BERLIN. Den Schulen in Deutschland steht eine digitale Revolution ins Haus. Innerhalb der nächsten fünf Jahre soll jedem Schüler in Deutschland ein Internetzugang samt „digitaler Lernumgebung“ (also technischer Ausstattung) an seiner Schule zur Verfügung stehen, verspricht die Kultusministerkonferenz – und zwar unabhängig vom Alter der Schülerinnen und Schüler, von Schulform und von konkreten Fachinhalten. Zugleich sollen alle Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit digitalen Lernmitteln geschult und zu deren Einsatz verpflichtet werden. Gegen diesen Druck auf Schulen, den Unterricht technisch aufzurüsten, regt sich allerdings jetzt Widerstand. Ein Bündnis von namhaften Medienpädagogen und Neurowissenschaftlern will Schüler erst ab Klasse 8 am Bildschirm lernen lassen.

Der Initiative mit dem etwas sperrigen Namen „Bündnis für humane Bildung – aufwach(s)en mit digitalen Medien“ ist prominent besetzt. Ihr gehören unter anderem die Medienpädagogik-Professoren Paula Bleckmann (Alanus Hochschule in Alfter), Edwin Hübner (Freien Hochschule Stuttgart), Ralf Lankau (Hochschule Offenburg) und Gerald Lembke (Duale Hochschule Baden-Württemberg) – Autor des Bestsellers „Die Lüge der digitalen Bildung: Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“ – sowie die Neurowissenschaftler Prof. Manfred Spitzer („Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“) und Prof. Gertraud Teuchert-Noodt an. Sie alle „fröstelt bei diesen unrealistischen Vorstellungen“ der Kultusminister in Sachen IT laut einer Erklärung – und sie raten “zu mehr Gelassenheit”: Der Umgang mit digitalen Geräten im Unterricht lasse sich zunächst am besten mit analogen Unterrichtsmitteln lernen, mit fortschreitendem Alter in der Schule stufenweise mit dem dosierten Einsatz digitaler Endgeräte.
Gastkommentar: Erklären statt warnen! Wie wir Kinder auf die digitale Welt vorbereiten können
„Natürlich ist die Digitaltechnik ein Teil unserer Lebenswirklichkeit“, sagt Bündnissprecher Lankau. „Doch selbst wenn Kinder mit acht oder neun Jahren Verkehrsunterricht erhalten, dann bekommen sie danach noch keinen KFZ-Führerschein.“ Ähnlich verhalte es sich mit digitalen Geräten im Unterricht. Warum nicht erst die Grundlagen für Digitaltechnik mit analogen Mitteln aufbauen, um danach umso besser mit digitalen Mitteln umgehen zu können? Auch den verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol erlerne niemand mit exzessivem Konsum, sondern eher mit guten Präventionsprogrammen.
„Auf der Basis wissenschaftlicher Studien aus der Kognitionsforschung, der Entwicklungspsychologie und Pädagogik“ empfiehlt das Bündnis folgende Vorgehensweise:
- Kindertagesstätten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit digitalfrei. Kinder müssen erst in der realen Welt zu Hause und dort sicher sein und klassische Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) beherrschen, bevor digitale Techniken zum Einsatz kommen. Manuelle Gestaltungstechniken sind hier gefragt, etwa Basteln, Malen, Zeichnen und Musizieren, auch Theater und Tanz, Sport und Naturerlebnisse.
- Gleichzeitig muss jedoch bereits in der Grundschule das Mediennutzungsverhalten thematisiert werden, über konkrete Inhalte und mögliche Folgen der Mediennutzung gesprochen werden. Hier sind Präventionslehrerinnen und -lehrer gefragt, die über die Inhalte und Gefahren des Netzes aufklären. Dazu müssen nicht die Kinder ins Netz, die Zusammenarbeit mit zum Beispiel Jugendschutzbeauftragten der Polizei ist sinnvoller. „Es gibt kein Kindernetz. Die Erwachsenenwelt ist immer nur einen Klick entfernt“, meint Lankau.
- In der Unterstufe (Klasse 5 oder 6) lässt sich das Verständnis für Informationstechnik (IT) vermitteln. Dann haben Kinder bzw. Jugendliche die notwendige, persönliche Reife. Dafür braucht man weder Rechner noch Bildschirme. Projekte wie „Computer Sciences Unplugged“ (csunplugged.org; deutsch: einstieg-informatik.de) vermitteln Kindern ein fundiertes Verständnis für die Funktionsweise und Logik der Informationstechnik, ganz ohne Rechner und Software. Gelernt werden Grundlagen, Fragestellungen und Methoden der Informatik – als Denk-Werkzeug.
- In Klasse 6 oder 7 kann man „echten“ Informatikunterricht mit kostengünstigen und voll programmierbaren Kleinrechnern (zum Beispiel Arduino, Raspberry Pi) anbieten. Ein Klassensatz dieser scheckkartengroßen Rechner kostet ca. 1.000 Euro. Für Schulen gibt es gut dokumentierte und geeignete Projekte. Schon mit diesen Rechnern sind das Programmieren und der sichere Gang ins Netz möglich.
- Ab Klasse 8 können Schüler mit Desktop-Rechnern, Laptops und Open Source-Software Software erlernen und unter Anleitung eigene Medienprojekte umsetzen. Software-Schulung bedeutet dabei: die Prinzipien von Textverarbeitung, Desktop-Publishing oder z.B. Webdesign oder Videoschnitt verstehen.
- Am Ende der Mittel- oder zu Beginn der Oberstufe empfehlen sich Medienprojekte, bei denen Schüler Bilder oder Filme herstellen, eine Schülerzeitung gestalten oder Inhalte für Websites generieren. Sie arbeiten dabei allerdings mit Offline-Produktionsrechnern. Offline heißt: Die Rechner sind untereinander vernetzt, aber nicht ans Internet angeschlossen. (Nur so sei sichergestellt, dass keine Schülerdaten ausgelesen und ausgewertet werden, heißt es).
„Niemand weiß, wie unsere Arbeits- und Lebenswelt in fünf oder 15 Jahren aussehen wird“, sagt Lankau. „Schulen müssen sich und ihre Schüler also auf eine technisierte und digitalisierte Welt vorbereiten.“ Dabei sollte Schule nicht auf aktuelle Technik fokussieren, sondern auf Verständnis und das Verstehen von Strukturen und Prinzipien abzielen. Schule hat keine Konsumenten zum Ziel, die am jeweils aktuellen Gerät tippen, wischen – oder demnächst unter der VR-Brille und Kopfhörern mit ihrem persönlichen Avatar sprechen. „Schule muss Denk-Werkzeuge und generelle Handlungsoptionen vermitteln, die unabhängig von der jeweils aktuellen Technik funktionieren“, sagt Medienwissenschaftler Lankau. Agentur für Bildungsjournalismus
