Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
BERLIN. Bayerns Ministerpräsident war – wetten? – noch nie in der Verlegenheit, als Vater eines Schulkinds von einem Bundesland ins nächste umziehen zu müssen. Hat irgendjemand mal gezählt, wie viele verschiedene Schulformen in Deutschland existieren? Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es offiziell acht.
Welche Eltern sollen die Unterschiede noch verstehen, etwa zwischen einer „Sekundarschule“ und einer „Gesamtschule“ – zumal auch die anderen 15 Bundesländer sich immer wieder fröhlich neue Schulformen einfallen lassen: von der „Realschule plus“ bis zur „Werkrealschule“? Was macht zum Beispiel ein Gesamtschüler aus Köln, den es nach Augsburg verschlägt? Er muss sich eine neue Schulform suchen – etwa die zur „Mittelschule“ ernannte Hauptschule –, weil’s in Bayern kaum Gesamtschulen gibt.
Der Grusel lässt sich steigern. Stellen Sie sich doch mal einen Schüler vor, der während seiner Schullaufbahn dreimal das Bundesland wechselt (es gibt tatsächlich Familien, die müssen sowas aus beruflichen Gründen tun). Er beginnt in Hessen, wo er in einer Grundschule ohne Noten lernt, was dort möglich ist. Dann, Anfang des 4. Schuljahres, zieht der Junge mit seinen Eltern nach Bayern um – wo jetzt plötzlich allein der Notenschnitt darüber entscheidet, welche Schulform er im Anschluss besuchen darf. Anfang der 6. Klasse geht die Reise nach Berlin. Und der Schüler, der im Freistaat seit mehr als einem Jahr eine weiterführende Schule besucht hat, findet sich jäh zurück auf der Grundschule wieder, die ja in Berlin meist sechs Schuljahre umfasst. Vier Jahre später, der Schüler ist mittlerweile 15 und auf dem Gymnasium, wechselt er nach Niedersachsen und hat dort (nach Wiedereinführung von G9) noch volle drei Schuljahre bis zum Abitur vor sich. In Berlin wären’s nur zwei gewesen.
In Sachen Schulstruktur ein Flickenteppich
Deutschland ist in Sachen Schulstruktur ein Flickenteppich, dessen wirres Muster kaum jemand mehr erkennt. Nicht nur in Sachen G8/G9 gibt es je nach Bundesland völlig unterschiedliche Lösungen – ein achtjähriges Gymnasium hier, Wahlmöglichkeiten dort, neun Jahre Gymnasium mancherorts und in Berlin (wo die Grundschule in der Regel, wie gesagt, sechs Jahre umfasst) nur sechs. Dazu kommen dann noch Initiativen wie die von Hessen, im Alleingang die Noten in der Grundschule abzuschaffen (das ist dort zumindest ins Belieben der Schulen gestellt).
Die Kultusministerkonferenz meint, der Länderwettbewerb täte der Bildung gut. Tut er das? Ist es gut, wenn einzelne Länder sich beim Absenken ihrer Standards bei den zentralen Abschlussprüfungen unterbieten – und Abiturienten dann aus den Hochleistungsländern Bayern oder Sachsen mit Abiturienten aus Niedriganspruchsländern wie Berlin um knappe Numerus-Clausus-Studienplätze konkurrieren müssen? Oder ist das schlicht ungerecht? Ist es gut, wenn der Stadtstaat Hamburg 8.700 Euro pro Grundschüler und Jahr ausgibt – Nordrhein-Westfalen hingegen nur etwas mehr als die Hälfte, nämlich 4.800 Euro, wie eine Studie jüngst ergab? Oder ist das einfach eine krass ungleiche Chancenverteilung?
Wird das Gebot gleichartiger Lebensverhältnisse in der Schulbildung erfüllt?
Das Grundgesetz fordert die Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland. Es wäre interessant, vom Bundesverfassungsgericht klären zu lassen, ob dieses Gebot in der Schulbildung überhaupt noch erfüllt wird. Bis dahin kann die Kultusministerkonferenz ja mal versuchen, einem Ausländer das deutsche Schulsystem in seiner ganzen Vielfalt zu erklären. Zum Scheitern verurteilt.
Wie kurzsichtig der Ausstieg Bayerns aus dem Nationalen Bildungsrat unter Verweis auf die hohe Qualität des Bayerischen Abiturs ist, zeigt der Blick auf den gesamten Bildungsbereich – der natürlich nicht beim Abitur endet. Bayern „produziert“ nämlich, Qualität hin oder her, bei weitem nicht genug Akademiker, um den Bedarf der bayerischen Wirtschaft zu decken. Die werden deshalb kurzerhand „importiert“, und zwar aus anderen Bundesländern sowie aus dem Ausland. Anders ausgedrückt: Bayern profitiert von der Ausbildungsleistung anderer Bundesländer – eben solcher, auf deren Niveau der Freistaat nicht sinken möchte.
Auch beim Digitalpakt gab’s Querschüsse aus dem Süden
Was ist jetzt zu tun nach dem Ausstieg Bayerns und Baden-Württembergs aus dem Projekt “Nationaler Bildungsrat”? Wieder allein auf die KMK setzen, um vielleicht irgendwann mal zu einer einheitlichen Struktur zu kommen? Die Chancen dazu haben die Kultusminister über Jahrzehnte gehabt und ungenutzt verstreichen lassen. Aber warum sollte der Nationale Bildungsrat denn überhaupt beerdigt werden, nur weil Bayern und im Gefolge dann auch Baden-Württemberg nicht mitmachen? Sollen sie’s doch lassen.
Ein Bildungsrat auf Bundesebene, der sich aus den übrigen Ländern, dem Bund und Experten (bitte auch mal den Lehrerverbänden!) zusammensetzt, kann auch ohne Querschüsse aus dem Süden – wir erinnern uns: Bayern und Baden-Württemberg hätten beinahe auch den Digitalpakt kaputt bekommen – sinnvolle Empfehlungen geben. Ob sich denen dann München und Stuttgart verweigern können? Wollen wir doch mal sehen. Jetzt ist der Bund gefordert, initiativ voranzugehen. Agentur für Bildungsjournalismus
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