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Grundsatzurteil macht deutlich: Wie ein Förderplan bloß nicht mehr aussehen sollte – ein Praxisbeispiel

OLDENBURG. Ein Förderplan müsse Aufschluss darüber geben, auf welchem Leistungsstand der Schüler tatsächlich sei und zwar für jedes der Fächer, die für das aktuelle Schuljahr anstehen, befand das Verwaltungsgericht Hamburg und gab damit den Eltern eines Schülers mit Asperger-Syndrom recht. Die hatten gegen die unzureichende Förderung ihres Sohnes geklagt. Und für das Gericht belegte schon der als mangelhaft beurteilte Förderplan, dass die Schule ihren Pflichten nicht nachkommt – ein Grundsatzurteil.

Das Maß muss stimmen – sonst hat ein Förderplan keinen Wert. Foto: Shutterstock

Spätestens seit diesem Urteil, ergangen im Oktober, ist klar, welche juristische Bedeutung Förderplänen zukommen kann. Und: Längst nicht jedem Lehrer ist das bewusst. Aus Anlass des Urteils veröffentlichen wir hier einen Beitrag von Dr. Ines Oldenburg und Julia Wulf von Institut für Pädagogik der Universität Oldenburg, der anschaulich macht, wo Probleme lauern können. Der Text erschien zunächst in der Zeitschrift “Grundschule”.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Der Beitrag ist der Ausgabe 9 / 2016 der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Förderpläne in der Praxis: Wir nehmen Maß!” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Man kann ihn recht sprode erklären, wie es der niedersächsische Bildungsserver macht: “Der Förderplan beinhaltet eine Beschreibung von gezielten Fördermaßnahmen, die eine Schülerin/ein Schüler benötigt, um bestimmte Lernziele zu erreichen.” Aha. Klingt nach viel Bürokratie – und wenig pädagogischem Ertrag. Stimmt aber nicht. Förderplane sind vielmehr “Texte gegen das Vergessen”, wie es die Dortmunder Pädagogin Dr. Katrin Hohmann erklärt – Beschreibungen nämlich des Ist-Zustands und von konkreten Lernzielen fur einzelne Schüler. Wer mit dem Instrument vertraut ist, mag es als unverzichtbare Grundlage seiner pädagogischen Arbeit nicht mehr missen. Die Autoren des Heftes erklären, wie’s geht.

 

Maßnehmen – aber bitte richtig!

Anlass für diesen Beitrag ist die Beobachtung, dass in der Praxis Vordrucke von „Förderplänen“ kursieren, die ihren Namen kaum verdienen – und womöglich mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Dabei geht’s auch anders. Überlegungen zum sinnstiftenden, aber pragmatischen Führen von Förderplänen.

Die Eltern von Lea (Name geändert) werden von der Klassenlehrerin nur wenige Wochen nach den Sommerferien zum Gespräch in die Schule gebeten. Anlass: Die Zweitklässlerin kann sich nach Aussagen der Lehrerin nicht lange genug konzentrieren, um am Unterricht erfolgreich teilzunehmen. Lea verlässt den Platz; sie kann sich weniger als 10 Minuten auf eine Sache konzentrieren; sie versucht, ihre Mitschüler in Gespräche zu verwickeln; sie geht häufig zur Toilette und hat ihre Arbeitsmaterialien meistens unstrukturiert auf und unter dem Tisch liegen – dieses Chaos überträgt sich dann auch auf ihre Sitznachbarn. Sie ruft in die Klasse hinein und steht oft auf, läuft zu ihrer Lehrerin, um Fragen zu stellen. Sie ist leicht ablenkbar und außerordentlich „reizoffen“, weiß ihre Lehrerin auch noch zu berichten.

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Die einbestellten Eltern sollen auf dem heutigen Gesprächstermin Leas „individuellen Förderplan“ kennenlernen und unterstützen – so die Ankündigung der Lehrerin. Den Eltern sind Leas Konzentrationsschwierigkeiten nicht unbekannt. Schließlich hat Lea schon im vergangenen ersten Schuljahr ein solches Verhalten gezeigt. Die Eltern kommen erwartungsvoll zum Gespräch – sie wollen gern mit der Lehrerin zusammenarbeiten und erwarten sich Hilfen.

Die Lehrerin präsentiert den hier abgebildeten „individuellen Förderplan“.

Ein solcher „i. F.“ ist so oder ähnlich vielen Grundschulen vertraut. Was kann dieser Plan leisten? Wo gibt es Verbesserungspotenzial?

·         Auf den ersten Blick wird nicht deutlich, in welchen Bereichen Lea gefördert werden soll. Es ist ebenfalls nicht deutlich, wer für Leas Förderung in welchem Gebiet, in welchem Fach zuständig ist. Wenn hier Leas Arbeitsverhalten im Fokus stünde, dann wäre dies ja ein Auftrag an alle Lehrerinnen und Lehrer, die Lea unterrichten.

·         Ein kooperierendes Vorgehen, wie es das Förderplanmodell „KEFF“ (Kooperative Erstellung und Fortschreibung individueller Förderplanung) exemplarisch beschreibt, wäre hier angezeigt: Fachlehrer und Klassenlehrer setzen sich zusammen, und, wenn vorhanden; der Sonderpädagoge ebenfalls.

·         Ein Förderplan macht nur Sinn, wenn alle Beteiligten zusammen Förderschwerpunkte setzen und Ziele vereinbaren. Sonst besteht die Gefahr einzelner, subjektiver Sichtweisen auf das Kind, die einer möglichen Problemlage nicht gerecht werden. Gerade im Bereich der Konzentrationsschwierigkeiten (sozial- emotionaler Bereich, Arbeitsverhalten) ist es immens wichtig, dass auch Fachlehrer, Vertretungslehrer, also alle Lehrkräfte, die das Kind unterrichten, wissen müssen, welche Vereinbarungen für das Kind und mit dem Kind getroffen sind – kleinste Inkonsequenzen können die besten Ziele zu Nichte machen!

·         Die Rubriken „Besondere Diagnosen“, „Außerschulische Therapien“ und „Kooperationen…“ sind hier logischerweise nicht ausgefüllt, da Leas Problemlagen nicht in den psychopathologischen Bereich oder einer explizit sonderpädagogischen Förderung einzuordnen sind. Allerdings wird (siehe oben) der Förderschwerpunkt, an dem mit Lea eigentlich gearbeitet werden soll, zu Beginn nicht deutlich!

 

·         Der Förderplan findet sich in den Handakten der Kinder – zum Beispiel der Fachlehrer, der diese Pläne eventuell in die Hand nimmt, muss erst suchen, welchen Förderschwerpunkt das Kind eigentlich hat. Unerlässlich ist eine klare Formulierung, welchen Bereich der Plan in den Blick nimmt (zum Beispiel Arbeitsverhalten? Sozialverhalten? Wahrnehmung? Motorik? Fachspezifische Anforderungen in Mathematik? … in Deutsch?)

·         Es werden die Gesprächsinhalte nicht deutlich: Worüber wurde gesprochen? Wurden damals Ziele vereinbart? Wenn ja, welche? Was wurde erörtert? So hat die Rubrik „Kooperation Schule – Erziehungsberechtigte“ keine Aussagekraft.

·         Rubrik „Beschreibung / Beobachtung“: Es wird nicht deutlich, ob hier der aktuelle Ist-Zustand abgebildet ist: Zeigt sich hier ein Verhalten, welches schon aus dem letzten Schuljahr bekannt ist? Es müsste auch differenzierter beschrieben werden, bei welchen Aufgaben Lea unkonzentriert ist – ist das immer so? Ist das nur zum Ende des Schultages? Bei welchen Aufgabenformaten? In allen Fächern, bei allen Lehrkräften? Wichtig ist, damit eine aussagekräftige Beschreibung entsteht, differenziert, auf das Ziel hin ausgerichtet, genau zu beschreiben, welches Verhalten beobachtbar ist. Es wäre auch zu überlegen, ob ausformuliert wird, was das Kind hinsichtlich des Förderschwerpunkts schon kann – so wären auch erreichbare Ziele besser zu formulieren. Vielleicht Kann Lea ja auch schon zehn Minuten selbstständig arbeiten, wenn zum Beispiel der Platz reizarm aufgeräumt ist; vielleicht kann Lea ja auch schon zehn Minuten am Stück im Arbeitsheft „Plus und Minus“ rechnen, bei Aufgaben aus dem Bereich „Geometrie“ scheitert sie jedoch regelmäßig nach fünf Minuten ….?

·         „Rubrik“ Förderziele: Sind diese Förderziele langfristig? Oder kurzfristig? Was heißt „konzentriertes Arbeiten“ genau für Lea? Hier sind offenbar langfristige Ziele genannt (konzentriert Sein, Aufgaben fertig stellen, sofort beginnen); Förderziele müssten hier erst einmal ganz konkret und kurzfristig benannt werden. Ein kurzfristiges Ziel könnte also lauten: Lea kann sich einmal am Tag zehn Minuten konzentrieren. Dies wäre ein erster, realistisch erreichbarer Schritt.

·         Das Ziel „Aufgaben gleich beginnen“ und „zügig arbeiten“ ist wenig aussagekräftig und redundant; was heißt „gleich beginnen“ für Lea konkret? (zum Beispiel könnte es viel konkreter heißen: Lea hat ihr Arbeitsmaterial bereit und beginnt ohne Ablenkung mit der Aufgabe). Was heißt „zügig arbeiten“ konkret für Lea? Wenn sie sich nicht zehn Minuten konzentrieren kann, dann kann sie auch nicht zügig arbeiten …

·         Rubrik „Fördermaßnahmen“: Stillarbeit / Flüsterzeit: Was heißt das? Wann? Wo? Wie? In welchem Fach? „Ruhiger Partner, Platz, verschiedene Arbeitsmöglichkeiten“: Was heißt das konkret? Besser wäre es, die Fördermaßnahmen auf das SMARTe Ziel (siehe Beitrag dazu im Heft) hin konkret auszurichten, die wären hier zum Beispiel: Lea arbeitet mit einer 10-Minuten-Sanduhr bei Stillarbeitsaufgaben; Lea bleibt am Platz sitzen und erledigt ihre Arbeit konzentriert über eine Zeitspanne von zehn Minuten. Die Lehrkraft führt dann das eingeführte Belohnungssystem durch. Dazu ist es natürlich unerlässlich, dass ein Belohnungssystem einführt sein muss, zum Beispiel Smiley-Plan, Sanduhrzeit oder eine  Auszeit. Wie kann Lea auch selbst feststellen, ob sie zehn Minuten Arbeiten am Stück geschafft hat? Wichtig ist, das vereinbarte System unbedingt einzuhalten, daher müsste hier im Plan eine differenzierte Beschreibung des Systems vermerkt sein. Es muss ein praktikables System sein, das auch Fachlehrer unproblematisch durchführen können. Die Fördermaßnahme für „Aufgabe gleich beginnen“ könnte sein, dass ein kleiner „Fahrplan“ zum Aufgabenbeginn mit dem Kind besprochen wird und zum Beispiel visualisiert auf den Tisch aufgeklebt ist. Zu überlegen wäre auch, ob der hier benannte alternative Arbeitsplatz nicht attraktiver gestaltet sein könnte und nicht als eine Art „Karzer“ präsentiert wird…

·         Rubrik „Vereinbarung mit der Schülerin“:  Eine extrem wichtige Rubrik! Die Vereinbarungen müssen unbedingt kindgerecht mit Lea kommuniziert werden: Lea muss genau wissen, was wann warum wofür passiert. Zum Beispiel „Wenn du diese Woche dreimal geschafft es, zehn Minuten konzentriert zu arbeiten, dann darfst du dir eine zusätzliche Computerzeit erwirtschaften“. Dem Kind muss natürlich auch klar sein, warum es konzentriert arbeiten soll.

·         Rubrik „ Maßnahmen der Erziehungsberechtigten / Vereinbarungen“: Maßnahmen mit den Eltern für zu Hause müssen genauso konkret festgelegt und darauf abgestimmt werden. Zum Beispiel könnte festgelegt werden: Leas Arbeitsplatz zu Hause muss aufgeräumt sein. Leas Arbeitsbeginn muss von den Eltern beobachtet werden, gegebenenfalls müssen die Eltern darauf hinweisen. Das schulische Belohnungssystem könnte eventuell übernommen werden und an häusliche Verhältnisse angepasst werden, damit das Kind ein Gesamtkonzept zur Konzentrationsförderung bekommt.

·         In dieser Rubrik erscheinen für den Leser überraschend Probleme mit den Hausaufgaben: Fertigt Lea selten alle Hausaufgaben an oder fertigt sie regelmäßige gar keine an? Sind diese insgesamt fehlerhaft und unvollständig? Ist dies in allen Fächern so? Dies bleibt offen und daher nicht aussagekräftig. Die zweite Vereinbarung lautet „Gesprächstermine einhalten“: Was heißt das konkret? Sind die Eltern unentschuldigt nicht gekommen? Gab es vielleicht ein begründetes Fernbleiben? (Hintergrund: Es gab nichts dergleichen – offensichtlich ist die Formulierung aus der Vorlage unreflektiert übernommen worden.)

·         Rubrik „Evaluation“: eine ebenfalls sehr wichtige Rubrik, um den Erfolg der Maßnahmen zu überprüfen. Hier ist aber die Schwierigkeit, dass offen ist, welche Maßnahmen eigentlich überprüft werden sollen.

·         Rubrik „Unterschriften“: auch wichtig! Alle Beteiligten sind verantwortlich für den angestrebten Lernprozess. Auch Lea muss genau wissen, wie ihre Förderung jetzt aussehen soll. Es wäre zu überlegen, einen kindgerechten Förderplan mit konkreten Zielen und konkreten Maßnahmen mit Lea selbst festzulegen. Es gilt, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen!

Was lernen wir aus der Analyse dieses individuellen Förderplans? Wenn so ein Plan nicht so konkret wie möglich beschreibt, was eigentlich gefördert werden soll (welcher Förderschwerpunkt genau?) und wie ganz konkret die langfristigen und/oder kurzfristigen Fördermaßnahmen, die realistisch ereichbar sind, aussehen sollen, dann bleibt so ein Plan nur ein Stück beschriebenen Papier, welches vordergründig der Administration zur Genüge reichen mag, aber nicht dem Kind … Dem Verhältnis mit den Eltern kann ein derartiges Schreiben sogar schaden, weil es Unsicherheiten weckt.

Klar ist allerdings: Förderpläne können nur individuell wirken, wenn im Unterricht Zeit und Raum für Förderung ist und ein Unterricht auch von der Anlage individualisierend gestaltet ist.

Zum sinnstiftenden Ausfüllen solcher Pläne benötigt die Lehrkraft keine psychologische oder sonderpädagogische Expertise, sondern sie muss eigentlich „nur“ präzise und realistisch durchführbar beschreiben, was genau wie bei dem einzelnen Kind gefördert werden soll. Dann macht das Führen von solchen Plänen auch Sinn …

Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

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