Website-Icon News4teachers

Erziehungsnotstand – ein Interview: “Es sind vielfach ganz schlecht beschulbare Kinder, die in die Klassenzimmer geschoben werden”

Anzeige

WIEN. Die Bestseller-Autorin Prof. Martina Leibovici-Mühlberger beschreibt in ihren Büchern „Tyrannenkinder“, die mit Verhaltensauffälligkeiten jeden Unterricht sprengen. Im Gespräch spricht die Wiener Medizinerin und Therapeutin über die Ursachen des Erziehungsnotstands  – und was sie Schulen empfiehlt. Das Interview ist der aktuellen Ausgabe 5/2018 der Zeitschrift “Grundschule” entnommen. Titel des Heftes: “Gemeinsam erziehen – Anregungen für die Praxis, wie Sie die Unterstützung der Eltern gewinnen können”.

Hier lässt sich das Heft bestellen und lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Lehrer haben mit immer mehr “Tyrannenkindern” zu kämpfen. Foto: Shutterstock

Sie gehen in Ihrem neuen Buch „Der Tyrannenkinder Erziehungsplan” davon aus, dass die heutige Generation von Kindern als Erwachsene scheitern wird – wenn wir jetzt nicht gegensteuern. Woran hapert es denn?  

Anzeige

Leibovici-Mühlberger: Es hapert daran, dass wir Erwachsenen unsere Erziehungsverantwortung vernachlässigen, indem wir die Freiheit und vordergründige Potenzialentwicklung unserer Kinder zu stark betonen. Unser eigentlicher Erziehungsauftrag lautet, die nächste Generation „fit for life“ zu machen. Das heißt, sie in den jungen Lebensjahren so zu begleiten, dass sie Lebenskompetenz entwickeln kann. Das ist ein universeller Erziehungsauftrag, den jede Vorgeneration, jede Elterngeneration gegenüber ihren Kindern hatte. Da können Sie zurückgehen bis in unsere Anfänge.

Was das konkret bedeutet, diesen Erziehungsauftrag richtig zu erfüllen, das hat sich natürlich über die Jahrhunderte verändert. Heute würde niemand mehr auf Schwertkampf setzen, wie im Mittelalter. Wir benötigen heute natürlich andere Fähigkeiten, andere Kompetenzen. Hier stehen Teamfähigkeit, Kollaborationsfähigkeit, Reflexionsfähigkeit ganz oben – wir benötigen also Menschen, die ihr Portfolio immer wieder neu arrangieren können, die fähig sind, im Team mit Partnern zusammenzuarbeiten, egal, welcher Ethnie, welcher Kultur, welcher Religion diese Menschen angehören. Wir brauchen also weltoffene Menschen. Wenn wir ehrlich sind, so müssen wir sagen: Wir sind nicht wirklich dort. Hier mahnen uns die Pädagogen vor Fehlentwicklungen. Sie stehen täglich im Zukunftslabor Schule.

Und wenn dann eine Schulleiterin, wie bei uns in Österreich vor zwei Jahren – und das wird in Deutschland nicht anders sein –, feststellt: „Für 20 Prozent meiner Schüler halte ich es für kaum möglich, dass sie später einmal berufsfähig sind” – dann muss man das schon ernst nehmen. Und damit hat sie nicht gemeint, dass diese Kinder dumm wären, sondern dass sie beim Selbstmanagement, bei der Selbstorganisation, bei der Bedürfnisverschiebung und mit all dem, was man früher Sekundärtugenden genannt hat, große Defizite aufweisen. Es fehlt ihnen an der Basiserziehung.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Der Text erschien zunächst in der Ausgabe “Gemeinsam erziehen” der Zeitschrift “Grundschule”. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Die Arbeit als Lehrkraft umfasst deutlich mehr Aufgaben als nur den reinen Unterricht. Zum Gesamtpaket gehört etwa die Kooperation mit den Erziehungsberechtigten – nicht selten eine enorme Herausforderung. Trotzdem: Eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus ist von entscheidender Bedeutung – nicht nur für den Lernerfolg des einzelnen Kindes, sondern auch für einen erfolgreichen Unterricht. In diesem Heft bieten wir Ihnen daher Anregungen aus der Theorie und vor allem der Praxis, wie Lehrkräfte Eltern für Ihre Anliegen gewinnen können. Dabei reichen die Impulse von umfassenden Konzepten bis hin zu alltagstauglichen Tipps – und sie zeigen, dass besonders vier Aspekte für eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft ausschlaggebend sind.

Wie äußert sich das nach Ihrer Beobachtung in den Schulen?

Leibovici-Mühlberger: Ich leite ja auch ein Erwachsenenbildungsinstitut – wir bilden Eltern und Erziehungsberater aus. Unsere Ausbildungskandidaten für einen fünfsemestrigen Lehrgang zum Erziehungsberater sind zu 70 Prozent Pädagogen. Und diese Pädagogen berichten uns aus ihrer Alltagspraxis, ob die nun in der frühkindlichen oder in der beruflichen Bildung liegt, es herrscht Dschungelkrieg. Täglich. Der Unterricht ist von vielfachen Störungen begleitet. Wir haben auf der einen Seite die sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Schüler, auf der anderen Seite die zunehmende Zahl der Schüler mit Autismus-assoziierten Syndromen, die durch nichts zur Mitarbeit zu bewegen sind. In der Schule herrschen hoch erschwerte Arbeitsbedingungen. Es sind vielfach ganz schlecht beschulbare Kinder, die in die Klassenzimmer geschoben werden, denen die Grundkompetenzen fehlen, sich auch nur über den kurzen Zeitraum einer Schulstunde hinweg in ein soziales System einzufügen und die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken. Der Pädagoge ist dann einen nicht unerheblichen Teil der Unterrichtsstunde nur damit beschäftigt, die Ausgangsbedingungen herzustellen, um dann das zu tun, was sein eigentlicher Auftrag ist: zu unterrichten.

Sie haben eben schon mal eine Schulleiterin zitiert, die eine Größenordnung von 20 Prozent der Schüler genannt hat – ist das nach Ihrer Erfahrung richtig?

Leibovici-Mühlberger: Das ist ungefähr der Prozentsatz, von dem immer wieder berichtet wird. Es hängt natürlich auch vom Schulstandort ab. Aber im Schnitt dürfte das stimmen.

Sind das Kinder aus einer bestimmten Schicht? Oder aus einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe? Oder geht das querbeet?

Leibovici-Mühlberger: Es geht quer durch. Es gibt ja auch eine soziale Verwahrlosung, die nichts mit mangelnden Möglichkeiten zu tun hat – etwa im Fall einer alleinerziehendem Mutter im Überlebenskampf –, wir haben auch eine Konsumverwahrlosung, bei der kein in sich gefügtes ethisches und moralisches Werte-Set vorgelebt wird. Das sind dann Kinder, die auf einem Samtpolster als bestauntes, monumentales Ereignis durch ihre frühe Kindheit kutschiert werden.

Die allermeisten Eltern dürften sich aber schon Mühe bei der Erziehung geben …

Leibovici-Mühlberger: Es gibt auf der anderen Seite auch ein Über-Engagement von Eltern. Schauen Sie, wir haben in Österreich im Schnitt nur 1,4 Geburten pro Frau (in Deutschland 1,5, die Redaktion). Das heißt, wir haben in vielen Familien ein Projektkind. Wenn das erste nicht gelingt, bleibt nur mehr 0,4 über, und das klingt nicht sehr ermutigend, nicht? Also gehen Eltern die Erziehung heute nicht mehr mit der gewissen Lockerheit und Lässigkeit an, die frühere Generationen hatten. Dazu kommt: Schon in der vorherigen Generation herrschte die Kleinfamilie vor, sodass dieses Kind oft das einzige weit und breit ist. Es gibt dann auch kein tradiertes Wissen darüber, wie man denn mit so einem Kind umgeht, wie man es begleitet. Das Kind ist dann wie eine Naturerscheinung, die bestaunt wird, und die vielfach mit angelesenem Wissen durch seine frühe Kindheit gesteuert wird. Mit einem Berg von Ratgeberliteratur. Das Kind wird natürlich sofort psychologisch getestet, früh gefördert, möglichst noch im Uterus mit einem Englischkurs bedacht. Man hat das Kind ideal zu positionieren, das fängt schon bei einer besonderen Namensgebung an. Was ich sagen will, ist, dass viele Eltern verdammt unter Druck stehen. Man kann ihnen kaum einen Strick daraus drehen – obwohl: Es gibt auch Eltern, die Kinder als eine narzisstische Selbstverlängerung sehen und instrumentalisieren, das muss man schon sagen. Aber der Großteil der Eltern liebt seine Kinder und will das Beste. Und wird dann Opfer, oft unter hohem Selbstverzicht. Ich kenne Eltern, die sich selber nichts gönnen, damit das Kind durch alle Musikkurse und alle Fördergeschichten und Einrichtungen und Privatschulen geschleust werden kann. Das Ergebnis ist dann oft trotzdem mangelhaft.

Was ist denn die Konsequenz aus Ihrer Diagnose?

Leibovici-Mühlberger: Elternbildung.

 … oder den Schulen mehr Erziehungsverantwortung übertragen?

Leibovici-Mühlberger: Den Schulen die Erziehungsverantwortung zu übertragen, das ist doch längst passiert. Den Schulen ist durch die Hintertür eine riesige Verantwortung zugeschoben worden. Als Beispiel ein echter Fall, von dem ich weiß: Ein 13-jähriger Schüler, ein schwieriger Bursche, weigert sich im Unterricht, seine Kopfhörer abzunehmen. Die Schule versucht, die Mutter einzuladen – zunächst vergeblich. Erst nach mehreren Anläufen kommt die Dame. Und sie ist höchst verärgert, weil sie sich einen halben Tag hat freinehmen müssen für diesen Termin. Die Lehrer schildern die Situation und sie entgegnet: „Was wollen Sie da von mir? Ich bin eine alleinerziehende Mutter. Ich sehe den Buben abends um halb Sieben. Erziehen müssen doch Sie ihn. Sie haben ihn den ganzen Tag.“

Was können Lehrer denn in einer solchen Situation tun?

Die Antwort auf diese Frage lesen Sie im zweiten Teil des Interviews – hier geht’s hin. 

Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Zur Person
Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger. Foto: Matthieu Munoz

Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, Mutter von vier Kindern, ist Praktische Ärztin, Gynäkologin, Ärztin für Psychosomatik und trägt als Psychotherapeutin das European Certificate of Psychotherapy. Sie leitet die ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH, ein Ausbildungs-, Beratungs- und Forschungsinstitut mit Fokus auf Jugend und Familie, sowie die ARGE Bildung&Management, ein Kompetenzzentrum für Personal- und Organisationsentwicklung mit Fokus auf humanistischer Unternehmensberatung. Die Wienerin ist Buchautorin und Verfasserin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel. Ihr aktuelles Buch „Der Tyrannenkinder-Erziehungsplan: Warum wir für die Erziehung ein neues Menschenbild brauchen“ ist im edition a-Verlag erschienen (24,90 Euro).

Der Beitrag führt auf der Facebook-Seite von News4teachers bereits zu vielen Reaktionen:

Wie die Spaßgesellschaft den Kindern beibringt, jede Anstrengung zu vermeiden (und welche Folgen das hat) – ein Gastbeitrag

Anzeige
Die mobile Version verlassen