BERLIN/ERFURT. Rund ein Drittel aller Schulanfänger hat Sprachprobleme, mit zum Teil dramatischen Folgen. Angesichts von Sprachtests und Förderprogrammen im Kita-Alter, die mittlerweile in allen Bundesländern etabliert sind, müssten derart hohe Zahlen eigentlich verwundern. Doch die Tests würden oft nur mangelhaft ausgeführt, und vielen Kinderärzten fehle das Problembewusstsein, kritisieren Logopäden. Auch der schulischen Sprachförderung stellen sich nach Ansicht von Lehrerverbänden noch hohe Hürden.
Gegen Schulprobleme aufgrund von Sprachdefiziten bei Kindern könnte nach Einschätzung von Lehrern und Logopäden deutlich mehr getan werden. «Wir beobachten seit vielen Jahren eine Zunahme dieses Problems», sagte etwa der Landesvorsitzende des Thüringer Lehrerverbands (TLV), Rolf Busch. Zu spät gestellte Diagnosen, tiefgreifender Personalmangel und Bürokratie seien große Hürden. Auch der Bundesverband für Logopädie (DBL) schätzt das Problem als groß ein. Aus den Schuleingangsuntersuchungen geht dem Verband zufolge hervor, dass zwischen 25 und 30 Prozent aller Schulanfänger «sprachlich auffällig» sind.
Eine Trendermittlung zeigt sich allerdings derzeit schwierig. Nicht zuletzt wirken sich die Reformen im Grundschul- und Kita-Bereich auch auf die Datenerhebung aus, so dass sich aussagekräftige Trends besonders im frühkindlichen Bereich nur eingeschränkt ermitteln lassen.
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Offiziellen Zahlen zufolge ist beispielsweise der Förderbedarf wegen Sprechproblemen bei Kindern im in Sachsen leicht rückläufig. Während laut Bildungsministerium im Schuljahr 2015/16 noch 1050 Schüler gefördert werden mussten, waren es im aktuellen Schuljahr rund 980. Aussagekräftig seien diese Zahlen jedoch wenig, warnte Busch. Seit Einführung der Inklusion wird in den ersten Schuljahren nicht mehr richtig diagnostiziert.» Rückläufige Zahlen seien deshalb wenig verwunderlich.
Spezielle diagnostische Verfahren zur Analyse des Sprachvermögens seien in dieser Zeit im frühkindlichen Breich tatsächlich nicht vorgesehen, heißt es dazu aus dem Schulministerium. Bereits der Begriff «Sprachdefizit» laufe dem aktuellen pädagogischen Ansatz zuwider. «Es geht im frühkindlichen Bereich nicht um die Feststellung von Defiziten, sondern um die Förderung der jeweiligen Stärken der Kinder», sagte Sprecher Frank Schenker.
Ähnlich komplex ist die Datenlage in Berlin: An der «Qualifizierten Statuserhebung», für die jährlich in einem längeren Zeitraum die Sprachkenntnisse von Kita-Kindern untersucht werden nahmen 2016 knapp 24.000 Kinder teil. 3704 von ihnen hatten einen Sprachförderbedarf, rund 16 Prozent. 2015 waren es knapp 17 Prozent. Allerdings waren die untersuchten Kinder in jenem Jahr jünger, weil noch das geringere Einschulungsalter galt, bestätigt auch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.
Deutlich zeige sich aber, dass Kinder, die keine Kita besuchen deutlich häufiger Sprachdefizite aufweisen. Der Berliner Test «Deutsch Plus 4» für Vierjährige, die nicht in einen Kindergarten gehen ergab Sprachförderbedarf bei 84 Prozent der 692 dieses Jahr getesteten Kinder. Ihr Anteil wächst seit drei Jahren.
Die Ursachen für Sprachprobleme sind vielfältig. Gründe können psychischer, physischer und sozialer Natur sein, erklärt Frauke Kern vom DBL-Bundesvorstand. Hörprobleme, aber auch verschiedene Krankheiten wie Meningitis oder Behinderungen wie das Down-Syndrom könnten die Sprachentwicklung kleiner Kinder stören. Einen der Hauptgründe für die zunehmenden Sprachdefizite sehen die Experten in der Mediennutzung. «In den Familien wird immer weniger gesprochen, das gemeinsame Essen wird seltener», so TVL-Vorsitzender Busch. Bemerkbar mache sich das unter anderem in zunehmenden Grammatikproblemen.
Die Folgen seien zum Teil drastisch: Kern spricht von einem Rückzug der Kinder, von Lernblockaden und kindlicher Depression. Schwierig sei es, Sprachdefizite festzustellen, wenn Kinder und Jugendliche schon kompensieren, damit ihre Sprachschwäche nicht auffällt. In diesen Fällen könne Schweigen, auffälliges Gestikulieren und letztlich sogar schlechte Noten und angebliche Unkonzentriertheit im Schulunterricht ein Zeichen sein, dass ein Sprachdefizit vorliegt.
Im Bereich der Therapie liegt nach Meinung der Verbandsvertreter noch Einiges im Argen. So betont etwa die Thüringer Landesverbandsvorsitzende des DBL, Nicole Beyer, wie wichtig eine frühestmögliche Diagnose sei. «Je früher wir mit einer Sprachtherapie beginnen können, umso besser sind die Fortschritte». Sie verwies auf den «Verordnungsgipfel», der alljährlich im Zuge der Schuleingangsuntersuchungen entsteht: Während im vergangenen Jahr bei den bis Fünfjährigen rund 4400-mal eine logopädische Therapie verordnet wurde, waren es bei den Fünf- bis Zehnjährigen etwa 18 300 Rezepte etwa wegen Lispelns oder Stotterns.
«Wir beobachten, dass viele Ärzte bei Kleinkindern sehr zurückhaltend mit Verordnungen für eine Sprachförderung sind», sagte Beyer. Dabei sei es wichtig, Defiziten so früh wie möglich zu begegnen. Der DBL will Ärzte deshalb mit speziellen Informationskampagnen sensibilisieren.
Frauke Kern vom DBL-Bundesverband findet deutliche Worte: Das Problem seien Kinderärzte, die das Problem verniedlichen mit «Das wächst sich aus» und zu selten logopädische Förderung verordnen. Die Tests würden oft «mangelhaft» ausgeführt, die Ärzte hätten zu wenig Zeit für eine belastbare Diagnose. «Wir sind der Meinung, dass Eltern mit ihren Kindern direkt zum Logopäden kommen sollten und nicht erst zum Arzt, sagte Kern. Das sei aber nicht durchsetzbar: «Die Ärzte wollen die Bestimmer bleiben.»
Wenn Sprachdefizite beim Schuleintritt behoben seien, erleichtere das den Schulalltag für die Kinder ungemein – auch in den Naturwissenschaften, sagte Lehrervertreter Busch. «Sprache ist der Schlüssel und die Grundlage für alles. Je früher man auf Probleme eingeht, umso weniger können sich diese verfestigen.» Der Schritt hin zu mehr gemeinsam Lernen von Schülern mit und ohne Handicap sei zwar grundsätzlich richtig, in der aktuellen Form sei es aber eher ein Sparmodell, weil teure Förderschulen wegfielen. «Wenn wir die vielen an uns gestellten Aufgaben bewältigen sollen, brauchen wir dringend mehr Personal.» Der Zugang zu Hilfsangeboten müsse einfacher werden, die Kommunikation zwischen Schule und Kindergärten dürfe nicht den Datenschutzvorschriften zum Opfer fallen. (News4teachers mit Material der dpa)
Steinmeier warnt vor Inklusion als Sparmodell – besonders im Schulbereich