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Meidinger im N4t-Interview zum Lehrermangel: Seiteneinstieg sogar schon ohne Hochschulstudium – “Ich bin entsetzt”

BERLIN. Heinz-Peter Meidinger ist Bundesvorsitzender des Philologenverbands, seit kurzem auch Präsident des Deutschen Lehrerverbands – und Schulleiter, genauer: Direktor eines bayerischen Gymnasiums. Wir sprachen mit ihm darüber, wie er die Maßnahmen der Länder gegen den Lehrermangel beurteilt.

Zeigt sich besorgt angesichts des Lehrermangels: Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Philologenverband

News4teachers: Die Gymnasien sind vom Lehrermangel offenbar noch nicht so stark betroffen – spürt Ihr Kollegium ihn trotzdem?

Meidinger: Im Gegensatz zur dramatischen Situation vor rund sechs bis zehn Jahren sind derzeit die Gymnasien in den meisten alten Bundesländern vom Lehrermangel kaum betroffen, wenn man mal von bestimmten Fächern (zum Beispiel Physik) absieht. Trotzdem habe ich als Schulleiter oft Probleme bei der Suche nach Aushilfskräften, konkret bei der Vergabe befristeter Arbeitsverträge, wenn Stammpersonal kurzfristig ausfällt. Dies liegt natürlich auch an nicht attraktiven Rahmenbedingungen (geringe Dauer, oft nur Teilzeit, keine Zukunftsperspektive). Wenn wir keine Vertretungslehrkraft finden, müssen wir zu Notmaßnahmen greifen wie Mehrarbeit, Stundenkürzung, fachfremder Unterricht. Zu Beginn dieses Schuljahres schaut es aber an meiner Schule noch gut aus.

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News4teachers: Warum sind es aus Ihrer Sicht vor allem die Grundschulen, die kaum noch Berufsnachwuchs finden?

Meidinger: Das hat natürlich ganz handfeste Ursachen. Zum einen wurden in den langfristigen Lehrerbedarfsprognosen die Auswirkungen des doch in den letzten Jahren recht deutlichen Geburtenzuwachses unterschätzt. Zum anderen hatte vor einigen Jahren niemand die vielen Flüchtlingskinder der Jahre 2015 und 2016 auf dem Bildschirm, die jetzt ins deutsche Bildungswesen integriert werden müssen und vor allem die Grundschulen und die beruflichen Schulen vor Herausforderungen stellen. Es gibt übrigens wegen der Wirtschaftsbooms in Deutschland auch einen verstärkten Zuzug von Arbeitskräften aus dem EU-Ausland, die altersbedingt vor allem Kinder im Grundschulalter haben. Das spüren wir vor allem in Städten wie Stuttgart, Frankfurt und München.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Schweinezyklus, also die regelmäßige Abfolge von Lehrermangel und Lehrerüberangebot auch die Grundschullehrkräfte umfasst. Vor wenigen Jahren hatten wir in einer Reihe von Bundesländern ein Überangebot von Grundschullehrkräften und einen Mangel an Gymnasiallehrkräften. Jetzt ist es umgekehrt. In wenigen Jahren, wenn in den bevölkerungsreichen Bundesländern NRW und Bayern der Mehrbedarf für das G9 wirksam wird, könnte sich das wieder drehen, sofern die Länder nicht rechtzeitig auf diese Entwicklungen reagieren.

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News4teachers: In immer mehr Bundesländern werden Gymnasiallehrer per Abordnung in die Grundschulen geschickt – wem ist damit geholfen?

Meidinger: Eine zwangsweise Abordnung ist – egal ob an eine Schule der gleichen Schulart oder eine andere Schulart – immer eine besondere Härte für die betroffenen Lehrkräfte, die man nach Möglichkeit vermeiden sollte. Außerdem sind zwangsweise Abordnungen auch immer ein Zeichen dafür, dass die ministerielle Bedarfsplanung versagt hat, weil so eine Lücke entsteht nicht von heute auf morgen. In Niedersachsen kommt dazu, dass die 1000 abgeordneten Kolleginnen und Kollegen das in der Regel erst wenige Tage vor Schuljahresbeginn erfahren haben. Das ist natürlich ein Unding! Trotzdem, und das sage ich gerade auch als Gymnasiallehrer, würde ich es nicht ausschließen, dass Lehrkräfte einer Schulart in Notsituationen vorübergehend an anderen Schularten aushelfen. Dabei müssen aber die Bedingungen stimmen und ich würde auf Freiwilligkeit setzen. Für besser als Abordnungen halte ich die Vorgehensweise des Bundeslandes Bayern, das arbeitslosen Realschul- und Gymnasiallehrkräften dauerhafte Einstellungsangebote für Grund- und Mittelschulen gemacht hat bei gleichzeitiger pädagogischer Nachqualifizierung. Allerdings hapert es da an den finanziellen Rahmenbedingungen während der zweijährigen Einstiegsphase.

News4teachers: … lassen sich denn die arbeitslosen Gymnasiallehrer, die für die Grundschulen gewonnen werden sollen – mal eben so umschulen?

Meidinger: Gymnasiallehrkräfte bringen ja heute nachgewiesenermaßen auch  breitgefächerte pädagogische Qualifikationen aus Studium und Referendariat mit. Doch natürlich ist die Pädagogik, die im Umgang mit Sechsjährigen gefordert ist, eine andere als bei Kindern beispielsweise in der Pubertät. Auch erfordert es spezifische Qualifikationen, etwa Erst- und Zweitklässlern das Schreiben und Lesen beizubringen, und zwar so, dass die unterschiedlichen Vorkenntnisse ausgeglichen werden. Deshalb begrüße ich es auch, dass hier Nachqualifikationen stattfinden. Überhaupt bin ich ein Gegner der Forderung nach einem Einheits- oder Stufenlehrer, der an allen allgemeinbildenden Schularten flexibel eingesetzt werden kann. Das wäre zwar für die „Fehl“-Planer in den Ministerien eine Entlastung, der Qualitätsverlust der bewährten, schulartspezifischen Lehrerbildung wäre aber enorm.

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News4teachers: Neben Lehrkräften von anderen Schulformen kommen auch immer mehr Menschen in den Schuldienst, die überhaupt keine pädagogische Qualifikation mitbringen. Was bedeutet das für ein Kollegium?

Meidinger: Wenn ich jetzt höre, dass Personen in Berlin an Grundschulen unterrichten, die noch nie eine Hochschule von innen gesehen haben, dann bin ich entsetzt. Wir haben in diesem Schuljahr über 3000 neueingestellte Lehrkräfte an deutschen Schulen, die keine pädagogische, manchmal auch keine entsprechende fachliche Ausbildung mitbringen, – die meisten davon in Berlin, Sachsen und NRW. Das ist ein Offenbarungseid! Natürlich hat es immer schon – allerdings in  beschränktem Umfang – Quer- und Seiteneinsteiger an Schulen gegeben. An beruflichen Schulen ist dies gang und gäbe. Ich sehe auch kein Problem, einen Elektrotechnikmeister durch ein aufgesetztes Pädagogikstudium für das berufliche Schulwesen zu gewinnen. Etwas ganz anderes ist das, was derzeit in Berlin passiert. Über 40 Prozent Neulehrer ohne jede pädagogische Qualifikation, ja zum großen Teil ohne wirklichen Versuch einer ausreichenden Nachqualifizierung! Das wird sich massiv negativ auf den Lernerfolg und damit die Bildungs- und Zukunftschancen der Berliner Schüler auswirken.

News4teachers: Sie haben einen „Masterplan Lehrerbedarf“ der Länder gefordert. Was soll der bringen?

Meidinger: Ich bin der festen Überzeugung, dass die große Aufgabe „Bedarfsgerechte Gewinnung von Lehrkräften“ nicht von jedem einzelnen Bundesland separat bewältigt und gelöst werden kann. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit und mehr Transparenz sowie bundesweite, aktualisierte und verlässliche Prognosen, um eine langfristige Planung zu ermöglichen. Um ein Lehramtsstudium und das Referendariat erfolgreich abzuschließen, dauert es bis zu 7 oder 8 Jahren. Wenn jetzt klar ist, das 2025 bis 2030 eine Million Schüler mehr an deutschen Schulen sein werden und wir dafür über 40 000 Lehrkräfte mehr brauchen, dann müssen die Weichen für eine erfolgreiche Bewältigung dieser Herausforderung jetzt gestellt werden. Ich kann bei einem Überangebot an Lehrkräften diese nicht ins Gefrierfach legen und bei Lehrermangel einige Jahre später wieder herausholen.

Deshalb haben wir im Deutschen Lehrerverband zwei Vorschläge entwickelt:

1.            Wir fordern in Zeiten eines Lehrerüberangebots wie beispielsweise jetzt an den Gymnasien und Realschulen in einigen alten Bundesländern, dass der Staat über Bedarf auf sogenannte kw-Stellen (künftig wegfallend) einstellt und diese „Überkapazitäten“ für pädagogische Verbesserungen nutzt. In Zeiten des Lehrermangels werden diese Stellen wieder abgebaut, womit natürlich die Lehrerverbände einverstanden sein müssten. Dadurch ist der Staat in der Lage, sich in Zeiten des Überangebots die besten Junglehrer zu sichern und gleichzeitig vermeidet er, in Mangelzeiten massiv auf nicht qualifizierte Quereinsteiger zurückgreifen zu müssen.

2.            Wir fordern ein bundesweites Lehrerportal bzw. eine Lehrerjobbörse, auf der transparent von allen Ministerien und Schulträgern offene Stellen eingestellt werden, wo sich aber auch jeder Bewerber eintragen kann. Leider wird dieses Lehrerportal vor allem von den Bundesländern verhindert, die ihren Lehrkräften besonders schlechte Bedingungen bieten (schlechte Bezahlung, keine Verbeamtung, keine Aufstiegschancen). Die haben Angst, zu Wettbewerbsverlierern auf dem Lehrerarbeitsmarkt zu werden.

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News4teachers: Wenn Sie die Dramatik der Situation auf einer Skala von eins bis zehn einschätzen – wo liegen wir da?

Meidinger: Das kann man generell schwer sagen, weil sich die Situation je nach Schulart, Fächerverbindung und Bundesland sehr unterscheidet. Außerdem würde ich mich als Lehrer eher an die Notenskala halten, weil ich mich da sicherer fühle. Wenn ich die schlechteste Bewertung vergeben müsste, dann würde ich sie nach Berlin vergeben, also eine glatte Sechs. Bundesweit würde ich zur Note 4 minus tendieren, also gerade noch ausreichend mit dem Risiko, bei weiterem Nichtstun demnächst sitzenzubleiben.

News4teachers: Wenn ein Schulleiter jetzt feststellt, dass an seiner Schule immer mehr Lehrerstellen nicht besetzt werden können – was kann er tun, was raten Sie ihm?

Meidinger: Grundsätzlich kann eine Schulleitung wenig tun, weil man ja keinen Einfluss auf die Bezahlung oder die generellen Rahmenbedingungen hat. Ich selbst versuche, bei absehbaren Ausfällen möglichst schnell zu reagieren. Natürlich sollte man immer den persönlichen Kontakt suchen, einerseits um sich von der Qualifikation zu überzeugen, aber auch um mit den Stärken der eigenen Schule zu werben. Gute Erfahrungen habe ich damit gemacht, ehemalige Schüler, die sich gerade im Lehramtsstudium befinden, für einige Unterrichtsstunden zu gewinnen. Die schätzen es oft, wenn sie zusätzliche Praxiserfahrungen sammeln können. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

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