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Streit um den Mathe-Unterricht: Dem Brandbrief der 130 Professoren folgt Widerspruch – KMK-Chefin Eisenmann: “nur bedingt nachvollziehbar”

BERLIN. Folgt dem «PISA-Schock» von 2001 jetzt der «Mathe-Schock»? So weit ist es noch nicht nach dem Brandbrief von 130 Professoren und Lehrern über schwache Rechenkenntnisse deutscher Schüler. Doch die Debatte um den Mathematik-Unterricht ist pünktlich zum «Abi 2017» eröffnet.

Sind die Mathe-Kenntnisse von Abiturienten so schlecht, dass sie für ein Studium kaum mehr ausreichen? Foto:
Roger Gordon / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Es sind Debakel wie in Hamburg, die jetzt einen Expertenstreit über die Mathe-Kompetenzen deutscher Abiturienten und Studienanfänger ausgelöst haben. In der Hansestadt korrigierte die Schulbehörde im Januar alle Noten einer offenkundig viel zu schweren Klausur nachträglich nach oben. Von 3201 Oberstufenschülern hätte sonst gut die Hälfte eine «4 minus», «5» oder «6» kassiert.

Weil der Vorabitur-Notenschnitt in Mathematik bei 4,1 lag, zog Bildungssenator Ties Rabe die Reißleine. Dies sei beileibe nicht nur ein Hamburger Problem, versicherte der SPD-Mann sogleich: In Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern habe es in den vergangenen Jahren eine ähnliche Mathe-Notenkosmetik gegeben.

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Debakel perfekt: Mathe-Vorabi-Klausur in Hamburg (Probe fürs Bundes-Abi) fällt noch schlechter aus als erwartet

Die 130 Erstunterzeichner eines «offenen Briefs» an die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) und Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) erkennen nun aber «alarmierende Symptome für die Krise der Mathematikausbildung an den Schulen». Der Schulstoff in diesem Schlüsselfach sei «so weit ausgedünnt, dass das mathematische Vorwissen vieler Studienanfänger nicht mehr für ein WiMINT-Studium ausreicht».

«WiMINT» steht für Wirtschaft, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – diese oft beschworenen Zukunftsfächer gelten gewissermaßen als heilige Kühe der Bildungspolitik. Wenn 130 Experten – von Ulrich Abel (Technische Hochschule Mittelhessen) bis Peter M. Wirtz (Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg) – über die Mathe-Kenntnisse ihrer Erstsemester klagen und Defizite für «kaum mehr aufholbar» halten, ist ihnen breite Aufmerksamkeit sicher.

Um frustrierende «mathematische Alphabetisierungsprogramme» an den Unis zu vermeiden, solle das Kernfach mit mehr Tiefe unterrichtet werden, fordern die Brandbrief-Schreiber. Reformen seien zuletzt «ohne ausreichende Einbeziehung erfahrener Lehrkräfte der Schulen und Hochschulen durchgesetzt» worden.

Daher müssten «wichtige Grundlageninhalte wie Bruch- und Wurzelgleichungen (…) wieder in die Lehrpläne aufgenommen werden». Zudem seien Taschenrechner quasi Teufelszeug für gutes Rechnen, der Einsatz solcher Hilfsmittel gehöre eingeschränkt. Dem Schreiben angehängt ist eine «Zusammenstellung typischer Aufgaben aus dem Mittelstufenstoff, die von den Studienanfängern heutzutage als enorm schwierig empfunden werden».

Etwa diese: «Um wie viel Prozent ändert sich der Flächeninhalt eines rechtwinkligen Dreiecks, wenn man eine Kathete um 20% verkürzt und die andere um 20% verlängert?» Von 72 Kursteilnehmern hätten nur sechs die Aufgabe «vollständig richtig» gelöst, klagen die Gelehrten.

“Kontraproduktiv”

Keine Rede ohne Gegenrede: In einer ebenfalls offenen «Stellungnahme» nennen 50 Professoren und Dozenten – von Helmut Albrecht (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd) bis Lena Wessel (Pädagogische Hochschule Freiburg) – die Ursachenanalyse der Kollegen «erkennbar falsch». Mehr noch: Deren Forderungen für einen besseren Mathe-Unterricht seien «sogar kontraproduktiv und schädlich».

Denn die nach dem «PISA-Schock» von 2001 eingeführten, von den traditionellen Lehrplänen wegführenden Bildungsstandards zur «Kompetenzorientierung» hätten in Mathematik Gutes bewirkt. So zeige sich «eine erfreuliche Verbesserung der Leistung deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich, auch wenn dies noch nicht ausreichen kann». Zu «einseitigen und empirisch nicht haltbaren Schuldzuweisungen an den bestehenden Mathematikunterricht» bestehe also kein Anlass.

Tatsächlich war Deutschland in Schulvergleichstests wie TIMSS und PISA während der Nuller-Jahre deutlich besser geworden. Zuletzt zeigte die Leistungskurve aber in Mathematik wieder nach unten. So rutschten die Viertklässler 2016 bei TIMSS unter den EU-Durchschnitt ab. Laut «PISA 2015» verschlechterten sich auch die 15-Jährigen im Vergleich zu 2012, festigten aber ihren vorderen Mittelfeldplatz.

Auf die insgesamt entspannte Lage verweist auch KMK-Präsidentin Susanne Eisenmann. Auf Anfrage sagt die CDU-Bildungsministerin von Baden-Württemberg, der Brandbrief habe die für Schulbildung letztlich zuständigen Länder «überrascht». Die Stoßrichtung der 130 Fachleute irritiere, denn: «Ziel des Abiturs ist die Hochschulreife – und nicht das Niveau zum Ende eines Mathe-Studiums. Es ist eine Frage des Anspruchs.»

Eisenmann verweist auf die gründliche didaktische Feinarbeit an den Bildungstests, etwa beim gemeinsamen Länder-Abiturpool 2017. Die Aufgaben seien von Mathematik-Experten gemeinsam mit dem Berliner Forschungsinstitut IQB erarbeitet worden. «In diese erfahrenen Didaktiker haben wir großes Vertrauen.» Für sie sei daher «die hochpessimistische Einschätzung, die in dem Brandbrief mitschwingt, nur bedingt nachvollziehbar». Von Werner Herpell, dpa

Mathelehrer schlagen Alarm: Mathematikausbildung in der Krise – schuld sei die Kompetenzorientierung – Brandbrief an die KMK

 

Im Wortlaut

Aus dem Brandbrief der 130 Professoren:

„Im Rahmen der Kompetenzorientierung, die der ganzen Republik in Form von Bildungsstandards vorgeschrieben wird, wurde der Mathematik- Schulstoff so weit ausgedünnt, dass das mathematische Vorwissen von vielen Studienanfängern nicht mehr für ein WiMINT- Studium ausreicht. (…) Den Studienanfängern fehlen Mathematikkenntnisse aus dem Mittelstufenstoff, sogar schon Bruchrechnung(!), Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen, Elementargeometrie und Trigonometrie. Diese Defizite sind schon längst kaum mehr aufholbar – weder in Vorkursen noch in Brückenkursen. In der Studieneingangsphase finden inzwischen fast überall mathematische Alphabetisierungsprogramme statt; dies ist frustrierend für die Studenten, die mit guten Noten und hohen Erwartungen an die Hochschulen kommen. In der Praxis sind die Vorkenntnisse vieler Studienanfänger weit vom Mindestanforderungskatalog der Hochschulen Baden-Württembergs für ein Studium von WiMINT Fächern entfernt.

(…) Im Rahmen der Kompetenzorientierung wurden bewährte mathematische Ausdrucksweisen und abstrakte Aufgaben durch sperrige Textgebilde und konstruierte Modellierungsaufgaben ersetzt. Der Mathematikstoff wird nur noch oberflächlich vermittelt, eine tiefere inhaltliche Beschäftigung findet nicht mehr statt. Entsprechend sehen kompetenzorientierte Lehrbücher aus – wie ein Kaleidoskop oder ein Panorama, in dem mit jeder Doppelseite ein neues Thema angefangen wird. Man sieht viel Text und bunte Bilder, aber keinen roten Faden mehr.   Der Mathematikstoff wird nur häppchenweise „angeboten“ und nicht ausreichend vernetzt: Aushöhlung, Entfachlichung, Entkernung des Mathematikunterrichtes sind das Resultat.

(…)

Wir fordern Sie auf, jeweils aus Ihrem Einflussbereich heraus Sorge zu tragen, dass
1)  Deutschlands Schulen wieder zu einer an fachlichen Inhalten orientierten Mathematikausbildung zurückkehren können,

2)  die Verantwortung für die gründliche Übung und Wiederholung des genannten Mittelstufenstoffes wieder uneingeschränkt von den Schulen übernommen wird,

3)  wichtige Grundlageninhalte wie Bruch- und Wurzelgleichungen, Potenzen mit rationalen Exponenten, ausreichend Elementargeometrie und Trigonometrie wieder in die Lehrpläne aufgenommen werden,

4)  der Einsatz von Taschenrechnern und Computeralgebra-Systemen (CAS) die wichtige Phase des Einübens der elementaren und symbolischen Rechentechniken nicht beeinträchtigt (in Hessen ist z.B. ab Klasse 7 der Taschenrechner Pflicht, was die Routinegewinnung, etwa in der Bruchrechnung, empfindlich stört),

5)  symbolische, formale und technische Elemente der Mathematik und abstrakte Inhalte stärker gewichtet werden,

6)  die Abiturklausuren anstelle von Modellierungsaufgaben wieder Aufgaben mit inhaltlich-fachlicher Ausrichtung enthalten, die auch international üblich und anerkannt sind.“

Hier geht es zum kompletten Brandbrief der 130 Professoren.

 

… und die Gegenrede von 50 Mathematik-Dozenten im Wortlaut:

„Auch  wir  sehen  die  angesprochenen  Probleme  und unterstützen das  Anliegen einer besseren Mathematikausbildung an den Schulen, weisen die Ursachenanalyse in diesem Brief jedoch als erkennbar falsch zurück. Die daraus abgeleiteten Forderungen sind für das genannte Anliegen sogar kontraproduktiv und schädlich. (…)

Es gibt keinen Zweifel, dass Studienanfänger(innen) über substantielles mathematisches Basiswissen (wie z. B. auch in den im Brief genannten Bereichen Bruchrechnung, binomische Formeln, Termumformungen, Elementargeometrie oder Trigonometrie) verfügen müssen. Sie müssen aber dieses Wissen auch verständig anwenden und hiermit innermathematische Probleme sowie Probleme der realen Welt lösen können – das ist knapp gefasst die Grundidee der Kompetenzorientierung.

Die  benannten  Defizite  in  den  mathematischen Fähigkeiten von  Schülerinnen  und  Schülern  in Deutschland sind bereits seit den 1990er Jahren bekannt und auch durch internationale Studien wie TIMSS und PISA belegt. Sie waren der wesentliche Grund für die Einführung der Bildungsstandards, da die ausschließlich an Inhaltskatalogen orientierten traditionellen Lehrpläne nicht als ausreichend angesehen  wurden,  diese  Defizite  zu  beheben.  Die  2003/04 bzw.  2012  eingeführten  Bildungsstandards  sollen grundlegende Kenntnisse mathematischer Inhalte  und  den  kompetenten  Umgang  mit diesen  Inhalten verbindlich  festschreiben.  So  sollten  sie  im  Zusammenhang  mit  Maßnahmen  der Unterrichtsentwicklung und Fortbildung auch zur Behebung von fachlichen Defiziten von Studienanfänger(inne)n beitragen.

Bildungsstandards können  also  weder aufgrund  ihrer Zielsetzungen noch angesichts der Kürze der Zeit seit ihrer Einführung für die benannten Defizite verantwortlich gemacht werden.  Im  Gegenteil  zeigt  sich  in  den  letzten  Jahren  eine  erfreuliche  Verbesserung  der  Leistung deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich, auch wenn dies noch nicht ausreichen kann.

Statt einseitige und empirisch nicht haltbare Schuldzuweisungen an den bestehenden Mathematik-unterricht auszusprechen und damit die Arbeit der Lehrkräfte, die ja ebenfalls die Studierfähigkeit im Blick haben, in Zweifel zu ziehen, plädieren wir für einen konstruktiven und wissenschaftlich fundierten  Umgang  mit  einer  Situation,  die  nicht  monokausal  (etwa  durch  die Abschaffung  von  Taschenrechnern) zu bearbeiten ist.“

Hier geht es zum vollständigen Schreiben der 50 Hochschullehrer.

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