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Der Fall Nenad zeigt auf: Das sonderpädagogische Verfahren bedarf einer echten Reform – ein Kommentar

KÖLN. Der Fall von Nenad M. schlägt Wellen: Der heute 21-Jährige musste seine Schulzeit an einer Förderschule für geistige Behinderung verbringen – obwohl es Indizien gab, dass er dort komplett unterfordert war. Das Landgericht Köln entschied nun, dass der junge Mann Anspruch auf Entschädigung durch das Land Nordrhein-Westfalen hat (News4teachers berichtete). Die Geschichte wirft ein neues Licht auf die Debatte um die Inklusion. News4teachers-Gastkommentator Tillmann Nöldeken zieht daraus die Schlussfolgerung: “Das sonderpädagogische Verfahren bedarf unbedingt einer echten Reform.” Nöldeken ist Experte: Er ist Lehrer, Buchautor zum Thema (“Inklusion: Ganz oder gar nicht”) – und selbst betroffener Vater.

“Entscheidungen, die das ganze Leben eines Menschen prägen können, werden mit sehr viel Ermessensspielraum und sehr wenig Transparenz oder gar Mitspracherecht der Betroffenen gefällt.” Foto: Shutterstock

Der Fall Nenad ist ein handfester Skandal, der zwar nicht das Versagen der Förderschule zeigt, wohl jedoch ein grelles Licht wirft auf die Schwächen des amtlichen Etikettierens: Entscheidungen, die das ganze Leben eines Menschen prägen können, werden mit sehr viel Ermessensspielraum und sehr wenig Transparenz oder gar Mitspracherecht der Betroffenen gefällt – noch dazu von Menschen, die bezüglich des Ergebnisses keineswegs interesselos sind. Eine Förderschule für Geistige Entwicklung möchte ihre »starken« Schüler ganz offensichtlich nicht gerne verlieren, eine Regelschule hingegen wünscht sich »pflegeleichte« Fälle, deren Förderbedarf gleichwohl maximale Ressourcen nach sich zieht.

Nur so ist es beispielsweise zu erklären, dass Max seit Jahr und Tag als körperbehindert eingestuft ist, obwohl seine motorischen Schwierigkeiten nur von einem geschulten Auge überhaupt wahrnehmbar sind, während seine verminderte Intelligenz und sein Verhalten keineswegs unauffällig sind. Wäre er als LES-Kind deklariert worden, hätte die Schule keine Minute zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung erhalten – so stehen ihr theoretisch immerhin knapp fünf Lehrerstunden zu. Zur Debatte stand außerdem, ihn für geistig behindert zu erklären, wogegen sich die Eltern erfolgreich wehrten. Nur das Naheliegende wurde seltsamerweise nie in Erwägung gezogen: Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, Bildungsgang Lernen.

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Im Alltag des gemeinsamen Lernens zieht das eher seltsame Label für Max jedoch allenfalls nach sich, dass er die von ihm geliebte wöchentliche Stunde beim Physiotherapeuten leichter genehmigt bekommt. Und aus Sicht der Schule kann die Praxis sachferner Etikettierung durchaus als Notwehr im Interesse der Kinder gewertet werden. Dass solche Tricks möglich sind, kann indes keineswegs befriedigen.

Inklusion: Ganz oder gar nicht

Inklusion ist in Verruf geraten. War das Ganze ein riesengroßer Irrtum? „Geht“ Inklusion einfach nicht? Oder ist an dem schlechten Image eher eine gewisse Hysterie der Skeptiker schuld, gepaart mit mangelndem Veränderungswillen in den Schulen? Tillmann Nöldeke zeigt in seinem Buch “Inklusion: Ganz oder gar nicht” auf, woran Inklusion „krankt“ und wie sie gelingen kann. Hier lässt sich das Buch bestellen oder herunterladen (kostenpflichtig).

Der Befund ist erschreckend: Jenseits der Schulversuche in den Pionierjahren sind Schulen nachweislich schlecht vorbereitet auf Inklusion und verfügen über mangelhafte Ressourcen und Konzepte. Individuelle Förderung ist nicht Regel, sondern Ausnahme.
Nach der Bruchlandung solcher „Inklusion light“ braucht es dringend die Strategie einer „Inklusion 3.0“, die ein gewinnbringendes gemeinsames Lernen für alle Kinder an sehr vielen Schulen ermöglicht. Tillmann Nöldeke gibt hierzu Antworten mit Blick auf Ziele, Ressourcen und Change-Management.

Abhilfe wäre hier vergleichsweise einfach möglich: Warum wird das sonderpädagogische Verfahren nicht neutralen Stellen übergeben – bei der Einschulung beispielsweise dem Gesundheitsamt, später dem Jugendamt? Das Kind, die Pädagogen, die Eltern könnten dann vor dem Hintergrund der fachdiagnostischen Ergebnisse angehört werden, um schließlich nach klaren Kriterien im Sinne des Kindes ohne eigene Interessen zu entscheiden. Offensichtlich will sich aber die Schulbürokratie das Verfahren nicht entreißen lassen. Erschwerend kommt hinzu, dass dadurch zusätzliche Kosten entstehen würden.

Fragwürdig ist aber nicht nur das Prozedere der Etikettierung. Zweifelhaft sind auch die Etiketten selbst: Sie richten sich ja nach den verschiedenen, nur historisch erklärbaren Arten von Förderschulen, für die die Kinder irgendwie passend gemacht werden müssen. Den Stempel »geistig behindert« braucht in der Tat niemand. Statt überwiegend fiktive Förderschwerpunkte festzulegen, sollten die einzelnen Baustellen der Kinder identifiziert und danach der nötige pädagogische Aufwand abgeschätzt werden, um sie zu bearbeiten. Ohne differenzierte Intelligenzdiagnostik wird das bei vielen Kindern mit größeren Schulschwierigkeiten auch künftig nicht gehen. Denn um einem Kind adäquat helfen zu können, muss ja erstmal verstanden werden, welche Hilfe es überhaupt braucht. Im gemeinsamen Lernen ist das vielleicht noch wichtiger als in der Förderschule. Für eine Sonderpädagogin ist es normal, individuell auf ihre Schüler zu sehen, sie weiß dank ihrer fundierten Ausbildung auch, welche Vielzahl an Ursachen es geben kann, weshalb ein Kind nicht in üblicher Weise und im schulisch vorgegebenen Tempo lesen und rechnen lernt. Der Regelschulkollege ist da schlicht überfordert ohne qualifizierte Hinweise, selbst wenn er noch so engagiert ist.

Vier Dinge scheinen mir im (bestenfalls) präinklusiven Zeitalter für Kinder mit Handicap unerlässlich:

  1. der amtliche Stempel »besonders förderbedürftig«,
  2. ein definierter Umfang zusätzlicher Ressourcen, die dem Kind zustehen,
  3. die Erlaubnis, vom Curriculum der Regelschule abzuweichen, falls das nötig erscheinen sollte,
  4. eine differenzierte Diagnostik als Grundlage für jede sinnvolle individuelle Förderung und besondere Pädagogik.

Es ist keineswegs prinzipiell unmöglich, den Bedarf an besonderer pädagogischer Förderung für ein Kind qualitativ hochwertig und rechtsstaatlich einwandfrei festzustellen, und ganz gewiss ist das nicht »überflüssig«. Es ist schlicht eine Durchsetzungsfrage. Nicht jegliche Etikettierung ist zu bekämpfen, sondern schlechte Etiketten, die den Kindern in einem höchst zweifelhaften Verfahren verpasst werden.

Der Autor

Tillmann Nöldeke ist verheiratet und hat zwei Kinder – eines davon ist Inklusionskind. Das Thema Inklusion beschäftigt ihn nicht nur privat, sondern auch beruflich – als Lehrkraft für Biologie und Philosophie mit langjähriger Erfahrung im „inklusiven“ Alltag einer Brennpunktschule und als freier Journalist. Er ist Mitglied im Verband Sonderpädagogik (vds).

Das Verfahren von Köln stellt das frühere Förderschulsystem vor Gericht: Wie viele Kinder wurden fälschlicherweise ausgesondert?

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