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„Migranten werden als Problemfälle mit Förderbedarf gesehen“ – Studie kritisiert Lehrerausbildung

ESSEN. Wie kann es gelingen, die Benachteiligung von Kindern aus Einwandererfamilien im deutschen Schulsystem zu verringern? Eine aktuelle Studie im Auftrag der Stiftung Mercator hat sich die Lehrerausbildung vorgenommen – und kommt zu dem Schluss, dass schon dabei viel im Argen liegt.

“Migration wird als Problem dargestellt“, so kritisieren die Autoren. Foto: UK Department for International Development / flickr (CC BY 2.0)

Migrantenkinder haben es immer noch vergleichsweise schwer im deutschen Schulsystem. Obwohl der Befund bereits seit der ersten, 2001 veröffentlichten Pisa-Studie vorliegt, hat sich daran wenig geändert – nach zwischenzeitlichen Verbesserungen kam im März der „Chancenspiegel“, eine von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebene Studie, zum Ergebnis, dass der Anteil der Schulabbrecher unter ausländischen Jugendlichen von ohnehin schon hohen 12,5 auf 12,9 Prozent gestiegen sei. Die Wahrscheinlichkeit, später in die Arbeitslosigkeit zu fallen, sei bei Schülern ohne deutschen Pass drei- bis viermal höher als bei Schülern mit, so rechnete Stiftungsvorstandsmitglied Jörg Dräger vor. Der Dortmunder Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos mutmaßte in der „Tageszeitung“, dass die Scheiternsquote bei einer Erfassung sämtlicher Kinder mit Migrationshintergrund wohl noch höher ausfallen dürfte; allerdings liegen darüber keine aktuellen Daten der Bundesländer vor.

“Nur unzureichend qualifiziert”

Bekannt ist jedoch, das betonen nun die Autoren einer jetzt veröffentlichten Studie zur Lehrerbildung im Auftrag der Stiftung Mercator, dass auch Lehrer eine Rolle „bei der (Re-Produktion von Stereotypen und deren negativem Einfluss auf die schulischen Leistungen von Schülern spielen“. Das belegten zahlreiche Untersuchungen. „Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Inwiefern schafft die Lehrerbildung Voraussetzungen dafür, dass Lehren und Lernen in der Schule der Migrationsgesellschaft gelingt? Ein Indikator dafür ist unter anderem, inwiefern es zum Selbstverständnis der Schulen und der Lehrer gehört, sensibel für Differenzen zu sein sowie Diskriminierung zu reflektieren, ihr entgegenzutreten und diese Haltung auch den Schülern zu vermitteln“, so heißt es in der Untersuchung. Das Ergebnis vorweg: „Die heute ausgebildete Generation von (angehenden) Lehrern wird nur unzureichend im  Hinblick auf Differenzsensibilität und Diskriminierungskritik in der Migrationsgesellschaft  qualifiziert.“

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Immer mehr Schüler mit Migrationshintergrund – Schulen sind „Integrationsorte Nummer eins“

Die Studienautoren, darunter Professorin Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) (Prof. Dr.) und Professor Paul Mecheril (Universität Oldenburg), formulieren auf der Basis ihrer Erkenntnisse folgende Thesen:

„Migration wird als Problem dargestellt.“ Primär werde Einwanderung als Herausforderung, Krise oder Störung für die Bildungsinstitutionen thematisiert und häufig auf eine Art technisches Problem für Lehrer im Rahmen von Unterrichtssituationen reduziert.

„Vielfalt wird als personalisierte Eigenschaft verstanden.“ Das Thema Heterogenität und Pluralität werde in Schule und im Klassenraum einer bestimmten Gruppe zugeschrieben, den sogenannten Schülern „mit Migrationshintergrund“ eben. Dadurch würden diese zur Ursache eines Problems, gar zum Problem selbst.

„Migranten werden als Problemfälle mit Förderbedarf gesehen.“ Das Thema Einwanderung werde im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung häufig darauf reduziert, die als „Mängelwesen“ wahrgenommenen Migranten fördern zu müssen und deren Defizite zu kompensieren. Eine solche problemfixierte Perspektive auf Migranten festige bei (angehenden) Lehrern „dichotome Weltbilder von ‚wir‘ und ‚die anderen‘ und verhindere die Entwicklung einer pädagogischen Sicht auf die konkreten Lernbedingungen der einzelnen Schüler.

„Das Verständnis von pädagogischem Können ist zu mechanisch.“ Solange Migration als Problem gelte, mit dem „umgegangen“ werden müsse, würden Fragen der technischen Handhabbarkeit und Bearbeitbarkeit der Schüler, die als „mit Migrationshintergrund“ gelten, gestellt – etwa durch pädagogische Interventionen im Rahmen von Förderplänen. Häufig werde nicht thematisiert, dass die (angehenden) Lehrer (selbst-)reflexiv mit ihren Einstellungen und Haltungen zu Migration umgehen lernen müssten. Auch bleibe vielfach offen, welche Rolle sie selbst bei der Herstellung von Ungleichheit in der Schule spielen könnten – zum Beispiel durch die bewusste und unbewusste (Re-)Produktion von Stereotypen.

„Unterricht und Gesellschaft sind voneinander losgelöst.“ Die untersuchten pädagogischen Texte fokussierten häufig auf den Klassenraum und die durch Schüler eingebrachten Unterschiede. Historische und gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse wie zum Beispiel globale Ungleichheiten tauchten nur als Randthemen auf..

„Lehrer sind ausschließlich weiße Mehrheitsangehörige.“ Die Kollegien würden durchgängig als Gruppen von Menschen „ohne Migrationshintergrund“ verstanden, die den Umgang mit den „anderen“ zu lernen hätten. Von einer von Bildungspolitikern  geforderten Vielfalt im Lehrerzimmer könne keine Rede sein.

„Das Gymnasium ist nahezu ‚migrationsgesellschaftsfrei‘.“  Mit steigender Schulform sinke die Relevanz des Themas Migration in der Ausbildung von Lehrern. Dies bestärke die falsche Vorstellung, dass migrationsgesellschaftliche Fragen für Schüler weiterführender Schulformen irrelevant seien.

Die Autoren empfehlen, Migration in der Lehrerausbildung als Normalfall zu thematisieren – und die Idee eines „Spezialwissens“ über und die spezielle „Behandlung“ von „Schülern mit Migrationshintergrund“ zu überwinden. Lehramts-Studierende sollten sich mit aktuellen Themen um Migration und Bildung auseinandersetzen, um die gesellschaftlichen Hintergründe dessen, was in der Klasse passiert, professionell deuten zu können.

Vor allem aber sollten angehende Lehrkräfte „differenzfreundliches und diskriminierungskritisches“ Know-how erwerben. „Eine wesentliche Aufgabe pädagogischen Könnens unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen ist, dass Lehrer für die Vielfalt an unterschiedlichen Sichtweisen und Bildungsbiografien sensibel sind“, so schreiben die Autoren. „Gleichzeitig müssen sie stereotype und stigmatisierende Fest- und Zuschreibungen erkennen und selbst vermeiden. Die Lehrerbildung sollte im Studium, im Referendariat und im Fortbildungsbereich eine solche Perspektive als Schlüsselqualifikation verankern.“ Dass das ein dickes Brett ist, was es dabei zu bohren gilt, verhehlen die Bildungsforscher nicht: „Dazu ist es notwendig, die Curricula der Lehrerbildung einer grundlegenden Revision zu unterziehen.“ bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Hier geht es zu einer Kurzfassung der Studie.

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