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“Überfällig”: Philologenverband fordert Umkehr in der Inklusionspolitik – nach dem Vorbild Nordrhein-Westfalens

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HANNOVER. Kinder mit Unterstützungsbedarf könnten in den Regelschulen trotz größter Anstrengungen der Lehrkräfte nicht entsprechend ihrer Behinderungen und Bedürfnisse betreut und gefördert werden – meint der Philologenverband Niedersachsen. „Daher sind zum Wohle der Kinder Korrekturen in der Inklusionspolitik mehr als überfällig“, unterstrich der Verbandsvorsitzende Horst Audritz und verwies in diesem Zusammenhang auf die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, die gerade eine  Neuausrichtung beschlossen habe.

Der Philologenverband forder, die Förderschulen zu erhalten. Foto: Shutterstock

Es gebe genügend Alarmzeichen. Doch das Kultusministerium unter Minister Grant Hendrik Tonne (SPD) und die rot-schwarzen Regierungsparteien in Niedersachsen entzögen sich „weiterhin hartnäckig dringend erforderlicher Konsequenzen“. Dabei würden sie den Eindruck vermitteln, dass sich die schulische Inklusion auch in Niedersachsen in konkretem Wandel und auf einem guten Weg befinde. „So erleben wir, dass der Kultusminister und seine Mitstreiter den zeitlich eng begrenzten Aufschub der endgültigen Abschaffung der Förderschule Lernen sowie den Anstieg der Inklusionsquote an den Schulen als großen Wurf darstellen. De facto betreibt die Große Koalition hier eine gefährliche Augenwischerei auf Kosten von Kindern und Eltern“, kritisiert Audritz.

Mit diesem öffentlichen Herausstellen der kurzzeitigen Verlängerung der Förderschule Lernen bis längstens zum Schuljahr 2027/2028 erwecke Tonne den – fälschlichen – Eindruck, es gebe in der niedersächsischen Inklusionspolitik ein Umdenken und damit eine grundsätzliche Entscheidung für den Erhalt der Förderschulen in einem gegliederten Schulwesen. In Wahrheit sei dieser zeitlich eng begrenzte Erhalt der Förderschule Lernen nur der kleinste gemeinsame Nenner einer ansonsten in der Inklusionspolitik uneinigen Koalition. Zuvor schon hatte die rot-grüne Landesregierung die Förderschule Sprache durch Änderung des Schulgesetzes abgeschafft und nur aufgrund erheblicher Proteste vorhandene Schulen weiter bestehen lassen.

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“Blanker Zynismus”

Vor diesem Hintergrund sei auch die “freudig verkündete” Meldung des Kultusministeriums zum Ansteigen der Inklusionsquote “blanker Zynismus”. „Wenn jetzt allein bei den Förderschulen Lernen von insgesamt 129 Schulen nur noch 51 weitergeführt werden dürfen, bedeutet das die Schließung von 78 Förderschulen dieses Schwerpunktes. Und im August 2022, also schon in vier Jahren, dürfen diese 51 Förderschulen letztmalig Schüler im Jahrgang 5 aufnehmen“, kritisierte Audritz. Schüler, die ansonsten diese Förderschulen in kleinen Klassen mit 9 bis 10 Schülern und unter fachkundiger Betreuung besucht hätten, müssten folglich automatisch auf sogenannte Regelschulen wechseln. Dies habe aber mit Inklusion im Wortsinne nicht das Geringste zu tun. „Wir erleben hier eine Art von Zwangsinklusion ohne Rücksicht auf den Elternwillen und die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder, die auch noch als politischer Erfolg verkauft werden soll. Die schulische Wahlfreiheit der Eltern wird so durch die Hintertür ausgehebelt, und die verbal vielfach bemühte Orientierung am Kindeswohl ist damit nicht mehr als eine Floskel“, so Audritz.

Der Verbandschef forderte: „Im Gegensatz zu den Beispielen anderer Bundesländer, die durch ein echtes Miteinander von Förderschulen und Regelschulen sowie eine konsequente personelle und finanzielle Ausstattung inklusiver Maßnahmen an den Schulen eine wirkliche Trendwende einleiten, gerät Niedersachen bei der Umsetzung der schulischen Inklusion weiter ins Hintertreffen. Die Landesregierung sollte sich hieran ein Beispiel nehmen und ihr Handeln endlich ohne ideologische Scheuklappen auf das Wohl unserer Kinder ausrichten – unabhängig davon, ob sie ein Handicap haben oder nicht.“

In Nordrhein-Westfalen lernen über 42 Prozent der rund 140.000 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen. Schwarz-Gelb will aber weiterhin ein flächendeckendes Angebot an Förderschulen erhalten, um Eltern die Schulwahl zu lassen. Dazu werden die Mindestgrößen aller Förderschulen deutlich reduziert. Außerdem will Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) Förderschulgruppen der Sekundarstufe I unter dem Dach von Regelschulen ermöglichen – in Regionen, in denen es weder Förderschulen noch Schulen des Gemeinsamen Lernens gibt. Gymnasien sollen, anders als die anderen Schulformen, nicht zieldifferenziert unterrichten müssen.

Die Philologen zur Behindertenrechtskonvention

Die UN-Konvention, auf die sich die niedersächsische Landesregierung bezieht, betont ausdrücklich, dass „bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, das Wohl des Kindes… vorrangig zu berücksichtigen ist“, und dass alle besonderen Maßnahmen, die erforderlich sind, um Menschen mit Behinderungen bestmöglich zu unterstützen, nach den Regelungen der Konvention keine Diskriminierung darstellen. Eine Aussage zur Struktur und zur Ausgestaltung des Bildungswesens oder gar zu bestimmten Schulformen werde durch die UN ausdrücklich nicht gemacht – meint der Philologenverband. „Weiterhin so zu tun, als sei das Wohl aller Kinder von dem Besuch einer sogenannten Regelschule abhängig, ist absurd und steht der tatsächlichen Zielsetzung der UN, eine bestmögliche Förderung und Unterstützung im Falle einer Behinderung zu leisten, sogar unversöhnlich entgegen“, sagt Landesvorsitzender Horst Audritz.

Dies zeige die Realität an den Schulen in aller Deutlichkeit, wo Schüler mit Behinderungen derzeit in vielen Fällen bei weitem nicht hinreichend gefördert werden könnten, die notwendigen Voraussetzungen an den Schulen schlicht fehlten und nicht erkennbar sei, dass diese wie zugesichert nachgeliefert würden. Fehlende Sozialpädagogen, inhaltlich und zeitlich überforderte Lehrer, große Lerngruppen, keine individuellen Betreuungsmöglichkeiten würden die Situation für unterstützungsbedürftige Schüler, aber auch für Schüler ohne Unterstützungsbedarf unzumutbar machen. „Hier wird die UN-Behindertenrechtskonvention bewusst und leichtfertig zur Durchsetzung bestimmter schul- und bildungspolitischer Ziele instrumentalisiert und dazu missbraucht, alle Kinder unabhängig von ihren Behinderungen und ihrem Leistungsvermögen in jeder beliebigen Schulform zu beschulen“, befindet Audritz.

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