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Gauland und der “Vogelschiss”: Betreiben die Schulen einen “Schuldkult” um den Holocaust? Geschichtslehrer widersprechen

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BERLIN. Der “Vogelschiss”, womit Alexander Gauland am Wochenende die NS-Zeit bezeichnete, war kein Ausrutscher. Immer wieder provoziert die AfD mit der Behauptung, dass um den Holocaust in Deutschland ein “Schuldkult” betrieben werde, dass die Schulen die “deutsche Geschichte mies und lächerlich machen”, wie der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke (selbst Geschichtslehrer von Beruf) befand – und eine “erinnerungspolitische Wende um 180 Grad” forderte. Was ist dran an der These? News4teachers sprach darüber mit Ulrich Bongertmann, dem Bundesvorsitzenden des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands.

Eine alte Frau und  Kinder auf dem Weg in die Gaskammern in Auschwitz-Birkenau (Mai 1944) – Aufnahme aus dem „Auschwitz-Album“, das nach Kriegsende entdeckt wurde und Aufnahmen enthält, die von SS-Angehörigen gemacht wurden. Foto: Bundesarchiv / Wikimedia Commons

News4teachers: Wenn man mal versucht, die Debatte sachlich zu fassen, dann geht daraus der Vorwurf hervor, dass die Schulen eine falsche Erinnerungskultur pflegen – dass der Geschichtsunterricht einseitig die dunklen Seiten betont und eine wundervolle deutsche Geschichte, die es darüber hinaus gebe, vernachlässigt. Ist da etwas dran?

Bongertmann: Es ist den Schulen ja nicht zum ersten Mal von der AfD vorgeworfen worden, den Nationalsozialismus im Unterricht überzubetonen. Das ist aber nicht so. Es stimmt nicht, dass das Thema in jedem Schuljahr den Schülern aufs Neue aufgetischt würde. Das ist in keinem Lehrplan der Fall. Andererseits ist die Geschichte des Nationalsozialismus und der damals verübten Verbrechen natürlich eines der Hauptthemen des Geschichtsunterrichts. Es muss einen angemessenen Platz haben und der ist in der Regel in der 9. oder 10. Klasse aller Schulformen und dann nochmal in der gymnasialen Oberstufe, wo das Thema vertiefend wiederholt wird. Der Ablauf des Holocausts nimmt im deutschen Geschichtsunterricht zeitlich einen Komplex von ein bis vier Stunden ein. Darin kann ich keine Übertreibung erkennen –  angesichts der Bedeutung, die der Judenmord für unsere Demokratie und für unser aller Bewusstsein hat.

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News4teachers: Sind ein bis vier Unterrichtsstunden nicht umgekehrt viel zu wenig?

Ulrich Bongertmann, Bundesvorsitzender des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, ist Geschichtslehrer in Rostock. Foto: privat

Bongertmann: Der chronologische Ablauf des Holocausts ist ja nur ein Teilaspekt des Themas. Warum kommt es zum Judenmord? Wo liegen die Wurzeln? Was sind die Bedingungen, was ist die Ideologie des Nationalsozialismus? Alles zusammengenommen ist es schon ein viertel oder ein halbes Schuljahr, in dem sich die Schüler mit dem Nationalsozialismus beschäftigen. Die mathematische Relativierung, die NS-Zeit umfasse „nur zwölf von 1000 Jahren” deutscher Geschichte, wie Gauland sie vornimmt, verzerrt die Geschichte: Historisch waren es eben nicht nur diese zwölf Jahre, die plötzlich über die Deutschen gekommen sind – die Wurzeln reichen tief bis ins 19. Jahrhundert. Und es kommt im Geschichtsunterricht darauf an, auch diese freizulegen, also die  langfristigen Entwicklungen, die dann in die Katastrophe geführt haben. Um dann gemeinsam zu überlegen: Was kann man tun, um so etwas für die Zukunft zu verhindern?

News4teachers: Sehen Sie den Geschichtsunterricht über das sogenannte „Dritte Reich“ im Umfang als ausreichend an – oder würden Sie sich mehr wünschen?

Bongertmann: Wir als Geschichtslehrer sehen das Angebot als defizitär an, weil es viele Aspekte gibt, die wir aus Zeitmangel nicht behandeln können. Wir haben neulich eine Untersuchung gemacht: Wie viel Unterrichtszeit steht uns überhaupt zur Verfügung? Und da gibt es durchaus Bundesländer, die uns in jedem Schuljahr von der 5. Klasse an bis hinauf in die Zehn zwei Wochenstunden gönnen – und es gibt andere Bundesländer, in denen gibt es jahrgangsweise gar keinen Geschichtsunterricht. Allen voran Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg. Dort gibt es viel zu wenig Stunden. Dann ist es überhaupt keine Frage, ob man mehr als drei, vier Unterrichtsstunden zum Thema Holocaust machen kann. Das ist dann schon das Maximum des Vorstellbaren, weil insgesamt nur eine Stunde in der Woche vorhanden ist. Wir brauchen also eine maßvolle Anhebung des Geschichtsunterrichts in den meisten Bundesländern – und dabei sollte auf jeden Fall das Thema „Wie kam es zu Hitler? Wie kam es zu den Verbrechen des Nationalsozialismus?“ einen großen Stellenwert haben. Andererseits sind wir genauso dafür, dass die deutsche Demokratiegeschichte, die ja auch mehr umfasst als die Bundesrepublik oder Weimar, angemessen behandelt wird.

News4teachers: Die guten Seiten der deutschen Geschichte…

Bongertmann: … sollten im Geschichtsunterricht keineswegs fehlen. Also, wir sind sehr dafür, dass wir uns beispielsweise mit den Traditionen von 1848 auseinandersetzen und dass wir die Einführung des Frauenwahlrechts 1919 anerkennen.

News4teachers: Gauland hat am Wochenende von einer „fast 1000-jährigen Erfolgsgeschichte Deutschlands” gesprochen, abzüglich eben vom “Vogelschiss” der zwölf Jahre Naziherrschaft. Wie stehen Sie zu dem Terminus “Erfolgsgeschichte” im historischen Kontext?

Bongertmann: Für einen Historiker gibt es in fast jeder Epoche Licht und Schatten und das muss dann auch im Unterricht angemessen dargestellt werden. Wer etwa den Glanz Friedrichs des Großen darstellen will, der muss dann auch darüber sprechen, dass dessen waghalsige Annektionspolitik mit kriegerischen Mitteln erfolgte, also dass die sogenannten „Erfolge“ mit vielen Menschenleben erkauft wurden. Auch wer über Bismarck redet, der muss sehen: Er hat bisweilen skrupellose Mittel eingesetzt, um seine politischen Ziele zu erreichen.

News4teachers: Also, das heißt: Geschichte entzieht sich der Kategorie „Erfolg“.

Bongertmann: Was bedeutet es denn, dass eine Nation eine „Erfolgsgeschichte” haben soll? Eine Nation, die so viele Aufs und Abs erlebt hat – und zu der auch Phänomene wie Rassismus und Antisemitismus gehören.

News4teachers: Zumal uns der Antisemitismus heute ja in vielfacher Gestalt beschäftigt, etwa auch als problematische Einstellung unter jungen Muslimen.

Bongertmann: Ja, eben. Antisemitismus hat tiefe Wurzeln. Junge Menschen müssen diese Argumentationsmuster kennen – um erkennen zu können, was sich davon wiederholt. Damit sie ein kritisches Urteil fällen können über das, was ihnen heute begegnet.

News4teachers: Was sagen Sie zu der Forderung der Jungen Alternative, dass in den Schulen das Deutschlandlied – ausdrücklich nicht die Nationalhymne – gesungen werden soll?

Bongertmann: (Lacht). Ja, auch das hat eine Tradition. Da gab es mal in den 70-ern einen baden-württembergischen Kultusminister, Gerhard Mayer-Vorfelder, der später auch DFB-Präsident wurde. Der hat seinerzeit schon versucht, sich mit dem Vorschlag national zu profilieren. Ich meine: Jeder Schüler sollte den Text der Nationalhymne, also der  dritten Strophe des Deutschlandliedes, kennen. Dass man im Laufe seines Lebens die Nationalhymne mal gesungen haben sollte, dem könnte ich durchaus etwas abgewinnen. Vielleicht sollten Schüler auch den ganzen Text des Deutschlandliedes kennen – um darüber ein kritisches Urteil fällen zu können. Das  Deutschlandlied hat eben auch Stellen, die sehr unheilvoll gewirkt haben.

News4teachers: Sollte es zur Pflicht gemacht werden, dass Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Schulzeit einmal eine KZ-Gedenkstätte besuchen?

Bongertmann: Wir sind dafür, dass die meisten Schüler in ihrer Schulkarriere eine Gedenkstätte zur Gewalt im 20. Jahrhundert besuchen – dazu gehören auch Gedenkstätten zur DDR-Geschichte. Das ist sehr zu empfehlen und sehr zu unterstützen und die Länder sollten uns auch Gelder zur Verfügung stellen, um das allen Schülern zu ermöglichen, denn man darf das nicht nur fordern, man muss es auch finanzieren. Andererseits haben wir die Erfahrung, gerade aus der DDR, dass der erzwungene Besuch von vielen Menschen als oktroyiert und fremdbestimmt wahrgenommen wird, sodass die Wirkung in das Gegenteil der beabsichtigten umschlagen kann.

News4teachers: Also Prinzip Freiwilligkeit – aber die Angebote ausbauen. Das wäre Ihr Ansatz?

Bongertmann: Ja. Es ist absolut wünschenswert, wenn ein hoher Erfüllungsgrad erreicht wird, aber die Teilnahme sollte freiwillig bleiben. Das Angebot ist in der Regel attraktiv und interessiert viele Schüler, aber wenn Zwang ins Spiel kommt, dann gibt es immer solche, die das dann aus Prinzip ablehnen müssen. Übrigens auch bei den Lehrern: Wenn Sie die Lehrer zwangsweise in die Gedenkstätten schicken, kommt da auch nichts Gutes heraus. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

AfD-Größe Höcke (selbst Geschichtslehrer von Beruf): Schulen machen deutsche Geschichte „mies und lächerlich“ – wegen Holocaust-Gedenkens

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