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Das Verfahren von Köln stellt das frühere Förderschulsystem vor Gericht: Wie viele Kinder wurden fälschlicherweise ausgesondert?

KÖLN. Wenn das aktuelle Urteil des Landgerichts Köln auch in der nächsten Instanz Bestand hat – und ein zweites Verfahren wird’s angesichts der Bedeutung zweifellos geben –, dürfte eine Klagewelle auf die Bundesländer zurollen. Nichts Geringeres als das frühere Förderschulsystem steht dann vor Gericht: Wurden Kinder wie Nenad M., dem fälschlicherweise eine geistige Behinderung attestiert wurde (News4teachers berichtete), systematisch auf Sonderschulen geschickt, um deren Betrieb auszulasten? Der Verdacht besteht, dass sich hier ein System selbst am Leben erhalten hat – und er ist seit dem heutigen Urteil auch begründet.

Ein Junge aus Mecklenburg-Vorpommern trägt ein deutlich größeres Risiko, auf der Förderschule zu landen, als ein Mädchen aus Niedersachsen. Foto: Shutterstock

„Die sonderpädagogischen Gutachten, die eine Lern- und Entwicklungsstörung ausweisen und als Grundlage für die Überweisung an eine Förderschule dienen, haben ja keine naturwissenschaftliche Evidenz“, sagt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Vereins „Mittendrin“, gegenüber News4teachers. Fehler seien möglich – und Elternvereine hätten auch immer wieder mit Beschwerden betroffener Eltern zu tun.

In der Vergangenheit, vor Einführung der Inklusion in Nordrhein-Westfalen vor vier Jahren also, habe sich niemand für deren Recht auf eine freie Schulwahl interessiert. Entsprechend weitreichend seien die Folgen eines solchen Gutachtens, so Thoms – es präge Bildungskarrieren (und damit Lebenschancen) dauerhaft. Auch heute noch. Zwar besteht mittlerweile formal kein Förderschulzwang mehr. Doch Kinder, die einmal auf einer Sonderschule gelandet seien, bekämen dort lediglich einen reduzierten Lernstoff geboten. Nenad M. beispielsweise durfte kein Englisch lernen, obwohl er durchschnittlich intelligent ist. Thoms fragt: „Wie sollen solche Kinder und Jugendliche dann jemals den Sprung auf eine Regelschule schaffen?“

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Die Elternvertreterin hat NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) aufgefordert, prüfen zu lassen, ob und wie viele weitere ähnliche Fälle an den Förderschulen im Land auszumachen sind – und zwar von unabhängigen, externen Gutachtern. Tatsächlich besteht der Verdacht, dass das Problem systemimmanent ist. „Die Sonderpädagogik ist auf die Existenz von separaten Sonderschulen ausgerichtet“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Lisa Pfahl von der Universität Innsbruck in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.

Die Professorin mit dem Schwerpunkt „Disability Studies“ betont: „Ich kritisiere die sonderpädagogische Diagnostik, weil sie zu einem sehr frühen Zeitpunkt greift, weil sie einmalig stattfindet und regelmäßig zur Sonderschulüberweisung führt. Damit entscheidet sie über die gesamte Bildungskarriere und steht dem Prinzip der Entwicklungsoffenheit entgegen. Es ist zwar vorgesehen, dass Lehrkräfte an Sonderschulen die Kinder weiterhin beobachten und sie wieder an eine Regelschule zurückführen, wenn sich ihre Leistung bessert. Aber das passiert quasi nie. Für gewöhnlich verbleiben die Kinder an den Sonderschulen und anschließend in Sonderarbeitswelten.“

“In der Regel gehalten”

Ein weiteres Problem sei, so Pfahl, dass Kinder an Sonderschulen nicht auf allgemein qualifizierende Abschlüsse vorbereitet werden – wie sollten sie da jederzeit die Schule wechseln können? „Regelschullehrkräfte fühlen sich schnell überfordert, wenn sie diese Schüler aufnehmen. Noch dazu ist es ja so: Sonderschulen brauchen Schüler, damit sie nicht geschlossen werden. Jeder Schüler, der einmal da ist, wird in der Regel auch gehalten“, sagt die Expertin.

Ein Hinweis darauf, dass die Überweisungen auf Sonderschulen häufig mehr dem Bedarf des Systems als den Bedürfnissen der Kinder entspricht, sind auch die extrem unterschiedlichen Förderquoten in den Bundesländern, also die Anteile der Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Spannweite reichte im Schuljahr  2013/14 von 5,3 Prozent in Niedersachsen bis hin zu 10,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. Gibt es im Nordosten Deutschlands also tatsächlich doppelt so viele behinderte und verhaltensgestörte Kinder als in Niedersachsen? Wohl kaum. Dass bundesweit fast zwei Drittel der Förderschüler Jungen sind, lässt sich ebenfalls kaum mit geistigen Einschränkungen erklären. Auch Kinder nicht-deutscher Herkunft sind in Förderschulen deutlich überrepräsentiert.

Pfahl: „Mit einer natürlichen Verteilung von Intelligenz lässt sich das nicht erklären, eher mit institutioneller Diskriminierung. Die Muttersprache spielt eine Rolle; vor allem aber die soziale Situation, in der die Kinder aufwachsen: Kinder aus ökonomisch benachteiligten Familien sind das Hauptklientel von Sonderschulen, weil die Eltern sich nicht gegen die Schulüberweisungen zur Wehr setzen können oder inklusive beziehungsweise integrative Schulplätze fehlen.“ bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

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