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Inklusionsschüler unterrichten zu müssen, berührt die pädagogische Freiheit des Lehrers nicht – juristischer Kommentar zum Urteil von Bremen

BREMEN. Der Fall ist beispiellos in Deutschland: Die Leiterin eines Bremer Gymnasiums verklagt ihre Dienstherrin, die Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD). Der Anlass: die Anordnung, eine Inklusionsklasse einzurichten, in die auch Kinder mit geistiger Behinderung aufgenommen werden sollen. In dieser Woche erfolgte das richtungsweisende Urteil: Die Klage wurde abgewiesen. Warum, das erklärt die Wiesbadener Rechtsanwältin und Expertin für Schulrecht Sibylle Schwarz in ihrem Beitrag für News4teachers.

Das Bremer Verwaltungsgericht hat entschieden. Foto: Michael Grabscheit / pixelio.de

Die Schulleiterin des Bremer Gymnasiums Horn hatte sich gegen die dienstliche Weisung „Einrichtung eines inklusiven Klassenverbandes mit 19 regulären Schülern und fünf Kindern mit körperlicher oder geistiger Behinderung“ zur Wehr gesetzt. Vor Gericht hatte sie als Klägerin beantragt, das Verwaltungsgericht möge feststellen,

dass die Ende November 2017 ihr gegenüber mündlich erfolgte Anordnung der Senatorin für Kinder und Bildung der beklagten Stadtgemeinde Bremen, zum Schuljahr 2018/2019 am Gymnasium Horn die Beschulung von fünf Schülerinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Wahrnehmungs- und Entwicklungsförderung in einem inklusiven Klassenverband zu ermöglichen,

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rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.

Unsere Rechtsordnung regelt unmissverständlich: „Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf.“, § 113 Verwaltungsgerichtsordnung. Der rechtswidrige Verwaltungsakt (beispielsweise Bescheid, Zeugnis) und der dadurch in seinen Rechten verletzte Kläger stehen in Relation zueinander. Zwei Punkte, die das Gericht prüfen muss.

Das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2018 entschieden, dass die Klage der Schulleiterin unzulässig sei. Die Klage wurde daher abgewiesen.

1. Wurde die Klägerin in ihren Rechten verletzt?

Eine Verletzung eigener Rechte der Klägerin durch die streitgegenständliche dienstliche Weisung erscheint nicht einmal möglich, urteilten die Richter.  Das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen hat sich in der Urteilsbegründung von 22 Seiten viel Mühe gegeben, an dem Anlass „Einrichtung einer Inklusionsklasse“ auch die rechtliche Stellung einer Schulleitung und einer Lehrkraft von Grund auf zu erklären und deren Klagebefugnis herzuleiten.

In unserem Rechtssystem soll grundsätzlich nur der die Gerichte anrufen und sie um eine Entscheidung in einem Streit bitten dürfen, der selbst betroffen ist. Dies ist dann der Fall, wenn es dem Kläger um die Verwirklichung seiner Rechte gehe, sei es, dass er an dem festzustellenden Rechtsverhältnis selbst beteiligt sei, sei es, dass von dem Rechtsverhältnis immerhin eigene Rechte des Klägers abhängen. Die Beamtin im Amt einer Oberstudiendirektorin, die gegen die Weisung „Einrichtung einer Inklusionsklasse“ ihres Dienstherren klagt, ist nicht selbst in eigenen Rechten betroffen.

Die Klägerin in ihrer Stellung als Lehrerin und als Schulleiterin des Gymnasiums sah sich selbst als „Hüterin“ des Selbstverwaltungsrechts des Gymnasiums an und deswegen zur Abwehr berechtigt. Sie remonstrierte zunächst und klagte sodann. Das Verwaltungsgericht ließ gewissermaßen das Kopfkino anlaufen: Könnte der einzelne Beamte den Ablauf und Vollzug einer in den Bereich seiner Dienstaufgaben fallenden Verwaltungsentscheidung hemmen, wenn er aufgrund einer abweichenden Rechtsauffassung die von ihm weisungsgemäß auszuführende Amtshandlung für “schlicht” rechtswidrig hält, wäre angesichts der Fülle offener und nicht abschließend geklärter Rechtsfragen ein effektives Arbeiten der Verwaltung nicht möglich und damit die Erfüllung der ihr übertragenen öffentlichen Aufgaben ernsthaft gefährdet.

Die weisungsgemäße Amtshandlung solle der Beamte ausführen. Gleichwohl ist der Beamte verpflichtet, auf Bedenken gegen die Zweck- oder Rechtmäßigkeit angeordneter Maßnahmen hinzuweisen. Dass allen Beamten bekannte Remonstrationsverfahren stelle jedoch keinen individuellen Rechtsschutz dar, sondern diene einzig der Haftungsentlastung des Beamten. Denn der Beamte sei verpflichtet, auch rechtswidrige Weisungen auszuführen.

Und zu allem Überfluss sehen sich die Gerichte nicht als zuständig an, wenn innerdienstliche Meinungsverschiedenheiten über die gebotene Art der Aufgabenerfüllung bestehen.

2. Handelte es sich um eine rechtswidrige Weisung?

Der Beamte sei verpflichtet, auch rechtswidrige Weisungen auszuführen. Ob die im Streit stehende dienstliche Weisung an die Schulleiterin des Gymnasiums rechtswidrig sei, musste das Verwaltungsgericht prüfen. Das befasste Verwaltungsgericht hat die streitgegenständliche Weisung auf Einrichtung einer Inklusionsklasse auf Rechtmäßigkeit/Rechtswidrigkeit hin untersucht. Die Inklusion an sich, ein Für Inklusion oder ein Wider Inklusion standen nicht vor Gericht.

Das Verwaltungsgericht sah die streitgegenständliche dienstliche Weisung als rechtmäßig an.

Die Entscheidung über die Einrichtung von Klassenverbänden liegt – wie die Bereitstellung schulischer Ressourcen insgesamt – nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Bremisches Schulverwaltungsgesetz (BremSchVwG) im Ermessen der Beklagten. Danach liegen die Einrichtung, Verlegung und Auflösung von Schulen, die Verlegung von Jahrgangsstufen und Klassen sowie die Einrichtung, Verlegung und Beendigung von Bildungsgängen unter Berücksichtigung pädagogischer und finanzieller Notwendigkeiten im Ermessen der Stadtgemeinden. Schulorganisationsmaßnahmen sagen die Juristen dazu.

Die Senatorin für Kinder und Bildung war befugt, die streitgegenständliche Weisung zu erteilen. Im Rahmen ihrer Organisationsbefugnis ist sie berechtigt, nach pflichtgemäßem Ermessen über die Zügigkeit der einzelnen Schulen und in diesem Rahmen auch über die Einrichtung von Inklusionsklassenzügen zu entscheiden. Diese Organisationsbefugnis folgt aus § 6 Absatz 1 und 2, 4 Absatz 1 und 2 BremSchVwG i. V. m. 17 der Verordnung über die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern in öffentliche allgemeinbildende Schulen (AufnahmeVO). (Seiten 10/11) Könnte jede Schule im Rahmen der Eigenverantwortung entscheiden, wie viele Klassenzüge eingerichtet werden und ob in diesen Klassenzügen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden, wäre es der Beklagen nicht möglich, sicherzustellen, dass sie ihrem staatlichen Bildungsauftrag und dem gesetzgeberisch verordneten Inklusionsauftrag (§ 3 Absatz 4 und § 4 Absatz 5 Bremisches Schulgesetz (BremSchulG)) nachkommen kann. Allein daher haben die Schulen weder Allein- noch Mitentscheidungsrechte in diesen Fragen. (Seite 9)

In seiner Begründung führt das Verwaltungsgesetz zudem den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes an, der verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen. Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen.  Besteht eine Leitentscheidung des Gesetzgebers hinsichtlich wesentlicher Regelungsbereiche, ist es jedoch mit dem Wesentlichkeitsgebot vereinbar, wenn er die weitere Konkretisierung der Verwaltung durch Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften oder der Rechtsanwendung im Einzelfall überlässt. (Seite 12)

In den letzten Jahrzehnten war das Bundesverfassungsgericht mit Schulorganisationsmaßnahmen wie etwa Oberstufe mit der Folge Auflösung des Klassensystems oder Einführung einer (verpflichtenden) Förderstufe befasst worden und hat die oben dargestellten Grundsätze entwickelt.

In der Freien Hansestadt Bremen hat die Bürgerschaft als Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst im (Parlaments-)Schulgesetz getroffen, wonach gilt: Bremische Schulen haben den Auftrag, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln. Sie sollen im Rahmen ihres Erziehungs- und Bildungsauftrages die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder einer Beeinträchtigung in das gesellschaftliche Leben und die schulische Gemeinschaft befördern und Ausgrenzungen Einzelner vermeiden. (§ 3 Absatz 4 BremSchulG).

Die Schulleiterin führte an, dass die betreffenden Regelungen zu allgemein formuliert seien sowie, dass nach der gesetzgeberischen Konzeption ein Gymnasium als Förderort für Schülerinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Wahrnehmungs- und Entwicklungsförderung (W+E-Schüler) nicht in Betracht komme.

Die Richter befanden, dass der sich aus dem Bremischen Schulgesetz ergebende Auftrag zur inklusiven Beschulung auch am Gymnasium umgesetzt werde. An dieser Stelle sei nochmals daran erinnert, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst in einem Parlamentsgesetz zu treffen habe.

Das Verwaltungsgericht erkannte weiterhin darauf: Die Inklusionsschüler werden dementsprechend nicht in dem gymnasialen Bildungsgang zum Abitur, sondern parallel hierzu an den Gymnasien inklusiv auf einem ihren jeweiligen Möglichkeiten entsprechenden Anforderungsniveau (§§ 35 Absatz 1, 9 Absatz 2 BremSchulG) unterrichtet und gefördert. Aufgrund der nicht nur zieldifferent, sondern auch in weiten Teilen – gerade in den Kernfächern – in äußerer Differenzierung erfolgenden inklusiven Beschulung der W+E-Schüler ist nicht ersichtlich, dass – wie von der Klägerin befürchtet – die regulären Schüler des gymnasialen Bildungsgangs das erhöhte Lerntempo wegen Verzögerungen bzw. Störungen durch die W+E-Schüler nicht oder jedenfalls schlechter werden halten können. (Seite 16) Die Ansicht der Klägerin, dass im Rahmen der inklusiven Beschulung an Gymnasien nur solche Schüler aufzunehmen seien, die erwartbar das Abitur erwerben werden, […] wurde zurückgewiesen. Nach der gesetzlichen Konzeption ist es auch für reguläre Schüler, die ausgehend von ihren bisherigen Leistungen nicht erwartbar das Abitur erwerben werden, möglich, Gymnasien zu besuchen. (Seite 17)

Auch zusätzliche Argumente der Schulleiterin ließ das Verwaltungsgericht nicht gelten. Der Gegenstand der Weisung, die Beschulung von fünf Schülerinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Wahrnehmungs- und Entwicklungsstörung in einem inklusiven Klassenverband zu ermöglichen, betrifft weder die Organisation des schulischen Lebens und der Wirtschaftsführung, noch die Qualitätsentwicklung und die Qualitätssicherung des Unterrichts. Die streitige Entscheidung über die Einrichtung eines W+E-Zugs ist diesen Regelungsbereichen vorgelagert. Die der Klägerin durch § 63 Abs. 2 Sätze 3 und 4 BremSchVwG eingeräumte Befugnis betrifft die Gestaltung des „Schulalltags“ und die Qualitätssicherung des Unterrichts im Rahmen der vom Schulträger vorgegebenen Situationen. (Seite 21)

Soweit die Klägerin eine Klagebefugnis damit zu begründen versucht, dass sie als Schulleiterin die Gesamtverantwortung trüge und es ihr daher möglich sein müsse, für rechtswidrig gehaltene Weisungen gerichtlich überprüfen zu lassen, geht diese Argumentation fehl.

Auch der weitere Vortrag der Klägerin, es erfolge ein widerrechtlicher Eingriff in die ihr als Lehrerin zukommende pädagogische Freiheit, überzeugte das Gericht nicht. Denn das Bremische Schulgesetz sehe in § 59 Absatz 1 vor, dass der Lehrer die unmittelbare pädagogische Verantwortung für den Unterricht und die Erziehung der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Gesetze, Rechtsverordnungen, Verwaltungsanordnungen und Entscheidungen der zuständigen schulischen Gremien und Personen, insbesondere der Schulleitung und der Schulleiterin oder des Schulleiters, trage.

Wer die kompletten 22 Seiten des Urteils vom 27.06.2018 mit Aktenzeichen 1 K 762/18 nachlesen möchte, findet sie hier.

Sibylle Schwarz ist Rechtsanwälten bei else.schwarz, einer Kanzlei für Beamtenrecht und Bildungsrecht in Wiesbaden.  https://else-schwarz.de/

Erstes Grundsatzurteil zur Inklusion: Schulbehörde darf Gymnasien zwingen, lernbehinderte Kinder aufzunehmen

 

 

 

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