Scheitert die Inklusion? Ein Lehrer (und betroffener Vater) ruft Kollegen und Politik auf: Krempeln wir die Ärmel hoch!

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DÜSSELDORF. Heiß umstritten in Deutschland: die Inklusion. Auch auf News4teachers tobt der Streit. Dem Gymnasiallehrer und Buchautor Michael Felten („Die Inklusionfalle“), der auf die Defizite der praktischen Umsetzung verweist, hat der renommierte Experte Prof. Hans Wocken in seiner dreiteiligen Serie eine „Pädagogik der Vielfalt“ entgegengehalten. Eine dritte Position vertritt nun Gastautor Tillmann Nöldeke. Er kritisiert die unzulängliche Praxis, verliert das Ziel aber nicht aus den Augen. Kein Wunder. Nöldeken weiß, wovon er schreibt: Er ist selbst Lehrer – und betroffener Vater. Hier ist Teil zwei seiner Replik auf Wocken.

Hier geht es zu Teil eins: Das Scheitern der Instant-Inklusion.

Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern ist ein Wert an sich. Foto: Shutterstock
Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern ist ein Wert an sich, benötigt aber Ressourcen. Foto: Shutterstock

Gute Schule 21

Nach der Bruchlandung der Schmalspur-Inklusion ist allerdings die Frage, ob Inklusion überhaupt geht in der Schule, aktueller denn je. Ihre Anhänger können darauf verweisen, dass es viele Gegenden dieser Erde gibt, in denen weit inklusivere Zustände an den Schulen herrschen als bei uns. Darunter auch Länder, die beispielsweise bei PISA deutlich besser abschneiden als wir. Allerdings gibt eine Prozentzahl in der Statistik wenig Aufschluss darüber, was sich dahinter verbirgt, und die Bildungssysteme in anderen Ländern unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den hiesigen Verhältnissen.

Deshalb ist es von so großer Bedeutung, ob es auch hierzulande Beispiele gibt, wo es nachweislich klappt mit der Inklusion. Wahrscheinlich gibt es diese Leuchttürme: Die Jacob-Muth-Preisträgerschulen belegen jährlich inklusive Fortschritte und sollen Mut machen, ihnen nachzueifern. Wer diesen Nachweis allerdings wissenschaftlich haben will, muss bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgehen – in eine Zeit, als es Inklusion noch gar nicht gab, wohl jedoch »gemeinsamen Unterricht«. Damals begleitete die deutschsprachige Forschung die ersten integrativen Schulversuche an einzelnen Schulen. Dabei wurden die Akteure (Eltern, Lehrer, Schüler) befragt, Schulkonzepte analysiert, Unterricht beobachtet und Schulleistungen getestet.

Insgesamt wird dabei empirisch gut belegt ein überwiegend sehr positives Bild der schulischen Integration in diesen Schulen gezeichnet. Wer ähnliche Schulen kennt, vermag hinter der spröden Beschreibung des Wissenschaftlers durchaus das Versprechen auf bessere Schule für alle zu erkennen. Auf eine Schule, die ihre Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt zu absoluten Höchstleistungen in den Abschlussprüfungen trimmt, dafür aber ihre individuellen Talente fördert und ihnen die Neugierde auf diese Welt erhält. Eine Schule, in der die Kinder erleben können, dass sich unterschiedliche Begabungen und Stärken tatsächlich ergänzen können und Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber dem Anderen und dem Anderssein normal sind. Eine Schule, in der der Slogan »Kein Kind zurücklassen« nicht leere Floskel, sondern gelebte Selbstverständlichkeit ist und die so letztlich die jungen Menschen auf ein selbstbestimmtes, aktives und verantwortliches Leben in einer pluralen Gesellschaft ziemlich gut vorbereitet.

Wichtig ist zur Beurteilung der Ergebnisse jedoch, sich die besondere Situation der hier untersuchten Schulen klar zu machen. Es sind Schulen mit einem offenbar recht hohen Anteil von Kindern aus bürgerlich-bildungsnahen Schichten. Die Integration wurde dort von engagierten Eltern erkämpft und von einer Pioniergeneration von Lehrern als Aufgabe angenommen und mit großem persönlichen Einsatz verwirklicht, unter personellen Ressourcen, von denen heute die Pädagoginnen und Pädagogen nur noch träumen können. Auf solchen Forschungsergebnissen fußt also der Optimismus der Inklusionsfreunde. In der Tat beweisen sie, dass auch hierzulande gemeinsames Lernen gelingen kann! Schon damals war aber ebenso klar: Das geht nicht von allein. Es ist harte Arbeit, und sie erfordert bestimmte Voraussetzungen.

Inklusion: Ganz oder gar nicht

Inklusion ist in Verruf geraten. War das Ganze ein riesengroßer Irrtum? „Geht“ Inklusion einfach nicht? Oder ist an dem schlechten Image eher eine gewisse Hysterie der Skeptiker schuld, gepaart mit mangelndem Veränderungswillen in den Schulen? Tillmann Nöldeke zeigt in seinem Buch „Inklusion: Ganz oder gar nicht“ auf, woran Inklusion „krankt“ und wie sie gelingen kann. Hier lässt sich das Buch bestellen oder herunterladen (kostenpflichtig).

Der Befund ist erschreckend: Jenseits der Schulversuche in den Pionierjahren sind Schulen nachweislich schlecht vorbereitet auf Inklusion und verfügen über mangelhafte Ressourcen und Konzepte. Individuelle Förderung ist nicht Regel, sondern Ausnahme.
Nach der Bruchlandung solcher „Inklusion light“ braucht es dringend die Strategie einer „Inklusion 3.0“, die ein gewinnbringendes gemeinsames Lernen für alle Kinder an sehr vielen Schulen ermöglicht. Tillmann Nöldeke gibt hierzu Antworten mit Blick auf Ziele, Ressourcen und Change-Management.

Erfolgsgeschichten wie diese wurden aber im Laufe der Zeit verallgemeinert – bereits der offizielle Abschlussbericht zu den integrativen Schulversuchen in der Grundschule des Landes NRW nennt den Erziehungswissenschaftler Dieter Dumke als Kronzeugen für gelingende Integration. Seine Erkenntnisse gelten jetzt nicht mehr für 20 bis 25 Kinder mit Förderbedarf an zwei Schulen, sondern für die im Jahr 1994 insgesamt 1336 integrativ unterrichteten Förderschüler in ganz NRW. Die speziellen Bedingungen des ursprünglichen Schulversuchs traten dagegen seltsamerweise allmählich ganz in den Hintergrund.

Diese Ausgangslage verleitet Inklusionsfreunde bis heute leicht zu der fatalen Fehlinterpretation, dass der Erfolg des gemeinsamen Unterrichts behinderter und nicht behinderter Kinder ganz allgemein »empirisch gesichert« sei. So konnte es letztlich zu jenen inklusiven Bemühungen kommen, die in der Tat allenfalls »gut gemeint« waren (Felten 2017), de facto aber geradewegs in die Misere führten.

Diese Art von Inklusion war kein Experiment, sondern ein Scheitern mit Ansage. Was ist nun also zu tun? Um es mal salopp auszudrücken: Version 1.0 war klein, aber im Ganzen ziemlich fein und nannte sich noch Integration. Version 2.0 war groß gedacht, aber schlampig und falsch programmiert. Den Anwendern machte sie mehr Ärger als Freude. Jetzt muss schleunigst Version 3.0 her: Ein Programm, das im Gegensatz zur alten Integration darauf abzielt, so viele Kinder wie möglich zu erreichen, dabei jedoch handwerklich solide gemacht ist und bescheiden genug in seinen Ansprüchen, um diese auch erfüllen zu können. Matrix für diese Version muss die simple Formel sein:

  • Inklusion verspricht dann bessere Bildung für viele, wenn wir die Schulen für diese Aufgabe ausreichend ausstatten und die Akteure gut darauf vorbereiten.

Inklusion kann zweifellos gelingen. Aber um das „Lernen im Gleichschritt“ zu überwinden, das an jeder (!) deutschen Regelschule ein großes Handikap für Inklusion darstellt, brauchen die Schulen nicht nur deutlich mehr Ressourcen, sondern auch neue Ideen, viel pädagogische Freiheit und gelungene Vorbilder, denen sie tatsächlich nacheifern können. Die von Wocken zu Recht besungene „Didaktik der Vielfalt“ ist ja noch keineswegs Realität in unseren Klassenzimmern. Auf der politischen Ebene brauchen wir endlich klare Zielvorgaben und eine realitätsnahe Roadmap, um diese zu erreichen. Wenn sich das inklusive Lernen durchsetzen soll, muss es für alle Beteiligten attraktiv werden. „Inklusiv“ muss zum Prädikat einer modernen, kindgerechten Schule werden.

Inklusion gibt’s nicht umsonst, aber sie ist keineswegs unbezahlbar. Sie ist machbar, aber politisch, gesellschaftlich und pädagogisch wohl kaum für alle Schulen durchsetzbar. Denn unser selektierendes Schulsystem ist schließlich auch Spiegel unserer exkludierenden Gesellschaft. Die Lösung ist jedoch nicht, überall ein bisschen gemeinsames Lernen zu machen. Instant-Inklusion (billig, schnell angerührt, fad im Geschmack und am Ende ziemlich ungesund) schadet unseren Kindern.

Der Sozialpsychologe Rolf Haubl schreibt: „Sich […] zu vergegenwärtigen, wie unwahrscheinlich eine selbstverständliche Inklusion von behinderten Menschen ist, hilft, das Ausmaß der notwendigen Anstrengungen zu ermessen und mit ständigen Rückschlägen zu rechnen.“ (Haubl 2015, S. 112)

Krempeln wir also die Ärmel hoch. Seien wir beharrlich, aber gleichzeitig behutsam und geduldig. Gestehen wir uns die Rückschläge ein, um daraus zu lernen. Damit nicht am Ende ausgerechnet diejenigen verletzt werden, in deren Namen wir den Kampf für mehr inklusive Normalität führen.

Hier geht es zu Teil eins: Das Scheitern der Instant-Inklusion.

Der Autor

Tillmann Nöldeke ist verheiratet und hat zwei Kinder – eines davon ist Inklusionskind. Das Thema Inklusion beschäftigt ihn nicht nur privat, sondern auch beruflich – als Lehrkraft für Biologie und Philosophie mit langjähriger Erfahrung im „inklusiven“ Alltag einer Brennpunktschule und als freier Journalist. Er ist Mitglied im Verband Sonderpädagogik (vds).

Die “Instant-Inklusion” ist gescheitert! Ein Lehrer (und betroffener Vater) antwortet auf die Streitschrift von Wocken

 

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omg
5 Jahre zuvor

„Optimismus“ der Inklusionstheoretiker hören wir seit nunmehr 10 Jahren. „Realismus“ für die nächsten 10 Jahre wäre toll.

omg
5 Jahre zuvor

Nach 10 Jahren „Optimismus“ wären jetzt aber mal 10 jahre „Realismus“ dran….

Marek
5 Jahre zuvor

Eine differenzierte Perspektive mit einer guten Botschaft der Inklusion 3.0. Vielen Dank dafür!

Palim
5 Jahre zuvor
Antwortet  Marek

Dem schließe ich mich an. Danke!

sofawolf
5 Jahre zuvor

Ach, du liebe Zeit … Inklusion, Inklusion, Inklusion … ist denn nicht schon alles gesagt dazu?

Wieso gibt es denn zu manchen Themen hier jeden Tag einen Artikel (ohne wirklichen Neuheitswert)?

Emma Keeboo
5 Jahre zuvor

Vielen Dank für diesen Artikel.
Er zeigt einen Weg, indem die Fehlinterpretationen der Vergangenheit und Gegenwart klar benannt werden und ein möglicher Weg für die Zukunft, die inklusive Zukunft, aufgezeigt wird. Ich selber habe in Integrationsklassen unterrichtet (so hießen die in Niedersachsen) und war von dem Konzept begeistert. Im Team arbeiten, mit der notwendigen Unterstützung, so kann es gelingen.

OlleSchachtel
5 Jahre zuvor

Bin gespannt auf Inklusion 3.0. Nach der Umsetzung von 2.0 zweifle ich am Wille der Politik sie tatsächlich umzusetzen. Mache die Bedingungen so schlecht, dass es scheitern muss.