Sie lieben Rosa oder Blau, Puppen oder Autos, sind einfühlsam oder draufgängerisch: Mädchen und Jungen sind eben komplett verschieden. Zumindest den gängigen Klischees zufolge. Diese hat die Gesellschaft zum Teil so stark verinnerlicht, dass sie sie als solche nicht einmal mehr erkennt. Jegliches Abweichen birgt daher die Gefahr, als anders wahrgenommen, eventuell ausgeschlossen zu werden. Doch Bildungsinstitutionen – von der Kita über die Grundschule bis zur weiterführenden Schule – haben die Möglichkeit, den dadurch limitierten Entwicklungsspielraum von Kindern zu erweitern.
Vorgegebenes Raster
Felix ist fünf Jahre alt und Fan des Disney-Films „Die Eiskönigin“. Besonders toll findet er Prinzessin Elsa; er hat sogar einen Pullover, auf dem sie abgebildet ist. „Das ist eigentlich ne Mädchensache. Den trage ich nur manchmal, wenn ich möchte“, sagt Felix – eine banale Aussage und doch verdeutlicht sie eine ernstzunehmende Problematik, denn sie klingt fast wie eine Entschuldigung.
Doch wie kommt Felix zu dem Schluss, dass er den Pullover, den er so gerne trägt, eigentlich nicht tragen sollte? Was bedeutet es für so junge Kinder, ein richtiger Junge oder ein richtiges Mädchen zu sein? „Das hängt davon ab, welche möglichen Antworten sie in ihrer Umwelt vorfinden“, sagt die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Barbara Rendtorff. Die Seniorprofessorin der Goethe-Universität Frankfurt beschäftigt sich unter anderem mit der Tradierung von Geschlechterbildern in Kindheit, Jugend und Schule. Einfluss haben Familie, Medien, Werbeindustrie, aber auch die staatlichen Bildungsinstitutionen wie Kindergarten und Schule. „Durch jede Betonung des Geschlechtes im Sinne ‚Mädchen tun dies, Jungen tun das‘ entsteht ein Raster, wie Jungen und Mädchen zu sein haben.“
Strikte Zweiteilung
Vor allem Medien und Markt vermitteln vehement, dass es zwei Geschlechter gibt, „die sich extrem voneinander unterscheiden“, kritisiert die Erziehungswissenschaftlerin. Dabei lautet der Grundtenor: Die Farbe Rosa steht für Mädchen, Blau für Jungen; Mädchen sind kommunikativ, Jungen abenteuerlustig. Welche Folgen diese künstliche, aber strikte Trennung haben kann, zeigt Felix‘ Aussage: Er hat das Gefühl, sich falsch zu verhalten, wenn er nicht den Klischees entspricht. Diese engen Entwicklungsgrenzen versucht die Kita Sonnenblume der Caritas in Köln-Burscheid, die Felix besucht, so gut es geht zu öffnen. „Wir wollen die Kinder mit ihren Fähigkeiten und Interessen wahrnehmen und darin bestärken“, sagt Kitaleiterin Brigitte Sartingen-Kranz. Die Einrichtung setzt dafür auf die geschlechterbewusste Pädagogik. Das heißt: Das Kita-Team vermeidet Geschlechterstereotype und präsentiert alternative Entwicklungsmöglichkeiten. „Am Anfang wirkte das alles noch sehr gekünstelt“, erinnert sich Sartingen-Kranz an den Start 2009. Mittlerweile sei das Konzept jedoch zur Normalität geworden.
Bei Neuanschaffungen achte das Team nun beispielsweise darauf, neutralere Farben als rosa und hellblau zu wählen. „Wir wollen vermeiden, dass alleine die Farbgebung verhindert, dass ein Spielzeug von allen genutzt wird“, erklärt Sartingen-Kranz. Das Material- und Spielzeugangebot sind ebenfalls breit gefächert: In der Puppenecke findet sich nicht nur eine Spielküche, sondern auch Werkzeug aus Holz. Womit die Kinder spielen, bleibt aber ihnen überlassen – eine der Grundlagen der geschlechterbewussten Pädagogik, wie Erziehungswissenschaftlerin Barbara Rendtorff betont. Denn: „Kindern kann nicht verordnet werden, sich außerhalb der Stereotype zu bewegen. Kita und Schule können aber die als weiblich und männlich deklarierten Sphären öffnen.“
Die Erzieherinnen und Erzieher der Kita Sonnenblume versuchen dies etwa, indem sie ihre Schützlinge anregen, die bereits übernommenen Stereotype zu hinterfragen. „Felix trägt zum Beispiel pinke Gummistiefel und eine lilafarbene Regenjacke; wenn die Kinder dann sagen, das sind doch Mädchensachen, fragen wir nach: Warum dürfen denn nur Mädchen pink und lila tragen?“, erzählt Erzieherin Andrea Höfer. „Wir wollen so auch die betroffenen Kinder stärken. Es kostet ja Mut, nicht mit der Masse zu schwimmen.“ Das gelte vor allem zum Ende der Kindergartenzeit, Anfang der Grundschulzeit, wenn sich Kinder von dem jeweils anderen Geschlecht abgrenzen wollten, so Tim Rohrmann, Professor für Kindheitspädagogik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim, Niedersachsen. „Es ist normal, dass sie dann homogene Gruppen bilden. Entspricht aber ein Kind nicht der Gruppennorm, kann das zur Ausgrenzung führen.“ Eine geschlechterbewusste Pädagogik, die aufzeige, dass Menschen vielfältig sind, könne helfen, dies zu verhindern. Entscheidend sei dabei laut Erziehungswissenschaftlerin Rendtorff unter anderem die Auswahl an Büchern und ob die darin vermittelten Rollenbilder noch dem aktuellen Stand der Gesellschaft entsprechen.
Schulkonzept
Der Einfluss, den Medien auf die Entwicklung von Kindern haben, ist auch Karin Wendt bekannt, Schulleiterin der Gebrüder-Grimm-Grundschule in Moers, Nordrhein-Westfalen. Sie hat daher viele Bücher und Materialien entsorgt, die überkommene Rollenbilder vermittelten. „Es ist nur ein Bruchteil übrig geblieben“, sagt Wendt. Ihre Aufräumaktion steht im Zusammenhang mit dem schuleigenen „Gender-Mainstreaming“-Konzept, das das Schulgesetz in NRW verlangt. Darin hat die Grundschule vier Ziele formuliert, um mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu erreichen: Sie will Vorurteile ab- und partnerschaftliches Sozialverhalten aufbauen, gegen geschlechterspezifische Formen von Gewalt und Sexismus angehen sowie die Kinder ihren jeweiligen Fähigkeiten entsprechend fördern. Dabei ist es Schulleiterin Wendt wichtig, dass die Kinder miteinander reden, um gegenseitigen Respekt zu entwickeln. Dafür diskutiert sie mit ihnen über wichtige Themen im Klassenrat, wie an diesem Donnerstag mit ihrer Englischklasse. Das Thema: typisch Mädchen, typisch Jungen.
Natürlich sind die bekannten Klischees vertreten: Fußball ist ein Sport für Jungen, Jungen sind stärker als Mädchen, Schminken ist nur etwas für Mädchen. Keine dieser Aussagen bleibt unkommentiert. Immer gibt es Kinder, die protestieren. Luisa verweist auf ihre Mama, die früher im Verein Fußball gespielt hat. Amy ist Kick-Boxerin und hat „schon Jungen auf den Boden gelegt“. Und Till erzählt von seinem kleinen Bruder, der gerne Rock und Nagellack trägt. Schulleiterin Wendt lässt die Diskussion laufen, solange die Klasse geäußerte Vorurteile nicht einfach hinnimmt. Ansonsten hakt sie nach – ähnlich dem Ansatz der Kita Sonnenblume –, um die Kinder zum Nachdenken anzuregen.
Die Schulglocke beendet die Diskussion. Karin Wendt zeigt sich zufrieden, zweifelt allerdings ein wenig daran, inwieweit die Kinder ihre geäußerten Ansichten im Alltag vertreten. Um die scheinbare Kluft zwischen den Geschlechtern weiter zu verringern, finden sich daher Aspekte der Gender-Thematik ebenfalls in Texten und Rollenspielen im Unterricht wieder. Die Schulleiterin weiß jedoch, dass nicht nur Schülerinnen und Schüler lernen müssen, ihre Vorurteile zu erkennen, sondern ebenso die Lehrkräfte. „Wenn wir mit Vorurteilen arbeiten, werden wir ganz oft Selffulfilling Prophecy erleben“, warnt Wendt. Das heißt, dass das von einer Schülerin oder einem Schüler – eventuell unbewusst – erwartete Verhalten erst zu diesem Verhalten führt und dadurch Stereotype am Leben hält.
Wahlfreiheit
Immer wieder beklagte Folgen von Geschlechterzuschreibungen sind zum Beispiel das fehlende Interesse von Mädchen an MINT-Fächern und von Jungen an sozialen Themen und Berufen. Ein Umstand, den auch Eduardo Träger, Schulleiter der Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule Willich, NRW, beobachtet. „Wir wollen Mädchen und Jungen weitere Möglichkeiten abseits der klassischen Rollenklischees aufzeigen“, sagt Träger. Im schulischen „Konzept zur Gender-Mainstreaming-Erziehung“ heißt es dazu unter anderem: Die schulinternen Curricula sollen „so ausgerichtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler ermutigt werden, auch geschlechtsuntypische Themen zu wählen“.
Eine Möglichkeit, sie für bislang eher unterschätzte Inhalte zu begeistern, bietet die jährliche „Leonardo Projektwoche“. In jeder Jahrgangsstufe stehen den Lernenden verschiedene Aktionen mit naturwissenschaftlichem, sozialem und künstlerischem Schwerpunkt zur Auswahl. Nicht alle Schülerinnen und Schüler nutzen die Gelegenheit, ein Angebot abseits der sonstigen Interessen zu wählen – zumindest nicht immer freiwillig. Die Siebtklässlerinnen Vivien, Sophie und Leonie wollten eigentlich am Koch-Projekt teilnehmen, jetzt stehen sie in Raum 33, Erdgeschoss, Physikfachbereich, und experimentieren. Die „Evonik Kinderuni“ war ihre Zweitwahl, nachdem sie in der anderen Gruppe keinen Platz bekommen hatten. Statt ein Mittagsmenü zuzubereiten, beschäftigen sie sich nun mit chemischen und physikalischen Experimenten. Doch die ursprüngliche Enttäuschung ist mit den ersten Versuchen längst verflogen. „Wir haben schon mit Rotkohl bunte Farben gemischt und aus Kartoffeln Kleister gemacht. Die Experimente sind voll cool und machen echt Spaß“, sagt die 13-jährige Vivien.
Wie den Schülerinnen ermöglicht die Projektwoche auch den Lehrkräften neue Einsichten. Lehrer Bernd Rütten, der das Projekt „Evonik Kinderuni“ leitet, zeigt sich überrascht, aber begeistert, „dass so viele Mädchen dabei sind. Sie sind zwar nicht alle freiwillig hier, aber alle sehr interessiert.“ Seine Kollegin Sigrid Börger, die den Babysitter-Lehrgang für die Jugendlichen der 9. Klassen beaufsichtigt, ist erstaunt, wie souverän sich Kevin am Kurs beteiligt. Was sie bislang nicht wusste: Kevin passt regelmäßig auf die Kinder von Freunden seiner Eltern auf. „Die sind aber schon etwas älter. Hier geht es ja um Kleinkinder und Babies, aber der Kurs gefällt mir ganz gut.“
Begrenzter Einfluss
Wie weit der Einfluss der Schule reicht, darüber macht sich Schulleiter Eduardo Träger keine falschen Hoffnungen: „Die Sozialisation beginnt ab der Geburt. Wenn die Kinder bei uns ankommen, ist sie zum Großteil schon gelaufen.“ Wie unterschiedlich diese Entwicklung verlaufen kann, zeigt sich beispielhaft im Gespräch mit einigen Siebtklässlern darüber, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Luke wünscht sich eine Familie und „eine ganz normale Aufteilung“. Damit meint er: „Die Frau kümmert sich um die Kinder und kocht, der Mann bringt das Geld nach Hause“ – so, wie er es von seinen Eltern kennt. Till dagegen hat erlebt, wie schwierig es für seine Mutter war, wegen der Baby-Pause in ihrem Lebenslauf eine neue Anstellung zu finden. Ob sich eine Frau Vollzeit um Haus und Kinder kümmern oder arbeiten gehen möchte, sei ihre Entscheidung.
Nur eine möglichst frühe Intervention durch die Bildungsinstitutionen, so erscheint es Eduardo Träger, kann ein wirkliches Gegengewicht zu den stereotypen Rollenvorstellungen der Gesellschaft setzen. Zu diesem Zweck kooperiert die Leonardo-Gesamtschule mit umliegenden Grundschulen und bietet den Schülerinnen und Schülern vor dem Übergang die Möglichkeit, an MINT-Projekten teilzunehmen. „Es ist wichtig, früh unterschiedliche Zukunftsperspektiven aufzuzeigen“, sagt Träger – eine Aufgabe, die dem gesamten Bildungsbereich gilt. Von Anna Hückelheim (Agentur für Bildungsjournalismus)