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“Überzeugungsversuche” sind gescheitert: Warum schafft es niemand, einer 16-jährigen Schülerin den Vollschleier im Unterricht zu verbieten?

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BELM. Wie sie aussieht, wissen ihre Familie und ihre Freundinnen, aber sonst kaum jemand. Eine Schülerin, die die zehnte Klasse einer Oberschule in Belm bei Osnabrück besucht, ist deshalb seit dem Herbst Gegenstand politischen Streites in Niedersachsen. Denn das Mädchen trägt seit dem siebten Schuljahr einen Nikab – einen Gesichtsschleier, der nur die Augen frei lässt. Die Schule hat bislang vergeblich versucht, Schülerin und Eltern davon zu überzeugen, den Schleier abzulegen. Stellt sich die Frage: Warum ist das Jugendamt nicht längst eingeschritten?

Ist das ein Bild, an das sich Lehrer in Deutschland gewöhnen sollten? Mädchen im Nikab. Foto: sittiealiah M A / flickr (CC BY 2.0)

Nachdem der Fall im Herbst bekannt wurde, zeigte sich die Opposition im niedersächsischen Landtag empört. Die CDU-Fraktion warf Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SDP) in der Sache «Nichtstun» vor und forderte sogar eine Anklage gegen sie wegen vorsätzlicher Verletzung ihres Amtseides. Angefeuert hat die Debatte noch, als bekannt wurde, dass die Familie der heute 16-Jährigen (die also mit 13 erstmals vollverschleiert zur Schule kam) vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Vater und Bruder des Mädchens sollen Mitglieder der schon seit Jahren in Deutschland verbotenen islamistischen Organisation «Kalifatstaat» sein und Kontakt zu einem Gefährder gehabt haben.

Was soll das Kultusministerium in diesem Fall tun, bei dem zwei vom Grundgesetz garantierte Rechte aufeinandertreffen? Denn einerseits ist die Religionsfreiheit in Artikel vier des Grundgesetzes garantiert. Auf der anderen Seite steht der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, der in Artikel sieben des Grundgesetzes verankert ist.

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Vollverschleierte Schülerin – nach drei Jahren (!) schaut der Verfassungschutz mal auf die Familie und stellt fest: Huch, Extremisten!

Der Vollschleier ermöglicht nicht mehr die offene Kommunikation im Unterricht. Aus Sicht der Pädagogik ist nicht nur das gesprochene Wort wichtig, sondern auch nonverbale Elemente wie die Körpersprache. Auch die Identifizierung der Schülerin, etwa bei Prüfungen, ist schwierig. Tatsächlich hatte das Verwaltungsgericht Osnabrück unlängst das Verbot des Vollschleiers durch ein Abendgymnasium nicht beanstandet – rechtlich also ist die Sache klar.

Alle Überzeugungsversuche haben bislang nichts gefruchtet. Bei dem Mädchen handele es sich um eine Ausnahme, und ihr Verhalten werde lediglich geduldet, um ihr den Schulabschluss in diesem Frühjahr zu ermöglichen, hatte Heiligenstadt im November im Landtag erklärt.

“Gut integriert” – sagt das Kultusministerium

Das Mädchen sei gut integriert, es habe freundschaftliche Beziehungen zu anderen Schülerinnen. Der Nikab werde abgenommen, wenn keine männlichen Personen anwesend seien, heißt es aus dem Kultusministerium. Bisher sei es aufgrund der Vollverschleierung nicht zu Störungen des Schulfriedens gekommen. Die Vielzahl von Medienanfragen sei aber belastend für die Schule.

Wenn es keine Probleme in der Schule gebe – warum werde der Fall dann zum Problem gemacht, fragt Islamismus-Experte Werner Schiffauer, Professor für vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Das Anlegen des Nikab könne auch seinen Grund in der Pubertät des Mädchens haben. «Aus pädagogischen Gründen halte ich das nicht für sinnvoll, daraus eine Staatsaffäre zu machen», sagt Schiffauer. «In diesem Fall erhöht man den Druck auf das Mädchen, und das führt oft zu einer Radikalisierung.» Er würde zu einem «weichen Kurs» raten und das Mädchen nicht unter Druck setzen, was sie weiter von der Gesellschaft entfremde.

Man kann den Fall aber auch anders sehen: Wie kann es angehen, dass eine 16-Jährige von ihrer offenbar politisch radikalen und religiös fundamentalistischen Familie instrumentalisiert wird – ohne dass das Jugendamt einschreitet? Ist das Wohl der Jugendlichen nicht akut gefährdet, wenn Familienmitglieder in einer verbotenen, möglicherweise sogar terroristischen Organisation aktiv sind?

Der fundamentalistische Verband des als „Kalif von Köln“ bekannt gewordenen Metin Kaplan habe beabsichtigt, notfalls mit Gewalt eine staatliche Herrschaftsordnung durchzusetzen, die mit den Grundsätzen von Demokratie und Rechtsstaat unvereinbar sei, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2003 (und bestätigte seinerzeit das Verbot der Organisation). Die Karlsruher Richter verwiesen in ihrer Begründung auf die Verurteilung Kaplans wegen öffentlicher Aufforderung zu einer Straftat im November 2000. Kaplan hatte auf einer Hochzeitsfeier zur Ermordung eines Widersachers aufgerufen, der später von Unbekannten getötet wurde.

Niqab? Nein danke – Gericht bestätigt Verschleierungs-Verbot für muslimische Schülerin

Wäre ein Jugendamt befugt, eine Jugendliche aus einem kriminellen oder terroristischen Umfeld zu entfernen? “Wenn es Hinweise gibt, dass das Wohl und die Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen Schaden nehmen könnte, dann müssen wir als Jugendamt zu ihrem Schutz handeln. Wir haben den gesetzlichen Auftrag, Hinweisen nachzugehen und in der Regel Kontakt zur Familie und zum Kind aufzunehmen. Das bedeutet auch, vielleicht ungebeten an einer Haustür zu klingeln”, so heißt es etwa auf der Seite des Jugendamtes Berlin.

Und weiter: “Eltern haben das Recht, Erziehungsfragen eigenverantwortlich zu entscheiden und Hilfen annehmen oder ablehnen zu dürfen. Dieses Recht hat jedoch seine Grenzen, wenn daraus eine Gefahr für das Kind entsteht. Bei entsprechenden Hinweisen, dass ein Kind oder Jugendlicher in Not ist, müssen wir zwischen dem notwendigen Schutz von Kindern und den Rechten von Eltern abwägen. Bei Vernachlässigung und Misshandlung hat der Schutz des Kindes immer Vorrang.” Letztlich entscheiden, ob eine Gefährdung vorliegt und ein Kind oder eine Jugendliche in Obhut genommen werden muss, kann allerdings nur ein Familiengericht. Im Belmer Fall hat sind aber offenbar vom Jugendamt keine Versuche unternommen worden, einen Richter zu befragen.

Vielleicht, weil das Problem ein zu heißes Eisen ist? Die Diskussion in Niedersachsen ist eingebettet in einen europaweiten Streit um den Umgang mit Kopftuch und Verschleierung. In Frankreich ist das Tragen der Burka verboten, im Sommer wurde dort heftig um ein Verbot der Badebekleidung Burkini gestritten. Norwegen will den Nikab aus Schulen und Universitäten verbannen, auch die Niederlande wollen Nikab und Burka verbieten. Die Bundesregierung plant ein Verschleierungsverbot für Beamte, die CDU in Niedersachsen will Kopftuch und Schleier in Gerichten verbieten lassen, auch die CSU will Verschleierungen untersagen.

Als Ablehnung interpretiert

Die islamische Theologin Silvia Horsch von der Universität Osnabrück sieht in dieser Debatte eine «Symbolpolitik»: Von den muslimischen Frauen trüge nur eine Minderheit ein Kopftuch, und davon sei es wiederum eine verschwindend kleine Minderheit, die einen Gesichtsschleier anlege. «Verbote werden breit diskutiert, weil es Ängste in der Bevölkerung vor einer Islamisierung gibt», vermutet Horsch. Problematisch sei, dass Dinge verboten werden sollen, die als Symbole des muslimischen Glaubens wahrgenommen werden. Das werde von den Betroffenen durchaus als Ablehnung des Islam interpretiert. Die Burka- und Nikab-Debatte könnte daher zu einer weiteren Radikalisierung beitragen.

Eine kleine Zahl vollverschleierter Frauen auf den Straßen sei für die Gesellschaft zu verkraften, sagt Horsch: «Man kann nicht alles verbieten lassen, was einem nicht gefällt – da müsste die Gesellschaft auch in der Lage sein, ein paar Unterschiede auszuhalten.»

Vollverschleierte Kinder auch?

Agentur für Bildungsjournalismus / mit Material der dpa

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