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Demokratie-Erziehung: Warum gängige Unterrichtsmethoden in der Praxis scheitern – eine Kritik

BERLIN. Eine rechtsstaatliche Demokratie wie unsere ist eine hoch komplexe Staatsform, deren Regeln von jungen Menschen erlernt werden müssen. Die gute Nachricht: Das kann gelingen. Die schlechte: Es gelingt viel zu selten. Die Schule, so beklagt der renommierte Psychologe und Bildungswissenschaftler Georg Lind, hat nach PISA ihren Fokus auf die leicht messbaren Kategorien verlegen müssen – zulasten der Demokratie-Erziehung. Was ist zu tun? In einer vierteiligen Reihe auf News4teachers analysiert Lind das Problem. Heute, zum Abschluss der Reihe, wirft er einen kritischen Blick auf gängige Unterrichtsmethoden – und stellt eine neue vor.

Herzstück der deutschen Demokratie: der Bundestag. (Foto: Deutscher Bundestag/Marc-Steffen Unger)

Demokratie-Erziehung: Welche Methode?

Wie die Moralforschung zeigt, muss die Schule nicht unbedingt mehr tun, um bei allen Schü­lern die Moralkompetenz ausreichend und nachhaltig zu fördern. Sie muss es aber gezielter tun, das heißt, sie muss es mit besseren Methoden und mit besser ausgebildeten Lehrern als bisher tun. Den Anforderungen an eine wirk­same Demokratie-Erziehung genügt keine der heute vorherrschenden Unterrichtsmethoden:

Institutionenkunde: Bislang meinten wir, für den Erhalt der Demokratie reiche es, den Her­an­wachsenden demokratisches Wissen zu vermitteln, das heißt, sie mit dem Grundgesetz und den staatlichen Institutionen vertraut zu machen. Die Vermittlung dieses Wissens könnte den Heran­wachsenden Gelegenheit bieten, zwischen dem individuellen Guten und dem sozial Guten abzu­wägen und rivalisierende Vorstellungen über die Bedeutung von demokratischen Grund­prinzipien wie Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität zu diskutieren. Oft wird diese Gelegenheit im Unter­richt aber nicht wahrgenommen, weil Prüfungs- und Notendruck dafür keine Zeit lassen, oder weil die Lehrperson es sich nicht zutraut, mit Denken und Diskussion im Unterricht umzugehen (Lind 2015).

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Wertevermittlung/Ethik-Unterricht: Die Demokratie lebt davon, dass die Bürger sie wol­len und Idealen wie Gerechtigkeit, Freiheit und Kooperation einen hohen Wert zumessen. Tatsächlich nimmt dieses Ideal für die meisten Menschen überall in der Welt einen hohen Rang ein (Sen 1996; McFaul 2004), sogar auch dann, wenn sie von real existierenden Demo­kratien enttäuscht sind und sie selbst ihre Ideale oft verfehlen. Die Vermittlung von Werten durch die Schule ist da­her nicht nur über­flüssig. Sie ist auch ein “performativer Selbstwider­spruch” (Apel) zu dem Frei­­heits­ideal der De­mo­­kratie (Portele 1978; Lind 2017b). Die theore­tische Vermitt­lung von moralischen Wer­ten in Form von Vor­trägen oder Lesetexten zeigt über­dies keine empirisch belegbare Wirkung auf die Entwicklung der Moral­kompetenz (Nar­vaez 2001; Lind 2002).

Demokratie leben: Die Methode ‘Demokratie leben’ ist nur bedingt geeignet, um Mo­ral­kom­petenz zu fördern. Zum einen erreichen die Lerngelegenheiten, die sie bietet, oft nur einen Bruch­teil der Jugendlichen, zumeist nur jene, die bereits eine relativ hohe Moralkom­petenz haben und die sich durch diese Methode nicht überfordert fühlen (Comunian & Gielen 2006). Zum an­de­ren hängt die Wirksamkeit von ‘Demokratie leben’ sehr von der Qualität der erfahrenen “Demo­kratie” und der begleitenden pädagogischen Angeboten ab (Westheimer 2015). Selbst die Just commu­ni­ty-Schulen, in denen demokratische Verfahren vorbildlich praktiziert werden, kön­nen die Moral­­­­kompetenz von Schülern nicht wirksam fördern. In den JC-Projekten in den USA fand sich unterm Strich kein Entwicklungsgewinn für die Teil­nehmer (Power et al. 1998; Lind 2002). In dem Projekt “Demokratie und Erziehung in der Schule” in Deutschland ergab sich zwar ein deutli­cher Lernzuwachs (Lind & Althof 1992), der aber nicht eindeutig der Methode “Demokratie leben” zu­gerechnet werden kann, da die Schüler gleichzeitig an vielen Dilemmadiskussionen teil­nehmen konnten, deren Wirksamkeit gut belegt ist (siehe unten). Dass freie Diskus­sionen über reale Lebensprobleme und echte Teil­habe an einer demokratischen Willensbildung einen Fördereffekt haben kön­nen, zeigt ein Zufallsbefund der Konstanzer Längsschnittstudie bei Universitäts­stu­die­renden in fünf europä­ischen Ländern von 1977 bis 1985 (Bargel et al. 1982). Während in vier Ländern während des Studium nur eine schwache Zunahme der Moralkompetenz zu verzeichnen war, nahm sie bei den Studierenden in Polen Ende der 1970er Jahre stark zu, als sich vielen von ihnen die Ge­legen­heit bot, sich an der demokratischen Solidarnosc-Bewegung dort zu beteiligen (Nowak & Lind 2009).

Dilemma-Diskussion: Diese von Moshe Blatt und Lawrence Kohlberg (1975) entwickelte Methode der Demokratie-Erziehung hat sich als sehr effektiv erwiesen, um die moralische Urteils­fähigkeit von Schülern zu stimulieren. Sie wurde aber von Kohlberg und seinen Schülern später für tot erklärt, weil Lehrer sie nicht annahmen (Althof 2015). Für Kohlberg (1964) be­steht moralische Urteils­fähigkeit in dem “Vermögen, Entscheidungen und Urteile zu treffen, die mora­lisch sind, das heißt, auf inneren Prinzipien beruhen und in Übereinstimmung mit diesen Urteilen zu handeln.” (S. 303; meine Übers.) Um diese zu fördern, sieht die Metho­de vor, dass die Lehr­per­son die Schü­ler mit mehreren Dilemma-Geschichten konfrontiert und sie dazu jeweils ihre Meinung ab­geben und diese begründen müssen. Um die Lehrwirkung zu maximieren, soll die Lehr­person den Schü­lern Argumente anbieten, die genau eine Stufe über deren Ent­wick­lungsstufe liegen (die so ge­nannte “plus-1-Konvention”). Dazu muss sie (mit Hilfe von Kohlbergs Inter­view­me­thode) vor dem Unterricht die “Stufe der moralischen Ur­teils­fähig­keit” ihrer Schüler er­mitteln. Die Wirk­samkeit der Blatt-Kohlberg-Methode wurde so intensiv empirisch überprüft, wie keine andere Methode der Moralerziehung davor, allein zwischen 1970 und 1984 in über 140 Inter­ventions­studien (Lind 2002). Die durch­schnitt­liche Effektstärke der Methode war erstaunlich hoch (sie betrug r = 0.40 bzw. d = 0.88, ein Wert, der bis dahin von kaum einer pädagogischen Methode je er­reicht wurde).

Die Ablehnung der Blatt-Kohlberg-Methode durch die Lehrer ist nachvollziehbar: Die Me­tho­de ist sehr aufwändig: sie setzt eine intensive Schulung der Lehrpersonen voraus (die offenbar unterblieb) und sie verlangt die Durchführung von langen Interviews mit den Schülern, die nur von Experten ausgewertet werden können. Zudem sind diese Interviews sub­jektiv und für die Lehrer nicht transparent (Lind 1989). Schwer wiegt auch, dass die Vorgabe von Argumenten (plus-1-Konvention) im Gegensatz zu Kohlbergs eigener Lern­theorie steht, die auf entdeckendes Lernen, statt auf Nachahmung setzt. Tatsächlich zeigt ein Experiment von Lawrence Walker (1983), dass die Argumente der Lehrer vermutlich nicht dadurch wirken, dass die Schüler sie nachahmen, sondern dadurch, dass Argumente generell zum Denken anregen. Dieselbe Wirkung zeigten nämlich auch Gegenargumente, die von Gleichaltrigen vorgebracht wurden. Die Methode könnte also noch wirksamer sein, wenn der Lehrer sich mehr zurücknehmen und den Schülern mehr Raum für die Diskussion unter­einander geben würde (Lind 2015).

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse habe ich die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskus­sion (KMDD) entwickelt. Sie hat einige Elemente der Blatt-Kohlberg-Methode aufgenommen, unterscheidet sich aber stark von ihr (Lind 2015; 2017a; Reinicke 2017). Sie wird seit über zwan­zig Jahren in unterschiedlichen Bildungsinstitutionen angewandt: In Schulen ab der dritten Klas­sen­­stufe, in Berufsschulen, in Hochschulen, in Gefängnissen und in Militärakademien. Sie wird neben Deutschland auch in mehreren anderen Ländern ein­gesetzt, unter anderem auch in China. Sie hat sich als sehr effektiv erwiesen. Bereits eine einzige KMDD-Sitzung bewirkt einen größe­ren Zuwachs an Moralkompetenz als ein ganzes Schuljahr. Voraussetzung für den effektiven und verantwortungsvollen Einsatz der KMDD ist jedoch eine gründliche Ausbildung der Lehrer, die sie anwenden. Ohne sie zeigt sich keine oder eine negative Wirkung (Lind 2015).

Wir setzen die KMDD jetzt auch im öffentlichen Raum als „Diskussions-Theater“ (DT) ein. Das Stück, das wir aufführen, heißt „Reden & Zuhören“. Erste Aufführungen in der Dresdner Frauen­kirche und in Poznan, Polen, waren gut besucht und erfolgreich verlaufen. Sie zeigen, dass es ein Bedürfnis nach ernsthaften, freien Diskussionen mit Anderen über heikle Themen gibt, die frei von Anwür­fen und Aggression sind (Reinhard 2018).

Zwar sind KMDD und DT ein Stück Theater: im Mittelpunkt immer die Geschichte über die Entscheidung einer fiktiven Person. Aber die Geschichte ist meist so passiert oder hätte genau so passieren können. Vor allem ist die Diskussion zwischen den Unterstützern und den Gegnern der Entscheidung des Protagonisten real: die Teilnehmer am Diskussions-Theater tun, genauso wie bei der KMDD, ihre eigene Meinung kund und versuchen, die Gegner zu überzeugen, dass sie Recht haben. Es handelt sich also bei DT und KMDD nicht um ein Rol­lenspiel, sondern um eine echte Auseinandersetzung, bei der spürbar Emotionen im Spiel sind. Dennoch ist es in den unzäh­ligen Veranstaltungen, die ich in mehr als zwanzig Jahren geleitet habe, noch nie zu einem Ver­stoß gegen die einzige unveränderbare Regel gekommen, nämlich dass alles gesagt und auch alles beurteilt werden darf, aber nicht Menschen. Bei Regelverstoß gäbe es keine Strafen; es gäbe nur eine Regel-Erinnerung durch den Veranstal­tungsleiter. Aber auch die war nie nötig. Es scheint, dass jeder Mensch den Wunsch nach harten, aber fairen Diskussionen hat, und dass es daher ge­nügt, dass der Veranstaltungsleiter, als wahrgenommene Autorität, dies zu Beginn offen sagt und verspricht, über die Einhal­tung dieser Regel zu wachen, sich aber ansonsten inhaltlich nicht in die Diskussion einmischt (Lind 2016).

Demokratie-Erziehung ist möglich

Das selbstbestimmte Zusammenleben in einer Demokratie ist nicht einfach. Es kann nur funktio­nieren, wenn alle Bür­ger schon ab dem Kindesalter genügend Ge­legenheit bekommen, ihre Moral­kompetenz zu ent­wickeln. Nur so können sie später Probleme und Konflikte auf der Grundlage moralischer Prinzipien lösen, also durch Denken und Diskussion statt durch Gewalt oder Betrug oder Unterwerfung unter Andere. Nur so können sie auch ihre eigenen Vorstel­lungen von einem besseren demokratischen Zusammenleben in die politische Meinungs­­bildung einbringen und durchsetzen. Fehlt ihnen diese Kompetenz, dann brauchen Bürger einen “starken Staat” (Hobbes ‘Levia­than’), der sie an Gewalt und Betrug hindert, und der an ihrer Stelle Ent­scheidun­gen trifft. Dann unter­lassen sie auch alle Anstrengungen, um die Demokratie zu erhalten und zu verbessern.

Die meisten Menschen benötigen, um diese Fähigkeit zu entwickeln, die Unter­stützung durch die Schule. Die „natürliche“ Entwicklungsumgebung der meisten Kinder bietet hierfür zu wenige Lerngelegenheiten. Ihnen muss die Schule geeignete Lernge­legen­heiten bereit­stellen, nicht nur im Ethik- und Politikunterricht, sondern in allen Fächern.

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion und bietet solche Lerngelegenheiten. Sie setzt allerdings, wenn sie effektiv und verant­wor­tungs­­voll genutzt werden soll, eine gute Ausbildung der Lehrperson voraus. Ohne ausreichen­des Training und Zer­ti­fi­zierung ist jede Methode wirkungslos und kann sogar eine negative Wir­kun­gen haben (Lind 2015).

Die KMDD macht, anders als andere Methoden der Demokratie-Erziehung, keine Ände­rung des Lehrplans, der Stundentafel oder der Schulorganisation notwendig. Jeder Lehrer kann sie in eigener Verantwortung einsetzen. Sie nimmt wenig Zeit in Anspruch, so dass sie auch keine Ab­striche am Fachcurriculum not­wendig macht. Im Gegenteil, sie wirkt sich positiv auf die Lern­motivation der Schüler und das Lernklima in der Klasse aus. Eine Bio­logie­lehre­rin berichtet, dass ihre Klasse nach einer KMDD-Sitzung mit dem Stoff viel schneller durch war als sonst. Anders als früher hätten die Schüler nun mehr Fragen gestellt und mehr miteinander über das Ge­lernte diskutiert: „Sie wissen jetzt besser, wofür sie lernen“. (Mehr Stimmen zur KMDD sowie zur Ausbil­dung als KMDD-Lehrer finden sich im Internet: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/KMDD_rueckmeldung_teilnehmer.htm).

Der Autor
Georg Lind. Foto: Glenda Lind

Dr. Georg Lind, emeritierter apl. Professor der Psychologie, forscht und lehrt seit vier Jahrzehnten zur Frage, was Menschen dazu befähigt, Probleme und Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen, und wie man diese Fähigkeit messen und effektiv fördern kann. Er hat den Moral Competence Test (MCT) zur Messung dieser Fähigkeit und auch die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD), sowie ein Konzept zur Vermittlung dieser Methoden an Lehrkräfte entwickelt. Seine Methoden werden bereits weltweit eingesetzt, aber noch zu wenig, um die Demokratie nachhaltig zu sichern. Infos zu Literatur, Symposien und Fortbildung finden sich auf seiner Webseite: www.uni-konstanz.de/ag-moral/

Kontakt: georg.lind@uni-konstanz.de

Literatur

 

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