MÜNCHEN. Es war ein langer, oft quälender Prozess – doch nun besiegelt die CSU das Ende des achtjährigen Gymnasiums: Nach knapp 15 Jahren kehrt Bayern unter Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) zum G9 zurück – wie einige andere Bundesländer schon zuvor. Allerdings fragt der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV), wofür denn jetzt überhaupt das zusätzliche Jahr am Gymnasium genutzt werden soll. BLLV-Präsidentin Fleischmann sagt voraus, dass es durch überzogene Erwartungen Enttäuschungen geben werde.
Horst Seehofers Worte über die Zukunft des bayerischen Gymnasiums waren an Eindeutigkeit kaum zu überbieten. «Es wird kein G9 geben», sagte der bayerische Ministerpräsident zu Beginn der laufenden Legislaturperiode im Landtag. Das war im Dezember 2013, im politischen Geschäft also vor einer halben Ewigkeit. Nun haben sich die Zeiten geändert – und die Zeiten haben die CSU verändert: An diesem Mittwoch will die CSU-Fraktion nach einem langen, schleichenden, oft quälenden Prozess das Zurück zum neunjährigen Gymnasium beschließen.
Und Bayern ist ja damit nicht allein: Nachdem sich in der Vergangenheit fast alle Bundesländer dem internationalen G8-Standard angeschlossen hatten, gab es zuletzt in einigen Ländern eine teilweise oder vollständige Rückkehr zum G9. Niedersachsen ist wieder komplett beim G9 – leistungsstarke Schüler haben aber weiter die Möglichkeit, ein Jahr früher Abi zu machen. Hessen und Schleswig-Holstein haben Wahlfreiheit eingeführt. Nordrhein-Westfalen bietet beide Optionen: G8 an Gymnasien und G9 an weiteren Schulen. In Baden-Württemberg wird in 44 Schulen G9 erprobt. In den ostdeutschen Ländern wird das Abitur in der Regel nach zwölf Schuljahren abgelegt.
Der G8/G9-Streit: Deutschland driftet in der Bildung immer weiter auseinander
Die CSU unter Horst Seehofer macht mit der Rückkehr zu G9 eine Hau-Ruck-Entscheidung des früheren Ministerpräsidenten Edmund Stoiber rückgängig: Zum Schuljahr 2004/05 war das um ein Jahr verkürzte Gymnasium (G8) in Bayern an den Start gegangen – ein Schnellschuss. Anlass für die Reform war der damalige späte Berufseinstieg deutscher Akademiker, etwa wegen der Wehrpflicht und vergleichsweise langer Studienzeiten.
Doch die Reform war unausgegoren – mit der Folge, dass das Gymnasium über all die Jahre eine große Baustelle blieb. Im Herbst 2014 begann der langsame Abschied vom G8: Die CSU beschloss die Einführung einer «Mittelstufe plus» zum Schuljahr 2015/16 – wenn auch nur an 47 Pilot-Gymnasien. Doch dort haben Schüler seither die Möglichkeit, zwischen acht- und neunjährigen Zügen zu wählen. Und: Zwei Drittel entschieden sich für die neunjährige Variante. Was viele in der CSU-Fraktion lange nicht wahrhaben wollten: Damit war praktisch das Tor Richtung G9 aufgestoßen.
Nun soll es in Bayern nicht nur eine Gymnasialreform geben, sondern gleich ein ganzes Bildungspaket. Es gibt nicht nur 1000 neue Lehrer fürs Gymnasium, die dort im Endausbau des neuen G9 benötigt werden, sondern auch 800 Stellen für alle anderen Schularten, etwa für berufliche und Förderschulen. Seit dieses Paket auf dem Tisch liegt, ist CSU-intern der Weg zum G9 frei. Am neuen G9 in Bayern soll es – das war der CSU wichtig – eine sogenannte Überholspur für Schüler geben, die das Abitur auch weiterhin nach acht Jahren ablegen wollen. Diese sollen zwei Jahre lang Zusatzkurse besuchen und dann die elfte Klasse auslassen dürfen. Ansonsten wird es weniger Nachmittagsunterricht geben, aber über die Jahre etwas mehr Stunden als bisher. Und Informatik wird Pflichtfach.
Dass das Paket am Mittwoch beschlossen wird, daran gibt es keinerlei Zweifel mehr. Das Gesetzgebungsverfahren ist dann nur noch eine Formsache. Startdatum ist das Schuljahr 2018/19, für die Klassen fünf und sechs. Und dann hoffen Seehofer & Co. auf eines: Ruhe an der Schulfront. Es stehen ja Bundestags- und Landtagswahl vor der Tür.
Löhrmann stellt ihr G8/G9-Modell vor: «Die Schule muss sich am Kind orientieren – nicht umgekehrt»
An die Entscheidung der Staatsregierung, zum neunjährigen Gymnasium zurückzukehren, knüpft die Präsidentin des BLLV, Simone Fleischmann, konkrete Erwartungen: „Ich hoffe, dass jetzt die Chance endlich genutzt wird für eine grundlegende Reform des Gymnasiums. Entscheidend wird sein, welchen Stellenwert im neuen Gymnasium die Pädagogik haben wird. Wie wird gelernt, und wie werden Schüler/innen individuell gefördert?“
Nach den ersten Verlautbarungen stehe allerdings zu befürchten, dass nach wie vor zu viele Inhalte in zu vielen Fächern in zu kurzer Zeit zu schnell behandelt und zu häufig abgeprüft würden. „Der überholte Lern-und Leistungsbegriff für das Gymnasium muss endlich überwunden werden“, forderte Fleischmann. Weil die Erwartungen an das G9 vollkommen unterschiedlich seien – weniger Nachmittagsunterricht, entschleunigtes Lernen, bei gleichzeitig neuen Fächern und Inhalten – seien zudem Enttäuschungen programmiert. „Qualität und Niveau erreicht man nicht durch mehr Stoff, sondern nur mit Hilfe von vertieftem, verständnisorientiertem und anwendungsbezogenem Lernen.“
Modell der Modularisierung
Ein 9-jähriges Gymnasium müsse die unterschiedlichen Motive der Schülerinnen und Schüler für eine verlängerte Schulzeit berücksichtigen. „Während der eine mit der Stoffmenge und dem Lerntempo überfordert ist, will der andere mehr Freizeit und weniger Nachmittagsunterricht. Der Dritte kann mit der Struktur des G8 gut leben und will weiter nach 12 Jahren das Abitur machen.“ Genau hier habe der BLLV mit dem Modell der Modularisierung angesetzt und gezeigt, dass es möglich sei, unterschiedliche Motivlagen zu berücksichtigen und flexibel darauf zu reagieren. „Wir erwarten, dass der Gedanke eines flexibleren Angebots durch modulare Elemente in der Konzeption des 9-jährigen Gymnasiums aufgegriffen wird“, forderte die BLLV-Präsidentin. Ziel müsse sein, eine tatsächliche Individualisierung der Lernzeit zu ermöglichen.
Hinzu kommen Fragen der Lehrerversorgung: „Auch hier zeichnet sich jetzt schon eine kritische Entwicklung ab.“ Der Mehrbedarf an Planstellen für das Gymnasium werde erst dann wirksam, wenn der erste G9-Jahrgang in die 13. Klasse käme. Bis dahin werde sich im Gegenteil durch die niedrigere Wochenstundenzahl je Jahrgangsstufe der Lehrerbedarf sogar verringern. „Das bedeutet, dass sich die nächsten acht Jahre die sowieso schon desolate Anstellungssituation für Gymnasialreferendare weiter verschlechtern wird. Das immer wiederkehrende Problem des Schweinezyklus bleibt ungelöst.“ Agentur für Bildungsjournalismus / mit Material der dpa
