HANNOVER. Der Begriff „Disziplin“ ist mit dem dunkelsten Kapitel der Geschichte der Pädagogik verbunden und seither verpönt. Dabei ist sie auch die elementare Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens – und unumgänglich, wenn das Zusammenleben und -lernen in der Schule gelingen soll. Sagt ein Experte: Prof. em. Dr. Manfred Bönsch, einer der renommiertesten Erziehungswissenschaftler in Deutschland. Sein “Plädoyer für die Disziplin”, das wir hier in Auszügen veröffentlichen, ist in vollständiger Form in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift “Grundschule” enthalten.
Ein Plädoyer für die Disziplin
Das Wort „Disziplin“ stammt wie so vieles aus dem Lateinischen (disziplina, disziplinare) und meint einerseits einen Wissenschaftszweig beziehungsweise ein Fach und andererseits ein auf Ordnung bedachtes Verhalten, bewusste Einordnung oder Unterordnung. Wer sich diszipliniert verhält, ist an Einordnung gewöhnt, ist beherrscht und korrekt, lässt sich nicht gehen. Es wird auch von innerer Zucht gesprochen oder es ist das Einhalten einer äußeren Ordnung gemeint, die jemand einhalten soll beziehungsweise will. Wichtig ist, dass Disziplin keinen Selbstzweck hat, sondern höheren Werten und Normen dienen soll wie beispielsweise Respekt, Freundlichkeit, Achtung vor der Würde des Anderen und den Regeln des Zusammenlebens, der Arbeit, des Spiels, des Verkehrs und eines entsprechenden Sprachgebrauchs. Disziplin ist die Voraussetzung für erfreuliche Verhältnisse in fast allen Lebensbereichen (z. B. Familie, Schule, Beruf, Sport; Böhm 1994).
Historische Bezüge
Während früher der Begriff der Disziplin unbestritten war – er gehörte wie selbstverständlich zu einer autoritativ orientierten oder gar autoritären Pädagogik –, ist er seit den 60er/70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr und mehr infrage gestellt worden und wurde dann fast zu einem Tabuthema. Im Zuge reformorientierter Pädagogik, antiautoritärer Pädagogik, gar Antipädagogik (von Braunmühl 1983; von Schönebeck 1982) wurde Disziplin zum Signum für Unterordnung, Unterdrückung, die tunlichst aufzuheben sei. Erziehung sei immer eine Art von Imperialismus, es könne nur Freundschaft mit Kindern und Jugendlichen geben! Das Kind müsse sich frei entwickeln können und dann würde alles gut werden. Noch Anfang des 21. Jahrhunderts verursachte die Schrift von Bueb „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006) einen Aufschrei. Da war sie wieder, die schwarze Pädagogik! Bis heute sind die Unsicherheiten derer, die mit Erziehung zu tun haben, geblieben. Autoritär möchte man auf keinen Fall sein, aber so ganz ohne Regeln kann der Alltag zu einem Albtraum werden. Was könnte/müsste das Richtige sein?
Negative und positive Deutung
In der Tat gibt es einen negativen Disziplinbegriff. Wenn Unterordnung rigide durchgesetzt, gar blinder Gehorsam gefordert wird, regt sich Widerstand. In sehr autoritären Regimen, beim Militär, in Gefängnissen herrscht Machtausübung vor. Wer sich ihr widersetzt, wird hart bestraft, gar gefoltert, im schlimmsten Fall getötet. Goffmans Wort von der totalen Institution – er denkt zum Beispiel an Gefängnisse, an die Psychiatrie, auch an die Schule (die Schule als Zwangsanstalt) – meint ein hartes und nicht hinterfragbares Unterwerfungsszenario, in dem das Individuum seine Würde, sein Ich verliert und zum bloßen Objekt der Gewaltausübung wird. Wenn ein Machtmonopol überstrapaziert wird, regt sich berechtigter Widerstand bei den Unterdrückten. Das Individuum will einen Rest von Selbstbestimmung und Würde. Es gibt in einer milderen Form auch das Phänomen der Überdehnung von Disziplinierungsmaßnahmen und damit eine Überforderung. Genauso kann übrigens der Freiheitsrahmen überdehnt werden. Das kann man erkennen, wenn Kinder in der Grundschule sagen: Müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?
Der Text erschien zunächst in der Ausgabe “Gemeinsam erziehen” der Zeitschrift “Grundschule”. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).
Die Arbeit als Lehrkraft umfasst deutlich mehr Aufgaben als nur den reinen Unterricht. Zum Gesamtpaket gehört etwa die Kooperation mit den Erziehungsberechtigten – nicht selten eine enorme Herausforderung. Trotzdem: Eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus ist von entscheidender Bedeutung – nicht nur für den Lernerfolg des einzelnen Kindes, sondern auch für einen erfolgreichen Unterricht. In diesem Heft bieten wir Ihnen daher Anregungen aus der Theorie und vor allem der Praxis, wie Lehrkräfte Eltern für Ihre Anliegen gewinnen können. Dabei reichen die Impulse von umfassenden Konzepten bis hin zu alltagstauglichen Tipps – und sie zeigen, dass besonders vier Aspekte für eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft ausschlaggebend sind.
Aber dann gibt es eben auch einen positiven Disziplinbegriff. Disziplin ist eine elementare Bedingung menschlichen Zusammenlebens. Der reibungslose Verkehr wird beispielsweise nur dadurch aufrechterhalten, dass sich Verkehrsteilnehmer an die Vorgaben der Straßenverkehrsordnung halten. Spiel macht nur Spaß, wenn sich alle an die Regeln halten. Hochleistungen unterliegen sehr strengen Disziplinierungen (Talent macht 50 % aus, die anderen 50 % sind Mühe und Training!). Klare Regularien geben auch Sicherheit, Verlässlichkeit und Entspannung. Nichts ist schlimmer, als die Welt jeden Tag neu erfinden zu müssen. Sprache ohne Vereinbarungen für den Sprachduktus und die Wortwahl wird schnell zur Belastung, kann verletzend wirken. Zwischenmenschliche Beziehungen, die nicht von Respekt und Rücksichtnahme gekennzeichnet sind, stellen eine Belastung dar. Ein Gemeinwesen ohne akzeptierte Regularien führt zu chaotischen Egotrips. Und Lernen ohne Disziplin führt nicht weit. Leistung ist mit Mühe und Arbeit verbunden und das heißt, Selbstdisziplin zu üben.
Wo immer erfreuliche und bereichernde Beziehungen vorhanden sind, kann sich ein Individuum entfalten. Die Beziehungskultur einer Schule schafft Wohlbefinden. Dann kann man an Herausforderungen wachsen, aber jeder muss sich eben auch an die Regularien halten können, sich disziplinieren können. Wenn Regeln, Routinen, Rituale und Reviere eine äußere Ordnung schaffen, kann sich das eventuell noch vorhandene innere Chaos verlieren. Insofern sind Vereinbarungen, Abmachungen, Verträge interpersonell wichtig und ein akzeptabler Disziplinierungsrahmen (Ordnungen, Strukturen, feste Abläufe).
Die Wege zur Disziplin
Wenn also der positive Begriff von Disziplin akzeptiert werden kann, weil er so wichtig ist, erhebt sich die Frage, wie er angesichts häufig widriger Verhältnisse angestrebt werden soll. In der Familie wie in jeder Klasse ist die Besprechung und Festlegung von Regeln wichtig. Wenn die Kinder sie als sinnvoll ansehen oder sie sogar mitformulieren dürfen, können sie sie am ehesten einhalten. Und selbst, wenn sie sie inhaltlich nicht ganz akzeptieren, können sie sie eventuell als Kompromiss verschiedener Interessen sehen und befolgen. Grundsätzlich muss der Sinn von Regeln und Abmachungen ersichtlich sein. Häufig wird Spielraum dafür da sein, Ideen und Alternativen aufzunehmen. Aber wenn eine Verabredung – quasi ein Vertrag – beschlossen ist, gilt sie und muss von jedem befolgt werden. Regeln sind veränderbar, solange sie aber gelten, sind sie einzuhalten. Konsequenz ist ein wichtiges Element auf dem Weg zur Disziplin. Die kommunikative Klärung von Regeln und Vorschriften hat den Vorteil, dass Erwachsene sich als Anwalt beschlossener Regeln verstehen können, das Bestehen auf ihrer Einhaltung nicht mehr als Willkür und Machtausübung verstanden zu werden braucht. Das hilfreiche Gerüst der schulischen Ordnung und der geregelten Tagesabläufe stabilisiert den Handlungsrahmen.
Ausgehend von diesem Grundansatz kann man dann flexibel mit dem Postulat „Pflichten und Regeln einhalten“ umgehen. Häufig reichen ja schon Erinnerungen an Vereinbarungen. Aber es gibt eben auch Situationen, in denen die Ermahnungen dringlicher werden. Eine Gruppe von Disziplinlosigkeiten (aggressive Beschimpfungen, körperliche Gewalt, Diebstahl) ist streng zu untersagen.
Prof. em. Dr. Manfred Bönsch lehrte Schulpädagogik an der Universität Hannover. Nach dem Abitur absolvierte er zunächst ein PH-Studium, um dann sechs Jahre lang als Lehrer an Grund- und Hauptschulen tätig zu sein. Sein Zweitstudium schloss er mit dem Titel Dr. phil. ab. Er übernahm eine Professur an der PH Berlin, dann an der Universität Hannover. Zwischenzeitlich folgten weitere Rufe an mehrere Universitäten (u.a. Wuppertal und Tübingen). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Heterogenität und Differenzierung, Konzepte der Binnendifferenzierung, Schulsozialarbeit, Förderung selbstständigen Lernens und kompetenzorientierter Unterricht.
Motivaton: Warum Lehrer ihre Schüler nicht loben sollten (sondern ermutigen – und wie das geht)