden werden.

Lässt man die ohnedies scheingenaue Platzierung mit Rangnummern außer Acht und ordnet die Ergebnisse in obere, mittlere und untere Leistungsfelder, so zeigt sich, dass das Schulsystem Westdeutschlands während der 60er Jahre überwiegend Schülerleistungen im Mittelfeld erbrachte. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Schulen der Bundesrepublik vor der Phase der Bildungsexpansion und vor den ohnedies nur halbherzig betriebenen Reformen Exzellenz hervorgebracht hätten. Von einem Verfall deutscher Schülerleistungen (…) kann daher kaum gesprochen werden – schon gar nicht von einem Verfall als Folge von Expansion und Reformen.

Sozial selektiv

In das kontinuierliche Bild mittelmäßiger Schülerleistungen reiht sich ein weiterer Befund ein: Beim Lesen der alten Studien stößt man schon im Fiss-Bericht auf einen Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Leistung: Es „ergibt sich aus dem internationalen Vergleich, dass die Beziehung der Leistung zur Sozialstruktur um so enger ist, je selektiver das System ist“. Genau diesen Befund wiederholt die Pisa-Studie.

Aber auch der Blick ins Ausland ist interessant, wo es in erheblichem Umfang Bewegungen gegeben hat. So hat Finnland zwar seine Spitzenstellung seit einer Lesestudie zu Beginn der 90er Jahre halten können. Ebenso wie die schwedischen waren jedoch auch die finnischen Ergebnisse bei der frühen Fim- und Fis-Studie weniger stabil. Möglicherweise haben sich die tiefgreifenden Reformen der 70er Jahre in beiden Ländern positiv ausgewirkt. Auch die anglophonen Überseegebiete Australien, Neuseeland und Kanada konnten ihre Leistung deutlich steigern beziehungsweise stabilisieren. Dies gilt im Übrigen auch für den enormen Fortschritt Englands beim Mathematikteil von Pisa im Vergleich zu Timss – was man dort auf die Reformen der letzten Jahre zurückführt: etwa auf die regelmäßigen diagnostischen Tests, die Standards sichern sollen.

Die Entwicklung in anderen Ländern kann immerhin ermutigen: Sie zeigt, dass es möglich ist – entsprechende Anstrengungen vorausgesetzt –, in einem überschaubaren Zeitraum die Leistungsfähigkeit des Schulsystems deutlich zu steigern. (…)

Der Text erschien erstmals 2001 und ist hier – auf der Homepage der Uni Bremen – abrufbar.

Zum Kommentar: Und immer ist die Schule schuld: Das Märchen vom sinkenden Bildungsniveau in Deutschland

 

 

 

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5 Kommentare
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xxx
7 Jahre zuvor

hier werden Äpfel mit Birnen oder konkreter längs- mit querbezügen. wenn das Bildungsniveau überall in den vergangenen 60 Jahren abnahm, ist mittelmäßig im internationalen Vergleich unabhängig vom tatsächlichen Niveau damals und heute.

mehrnachdenken
7 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Wer setzt so etwas in die Welt? Worüber wundern Sie sich noch?
Ich bin ein Kind dieser Zeit und könnte an vielen Beispielen verdeutlichen, dass die Autoren ziemlich daneben liegen. Dafür ist mir aber die Zeit zu schade.

Erwin Ott
2 Jahre zuvor

Hessen und Schleswig-Holstein. Galten früher nicht gerade als Bildungsleuchttürme …

Thilo Kotze
2 Jahre zuvor

Schleswig-Holstein und Hessen? Galten früher als Bildungslooser innerhalb der BRD …

Lanayah
2 Jahre zuvor

Da war die pädagogische Welt noch in Ordnung? Ich wurde 1966 in eine Grundschulklasse mit 45 Kindern eingeschult. Unterrichtet wurden wir von einer Ex-Hausfrau. Es war Lehrermangel. Jungen durften noch geschlagen werden und in jeder Ecke stand immer jemand. Tatsächlich haben wir besser schreiben gelernt, da es ein Extra-Fach war. An der Grundschule (damals noch Volksschule) gab es nicht so viele Fächer wie heutzutage. Auch am Gymnasium (damals hiess es Oberschule) wurde tatsächlich mehr Stoff durchgearbeitet. Damals gingen nur 10% aller Kinder da hin, überwiegend Jungen übrigens, da hat damals keiner gefragt, warum.
Aber pädagogisch wertvoll war Schulbildung zu dieser Zeit mit Sicherheit nicht.