BERLIN. Ein jüdisches Mädchen wird an seiner Berliner Schule gemobbt und bedroht. Fachleute warnen, das Geschehen als Einzelfall abzutun. Die Probleme mit Antisemitismus lägen tiefer. Tatsächlich beklagen Experten wie Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, eine zunehmende Radikalisierung vor allem unter muslimischen Jugendlichen. “Es gibt eine wachsende Polarisierung und Verschlechterung der Zustände an Problemschulen in Brennpunkt-Bezirken”, so sagt er. GEW-Chefin Marlis Tepe fordert den Einsatz von mehr Sozialpädagogen an den Schulen.
«Du Spacko», «Du Spast»: Oft geht es rustikal zu, wenn sich Kinder oder Jugendliche in der Schule verbal in die Haare bekommen. Nicht selten fällt aber auch ein anderer Begriff: «Du Jude» als Schimpfwort sei ein «oft beobachtetes Phänomen an Berliner Schulen», heißt es in einer im Vorjahr vorgestellten Studie. Das sei «total gängig», werden dort mehrere Lehrer zitiert. Nun sorgt ein neuer Fall von Antisemitismus auf dem Schulhof für Schlagzeilen, der die erschreckende Dimension des Problems zeigt, das es nach Meinung von Fachleuten nicht nur in der Hauptstadt gibt.
An einer Berliner Grundschule wurde eine Zweitklässlerin von älteren Schülern aus muslimischen Familien als Jude beschimpft. Ein Mitschüler soll gedroht haben, sie umzubringen, weil sie nicht an Allah glaube. So jedenfalls erzählte es der Vater des Mädchens einem Journalisten der «Berliner Zeitung». Demnach kursierte in einer WhatsApp-Gruppe der Grundschüler sogar ein IS-Enthauptungsvideo. Die Bildungsverwaltung und der Schulleiter bestätigten solche Vorfälle.
“Praktisch jede Woche”
«Das ist kein Einzelfall», sagt Marina Chernivsky, Leiterin des Kompetenzzentrums Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Dieses arbeitet zum Thema Antisemitismus und Diskriminierung und bietet Eltern wie Schulen pädagogische Unterstützung und Opferberatung an. «Uns hat das nicht überrascht. Solche Vorfälle gibt es praktisch jede Woche, das ist selbst an Kitas ein Thema.» Das bestätigt auch der Antisemitismus-Beauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg. «Die meisten Fälle werden nur einfach nicht bekannt, etwa weil die Eltern nichts sagen.» Schulen bagatellisierten solche Vorfälle als «Streitigkeiten» oder kehrten das Problem unter den Tisch – auch aus Sorge um ihren Ruf.
Antisemitismus, da sind sich die Experten einig, gibt es von rechts, von links, in der Mitte der Gesellschaft – aber eben teils sehr ausgeprägt bei Muslimen, von denen zuletzt sehr viele gerade aus arabischen Staaten als Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Nimmt das Problem auch an Schulen also in der Folge zu? „Das ist Gott sei Dank noch kein flächendeckendes Problem an deutschen Schulen. Aber es gibt eine wachsende Polarisierung und Verschlechterung der Zustände an Problemschulen in Brennpunkt-Bezirken. Beispiele finden sich in Ballungsräumen wie Berlin oder dem Ruhrpott. Auch dort, wo eine einseitige Sozialstruktur besteht oder eine bestimmte Quote an Migranten überschritten wird, kann es verstärkt zu Konflikten kommen”, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, in einem Interview mit der “Bild”-Zeitung.
Mit Blick auf das kursierende Enthauptungsvideo sagt Meidinger: „Das sind heute leider keine Einzelfälle mehr, auch nicht mehr bei ganz jungen Schülern an Grundschulen. Solche Vorfälle gibt es inzwischen an vielen Schulen in Deutschland. Fest steht: Grausame Gewaltvideos in den sozialen Netzwerken sind längst im Schüleralltag angekommen. In Chat-Foren wie WhatsApp verbreiten sich solche Filme wie ein Lauffeuer.“
Wo gibt es die Probleme mit wachsendem Antisemitismus? „Wir sprechen hier von Schulen mit einer Migranten-Quote von 70, 80, 90 oder gar 100 Prozent. Die gibt es ja gar nicht überall”, erklärt der Lehrerverbands-Chef. „Aber dort, wo es sie gibt und zusätzlich sozial-religiöse Konflikte zwischen Schülergruppen existieren, kann die Schule selbst zum Austragungsort von Auseinandersetzungen werden. Zu einem unter den Migranten selbst, zum anderen aber auch gegenüber den deutschen und jüdischen Mitschülern. Dabei erleben wir von den unterschiedlichen Seiten antisemitische, antichristliche, aber auch ausländerfeindliche Ausfälle. Aber auch Lehrerinnen sind zunehmend Zielscheibe verbaler Angriffe.“
Meidinger: „Vereinfacht gesagt prallen hier nicht selten zwei Kulturen aufeinander: In manchen arabischen und nordafrikanischen Herkunftsländern beziehungsweise in den Herkunftsfamilien gibt es ein Frauenbild, das mit unserem nicht vereinbar ist. Das zeigt sich in Sätzen wie: ‚Von dir Schlampe lasse ich mir gar nichts sagen!‘ Das sind an manchen Schulen schon gar keine Einzelfälle mehr, das ist zum Teil Alltag.“
Religion wird wichtiger
Die Gefahr einer Radikalisierung muslimischer Jugendlicher in Deutschland sehen auch jüdische Organisationen wie das American Jewish Committee (AJC): Die islamistische Ideologie, nicht zuletzt der Salafismus, habe große Anziehungskraft auf junge Leute, warnte dessen Berliner Direktorin Deidre Berger vor geraumer Zeit. Eine AJC-Studie unterstreicht den Befund. In dem – nicht repräsentativen – Stimmungsbild berichteten Lehrkräfte an Berliner Schulen von einer stark gestiegenen Rolle der Religion im Schulalltag. Etliche muslimische Schüler hinterfragten Lehrinhalte, stellten den Koran über alles, wachten über die Kleiderordnung bei Mädchen. Drohungen gegen Juden oder Homosexuelle, das Infragestellen der Demokratie, Sympathien für Terrororganisationen wie den IS, das Tilgen Israels von der Weltkarte – an Schulen laut Studie keine Seltenheit.
«Das Problem kann man nicht auf die Zuwanderer reduzieren», betont Expertin Chernivsky. «Aber wir müssen auch sehen, dass viele dieser Menschen in ihren Heimatländern eine religiöse und vor allem politische Sozialisation durchlaufen haben, in der antisemitische und anti-israelische Haltungen prägend waren.»
Was also ist zu tun? Die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Marlis Tepe, fordert bessere Aus- und Weiterbildung für Lehrer in Sachen interkultureller Kompetenz und mehr Sozialpädagogen an den Schulen, um auf die Konflikte angemessen reagieren zu können. Politische Bildung müsse einen höheren Stellenwert bekommen und in den Schulen viel früher als bisher thematisiert werden.
«Lehrer müssen den Schülern klarmachen, dass es Regeln gibt, die auch einzuhalten sind», fordert Königsberg von der Jüdischen Gemeinde. «Und sie müssen sich hinter die Opfer stellen.» Eher pessimistisch, dass Deutschland das Problem des Antisemitismus auf dem Schulhof in den Griff bekommt, zeigt sich der Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Wenzel Michalski. «Wenn es um Judenhass geht, sind sich Rechte, Linke, Bürger der Mitte, Moslemverbände, Schulen, Parteien, Elternvertreter einig: Kopf in den Sand und verharmlosen», twitterte er am Montag. Michalskis Sohn war im Vorjahr an einer Schule in Berlin-Friedenau als Jude gemobbt worden. News4teachers / mit Material der dpa
Studie legt nahe: Muslimische Schüler eher seltener radikal als nicht-muslimische