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Die verbundene Schrift erschwert das Schreibenlernen! Warum wird sie Grundschülern immer noch vermittelt?

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BRAUNSCHWEIG. In Grundschulen wird den Kindern noch immer eine verbundene Ausgangsschrift beigebracht – auch Schreibschrift genannt. Doch ermöglicht diese verbundene Schrift wirklich eine schnellere und besser lesbare Handschrift? Unser Gastautor, der Schreibdidaktiker Prof. em. Wolfgang Menzel, bezweifelt das. Der Beitrag erschien zunächst in der Zeitschrift “Grundschule”.

Hier lässt sich die Zeitschrift herunterladen oder bestellen (kostenpflichtig).

Um das Schreibenlernen in der Grundschule tobt ein Kulturkampf. Foto: Shutterstock

Verbundene oder unverbundene Schrift?

Zwei Zielen des Schreibenlernens wird kaum jemand widersprechen: 1. Die Kinder sollen so schreiben lernen, dass die erlernte Schrift auch als persönliche Handschrift später gut lesbar ist. 2. Das Erlernen des Schreibens soll möglichst auf keinen mühsamen Umwegen vonstattengehen, sondern direkt zu einer leicht handhabbaren Schrift führen. Niemand wird auch widersprechen, wenn ich behaupte: Verbundene Schriften sind prinzipiell schwerer lesbar als unverbundene. Daraus wäre eigentlich abzuleiten, dass Kinder eine unverbundene Schrift schreiben lernen müssten, da wir ja in der Regel etwas schreiben, was andere möglichst gut lesen sollen. Doch es gibt die stets wiederholten Einwände:

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1. „Flüssiges“ Schreiben.

Ein konsequent verbundenes Schreiben gibt es nicht. Wir setzen schon beim Schreiben von Wörtern wie Gärten bei den ä-Punkten und beim t-Strich zweimal ab und überbrücken eine Lücke. Bei längeren Wörtern wie Fahrkartenautomat müssen wir sogar die ganze Hand weitersetzen und die Verbindungen von Buchstaben unterbrechen. Verbundenes, „flüssiges“ Schreiben ist also nie ganz ohne Überspringungen von Buchstabe zu Buchstabe möglich. Was andererseits beim Schreiben unverbundener Buchstaben als Lücke sichtbar ist und wie gedruckt aussieht, das sind in der Bewegung Verbindungen ohne Spur. Eine Handschrift, die sich durch die Metapher „flüssig“ auszeichnet, vermittelt nur dem Leser den Eindruck, dass sie aufgrund der Buchstabenverbundenheit leicht und in einem Zuge geschrieben ist; dem Schreiber bereitet sie aber mehr Mühe als die Aneinanderreihung einzelner Buchstaben, die ja durch das Überspringen von Buchstabe zu Buchstabe ebenfalls in einem zügigen Bewegungsablauf geschrieben sind. Es ist eben ein großer Irrtum, dass ein Schreiben unverbundener Buchstaben ein Schreiben in Druckschrift ist. Dem Schreiben unverbundener Buchstaben kann man die „Flüssigkeit“ nicht absprechen.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Der Beitrag erschien zunächst in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel: “Schreiben lehren – Wie Kinder Schriftsprache erwerben”. Hier lässt sich die Ausgabe herunterladen oder bestellen (kostenpflichtig) – auch einzelne Beiträge daraus.

Es besteht auch Einigkeit darüber, dass es ein primäres Ziel der Grundschule ist, jedem Kind Lesen und Schreiben zu lehren. Umso umstrittener ist die Frage nach dem richtigen Weg. Besonders heftig wird über die Methode “Lesen durch Schreiben” diskutiert. Die Autoren möchten in dieser Ausgabe verschiedene Ansätze betrachten und vorstellen, darunter den Spracherfahrungsansatz, das Basiskonzept nach Günther Thomé sowie das Silbenkonzept. Am Ende ist jedoch nicht der Name der Methode entscheidend, sondern immer die Frage, wie eine Lehrkraft sie ausfüllt. Denn eines hat sich herauskristallisiert: Der Schriftspracherwerb muss auch Spaß machen, damit die Motivation und Kreativität der Kinder erhalten bleibt.

2. Höhere Geschwindigkeit

Wer kein unverbundenes Schreiben gelernt hat, wird wahrscheinlich durch Erfahrung bestätigen, dass er in seiner weitgehend verbundenen Handschrift auch besonders schnell schreiben könne. Doch das Umgekehrte behaupten Schüler (und auch Studenten), die seit Jahren die Buchstaben beim Schreiben nicht verbinden: Es gehe leichter und schneller. Vermutlich ist das eine Frage der Übung. Bei entsprechenden Experimenten in der Lehrerfortbildung habe ich die Erfahrung gemacht, dass Probanden das Wort Gurkensalat in zwei Minuten Schreibzeit genauso häufig schreiben konnten – ob verbunden oder unverbunden. Doch die Geschwindigkeit ist wohl überhaupt kein hinreichendes Kriterium, da Menschen ohnehin sehr unterschiedlich schnell schreiben.

3. Eine persönliche Handschrift

Dass sich eine persönliche Handschrift nur durch verbundenes Schreiben entwickle, dem muss ich nun vehement widersprechen. Meine reichhaltige Sammlung von Schriften von Schülern, Studenten und anderen Erwachsenen belegt, dass alle diese unverbundenen Schriften sich deutlich voneinander unterscheiden und Züge von Individualität und Authentizität zeigen. Jeder hat seine eigene „Handschrift“ – auch in unverbundenen Schriften!

4. Leicht erlernbar

Ich höre häufig das Argument, verbundenes Schreiben sei nicht schwerer lernbar als unverbundenes. Wer das behauptet, hat in der Regel keine Erfahrungen mit beiden Lehrgängen gemacht; und wer sie gemacht hat, der bestätigt immer wieder, dass unverbundenes Schreiben leichter zu lehren und lernen sei als unverbundenes. Dafür gibt es aber auch ganz sachliche Gründe.

Zur Entstehung

Verbundene Schriften gibt es bereits seit dem 16. Jahrhundert. Sie wurden aber nicht erfunden, um damit leichter schreiben zu lernen; sie wurden vielmehr von Kalligrafen, mühevoll angefertigt und für besonders eindrucksvolle Einladungskarten geschaffen. Die spätere Lateinische Ausgangsschrift hat sich daraus entwickelt. Aus einer von Schreibkünstlern erfundenen Schrift wurde eine Schrift, die die Kinder zu lernen hatten!

Viele Buchstaben, vor allem die Großbuchstaben, waren damals – und sind in der Lateinischen und teilweise in der Vereinfachten Ausgangsschrift bis heute – mit Bögen und Kurven ausgestattet, die die Grundform des Buchstabes mit umkreisendem Zierrat versehen, wie man an den Großbuchstaben C, G, H, S  und so weiter gut erkennen kann. Es ist natürlich aufwändiger, solche Zierkurven den Buchstabengrundformen hinzuzufügen, als nur die Grundformen selbst zu schreiben. Es ist also ein höherer Aufwand.

Wer, wie es heute weitgehend üblich ist, zu Beginn des Schreiblehrgangs die unverbundene Schrift anbietet, gewährleistet immerhin eine Integration beider Lehrgänge. Wer aber danach, wie manche Richtlinien es fordern, „eine der Ausgangsschriften“ lehrt, der muss den Kindern im zweiten Schuljahr mit viel Mühe ganz neue Bewegungsabläufe beibringen – und das nur, um dem administrativen Irrglauben gerecht zu werden, nur mit einer verbundenen Ausgangsschrift sei eine flüssige Handschrift zu erreichen.

Eine Schrift, deren Buchstaben mal mehr, mal weniger mit Schleifen, mit An- oder Abstrichen, mit Deckstrichen und Drehrichtungswechseln ausgestattet ist wie die drei verbundenen Ausgangsschriften (Lateinische, Vereinfachte und Schulausgangsschrift, vgl. Abb. 1), hat – eben aufgrund dieser überflüssigen Kurvereien – die Neigung, sich in der späteren Handschrift so zu verformen, dass sie schwerer lesbar wird. Jede Schreibbewegung, ob sie zum reinen Buchstaben gehört oder zum Buchstabendrumherum, kann individuell verformt werden; und wenn die Bögen und Kurven, die nicht zur Grundform des Buchstabens gehören, individuell ausgeformt, überdehnt oder vergrößert werden, dann bleibt der Buchstabe selbst oft darunter versteckt – und die Schrift kann fast unleserlich werden. Keine noch so schnell und schludrig geschriebene Schrift mit unverbundenen Buchstaben kann jemals so unleserlich sein wie eine erlernte Lateinische Ausgangsschrift in der „Sauklaue“ eines Kindes im siebten Schuljahr.

„Nicht schön, aber lesbar“

Meine eigene Handschrift ist, zugegeben, kein kalligrafisches Kunstwerk. Ich verwende sie heute selten. Dieser Artikel ist, wie fast alles, was ich schreibe, direkt in den Computer getippt. Nur Ideenskizzen habe ich mir vorher auf Papier notiert. Diese geben zu erkennen, dass ich vom dritten Schuljahr an die Lateinische Ausgangschrift gelernt habe. Meine eigene Schrift ist also eine weitgehend verbundene Schrift – nicht schön, aber lesbar. Grundzüge der Deutschen Schulschrift, mit der ich im ersten und zweiten Schuljahr das Schreiben erlernte, sind noch zu erkennen: das runde große E, das dreibeinige M, das eckige m, n und u, über das ich manchmal, zur besseren Unterscheidung, sogar noch den alten u-Bogen ziehe. Das hat sich eingeprägt, so schreibe ich für mich.

Wenn ich tatsächlich noch manchmal an andere Menschen in Handschrift schreibe, verwende ich eine weitgehend unverbundene Schrift, die mir leicht von der Hand geht; ich möchte ja auch, dass man meine Schrift gut lesen kann: Adressen, Kurznachrichten, Postkarten, Korrekturen in Manuskripten und so weiter. Meine Erinnerungen an die eigene Schulzeit mit dem mühevollen Schönschreiben und meine Erfahrungen als Grundschullehrer, den Kindern mit Kreisen, Girlanden, Arkaden die Vorstufen der Lateinischen Ausgangsschrift beizubringen, ja selbst noch meine späteren Einsichten in Schriftstrukturen bei der Arbeit am Schreiblehrgang zu einer Fibel, das alles hat mir nahegelegt, mich für ein müheloseres und ökonomisches Schreibenlernen einzusetzen – mithilfe der seit einigen Jahren entwickelten Grundschrift.

Der Wert der Handschrift

Nun wird heute die Frage heiß diskutiert, ob man denn überhaupt im Zeitalter der Digitalisierung das Schreiben einer Handschrift noch lernen müsse. Das Auffinden von Buchstaben auf einer Tastatur sei durchaus schon im ersten Schuljahr möglich; das Zusammensetzen der Buchstaben zu Wörtern spiele sich ein; das Geschriebene sehe manierlich aus; keine Lehrerin würde in höheren Schuljahren aus einer schludrigen Handschrift mehr den Schluss auf inhaltliche Mängel ziehen. Was ginge eigentlich verloren, wenn wir den Kindern nicht mehr das mühsame Handschreiben beibrächten?

Ich bin kein Kulturpessimist, doch einige mögliche Nachteile stehen mir doch vor Augen, wenn ich mir vorstelle, dass ich das Schreiben mit Hand nicht gelernt hätte. Abgesehen davon, dass noch kein Lehrplan den Verzicht auf das Schreiben mit der Hand erlaubt, darf man fragen: Lernt man beim Schreiben per Hand nicht womöglich mehr als das bloße Schreiben?

Feinmotorische Fähigkeiten – Präzisionsarbeit: Das Schreiben mit der Hand fördert feinmotorische Fähigkeiten: das Beugen und Strecken der Fingermuskulatur, die Drehung des Handgelenks, die Inanspruchnahme des Armes und der Schulter. Diese Präzisionsarbeit kommt höchstwahrscheinlich vielen anderen Tätigkeiten zugute, für die wir die Ausbildung der Feinmuskulatur benötigen. Ob das Bedienen der Tastatur die gleiche Präzisionsarbeit nötig macht, dafür gibt es keine Belege.

Speicherung von Wortschemata: Dass wir Wortschemata nicht nur im visuellen Gedächtnis speichern, sondern durch Handschreiben auch im motorischen Gedächtnis verankern, ist seit langem erwiesen. Wir merken uns besser, was wir auf- oder abgeschrieben haben, wir können es aus dem Gedächtnis über längere Zeit abrufen – wie ein Klavierspieler ja auch musikalische Passagen im Gedächtnis verankert nicht nur durch Notenlesen, sondern durch wiederholtes Einprägen. Daher ist für das Rechtschreiblernen das schreibende Üben von größter Bedeutung. Ob die Fingerbewegungen über eine Tastatur auf ähnliche Weise Schemata bilden und speichern, wissen wir nicht.

Strukturierung der Gedanken: Das Mitschreiben von etwas Gehörtem und das Herausschreiben aus etwas Gelesenem macht, da wir niemals so viel und so schnell aufschreiben, wie wir gehört oder gelesen haben, Auswahl nötig. Auswählen können wir aber nur mithilfe von Denkprozessen, die durch das Schreiben in Gang gesetzt werden. Ob diese Prozesse genauso verlaufen, wenn wir – oftmals schneller als mit der Hand – etwas auf der Maschine mitschreiben, wird von Wissenschaftlern bezweifelt.

Persönlicher Ausweis: In Handschrift Geschriebenes stellt eine größere persönliche und wohl auch emotionale Nähe zum Adressaten her als Gedrucktes. Man kann oft den Schreiber an seiner Schrift erkennen. Die Handschrift ist ein persönlicher Ausweis des Schreibenden; wir müssten auf ihn verzichten, sendeten wir uns gegenseitig ausschließlich Gedrucktes; wir müssten auch auf die Freude über Briefe in persönlicher Handschrift verzichten. Und wir füllen noch immer Formulare per Hand aus, schreiben in Gästebücher und zeichnen per Unterschrift als dokumentarischen Beleg dafür, dass wir selbst es sind, die unterzeichnet haben. Nein, auf das Schreiben per Hand möchten wir, bei allen Vorzügen technischer Möglichkeiten, nicht verzichten!

Hier lässt sich die Ausgabe herunterladen oder bestellen (kostenpflichtig).

Auf der Facebook-Seite von News4teachers ist bereits eine hitzige Debatte entbrannt.

Der Autor

Nach seinem Lehramtsstudium der Fächer Deutsch und Musik an der Pädagogischen Hochschule Braunschweig arbeitete Wolfgang Menzel ab 1960 als Lehrer an Schulen unterschiedlicher Schularten. Parallel zu seinem Lehramt studierte er ab 1965 Pädagogik, Germanistik und Philosophie, an der Georg-August-Universität Göttingen und ging dann 1969 von der Schule als Assistent zurück nach Braunschweig zur Pädagogischen Hochschule. Das Zweitstudium beendete Menzel 1972 mit der Promotion zum Dr. phil.; Thema seiner Dissertation war die deutsche Schulgrammatik. Im Jahr 1974 wurde er als Professor für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an die Universität Hildesheim berufen. Dem Fachbereich für Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation stand Menzel als Dekan vor. Von 1995 bis 1998 war Menzel Rektor in Hildesheim. Seit 2000 ist er Emeritus.

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