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Was die Ministerien verschweigen: Immer mehr Seiteneinsteiger kommen als „Vertretungslehrer“ in die Schule – ohne Nachqualifikation

BERLIN. Der Lehrermangel bringt bundesweit Tausende von Seiteneinsteigern ohne pädagogische Ausbildung in den Lehrerberuf. Weil deren Nachqualifikation häufig nur im Schnellverfahren läuft, gibt es massive Kritik – der Deutsche Lehrerverband spricht von einem „Verbrechen an den Kindern“. Dabei geht es noch schlechter: Offenbar werden nämlich von den Kultusministerien zunehmend auch sogenannte „Vertretungslehrer“ befristet eingestellt. Und die werden dann überhaupt nicht mehr qualifiziert. Entsteht so eine neue Schicht von Zweite-Klasse-Lehrern? Die Kultusministerien schweigen sich zu dem Thema weitgehend aus.

Im Dunkeln: Über “Vertretungslehrerinnen und -lehrer” gibt es keine offizielle Statistik (Symbolbild). Foto: Shutterstock

„Natürlich ist die Lage auf dem Lehrermarkt angespannt. Aber wir haben zeitig damit begonnen, gegenzusteuern. Für dieses Schuljahr haben wir noch einmal über 1000 neue Stellen geschaffen, davon 700 für sozialpädagogische Fachkräfte zur Unterstützung der Lehrer. Wir haben jetzt mehr als 54.000 Lehrerstellen im Einsatz. So viele gab es in Hessen noch nie“, so sagt Hessens Kultusminister Alexander Lorz  (CDU) in einem Interview, das auf der Homepage seines Ministeriums dokumentiert wird.

Seiteneinsteiger kommen zunehmend in die Schulen

„Wie viele dieser Neueingestellten haben eine pädagogische Ausbildung?“, so wird er gefragt. Lorz antwortet: „Menschen, die wir fest auf Lehrerstellen einstellen, haben alle eine Form von pädagogischer Ausbildung. Sie können aber zum Beispiel auch sozialpädagogische Fachkräfte sein.“ Das klingt, als würden in Hessen keine Seiteneinsteiger in den Lehrerberuf ohne pädagogische Qualifikation eingestellt. In anderen Bundesländern werden solche Kandidaten aufgrund des drastischen Lehrermangels zunehmend in den Schuldienst aufgenommen (was Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands unlängst als „Verbrechen an den Kindern“ bezeichnet hatte).

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Worüber Lorz allerdings an dieser Stelle nicht spricht: Auf befristete Stellen werden vom Land Hessen sehr wohl Seiteneinsteiger gesetzt – und zwar in nicht unerheblichem Maß: Nach Schätzungen der GEW (auf Basis einer Recherche des Hessischen Rundfunks) dürfte deren  Zahl landesweit bei mittlerweile 1.300 liegen. Offizielle Statistiken gibt es darüber nicht.

Die GEW spricht von „Etikettenschwindel“. So heißt es in einem Bericht im Mitgliedermagazin „HLZ“: „Während andere Bundesländer gezielte Maßnahmen zur Anwerbung von Seiteneinsteigern mit Hochschulabschluss ergriffen haben und diese in strukturierter Form qualifizieren, geht Hessen den bequemsten und billigsten Weg: Wer auch immer für die Arbeit im Unterricht gewonnen werden kann, wird mit einem befristeten ‚Vertretungsvertrag‘ eingestellt und darf im Rahmen einer ‚Unterrichtserlaubnis‘ unterrichten.“

“Eine Qualifizierung und Fortbildung ist für diese Gruppe nicht vorgesehen”

Tatsächlich gibt es solche Vertretungslehrer auch in anderen Bundesländern, wie der Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann weiß. „Das sind Menschen ganz unterschiedlicher Qualifikationen – in Berlin und Hamburg gehören zum Beispiel Studierende dazu, aber auch Sozialarbeiter/innen und Juristen – die mit befristen Verträgen Unterricht erteilen. Eine Qualifizierung und Fortbildung durch die Behörde ist für diese Gruppe nicht vorgesehen, sie kommen auch in keiner KMK-Statistik vor. Ganz gelegentlich gibt es Zahlen aus einzelnen Bundesländern. So hat Berlin zum Schuljahr 2018/19 915 solcher Vertretungslehrer eingestellt, davon 489 für die Grundschulen (internes Papier der Schulbehörde vom 14.9.18).“, so erklärte er auf einer Tagung der hessischen GEW. „Zahlen aus anderen Bundesländern sind mir nicht bekannt.“ Über diese Gruppe werde kaum geredet.

Kein Wunder. Neben der meist unzureichenden Qualifikation – und den fehlenden Möglichkeiten, sich nachzuqualifizieren –, ist die mangelhafte soziale Absicherung nichts, womit sich die Ministerien schmücken könnten.

So heißt es im GEW-Bericht: „Die im Rahmen einer ‚Unterrichtserlaubnis‘ eingestellten Kolleginnen und Kollegen firmieren in ihrem Arbeitsvertrag als Vertretungskräfte. Ihr Arbeitsvertrag enthält eine Klausel zur vorzeitigen Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bei vorzeitiger Rückkehr der vertretenen Lehrkraft. Die Verträge enden regelmäßig vor den Sommerferien, auch wenn sie in den meisten Fällen bei einer Weiterbeschäftigung im neuen Schuljahr so verlängert werden, dass die Ferien dann eingeschlossen sind. Viele Kolleginnen und Kollegen beginnen sich mit der Arbeit in der Schule eine neue berufliche Perspektive aufzubauen und sehen, wie sehr ihre Arbeitskraft in der Schule benötigt wird. Trotzdem stehen sie unter der permanenten Bedrohung der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses.  Der Arbeitgeber tut nichts dafür, dass sie durch eine strukturierte Weiterbildung eine Chance auf eine Entfristung und ein angemessenes Gehalt bekommen.“

Unterstützung allein von den Kollegien in den Schulen

In allen Erfahrungsberichten von Betroffenen werde  deutlich, „dass sie tatsächliche Unterstützung für den Einstieg ausschließlich von den Kolleginnen und Kollegen vor Ort erhalten. Dies ist aber zugleich eine weitere Quelle von Mehrarbeit für Kolleginnen und Kollegen, die schon jetzt an der Belastungsgrenze arbeiten: Sie beraten, unterstützen, stellen Unterrichtsmaterial zur Verfügung, trösten und helfen, wo sie nur können“, so heißt es in dem GEW-Bericht. Aber die Möglichkeiten zur freiwilligen Unterstützung – ohne jegliche Entlastung an anderer Stelle – sind eben begrenzt. Agentur für Bildungsjournalismus

Der Forderungskatalog des bak Lehrerbildung

Der Verband Bundesarbeitskreis (bak) Lehrerbildung, in dem Lehrerausbilderinnen und Lehreausbilder organisiert sind, hat einen Forderungskatalog für den Seiteneinstieg in den Lehrerberuf aufgestellt.  „Mit großer Sorge sind klare Tendenzen einer Deprofessionalisierung der Lehrerausbildung festzustellen, teils herrschen skandalöse Missstände an deutschen Schulen – und dies in vielen Bundesländern”, so heißt es in dem Positionspapier. Folgende Mindeststandards müssen  aus Sicht des bak Lehrerbildung beim Seiteneinstieg eingehalten werden:

  • Grundvoraussetzung: ein qualifiziertes universitäres Hochschulstudium in einem Fach (Zuordnung zu einem in der jeweiligen Schulform unterrichteten Fach muss gegeben sein); – Möglichkeit zur Entwicklung eines zweiten Fachs (mindestens 30% der erforderlichen Studienanteile vorhanden);
  • Mindestens 3 bis 4-jährige berufliche Praxis im studierten Fach;
  • Auswahlverfahren, das neben der Prüfung der Voraussetzungen auch die Eignung und das Vorhandensein der erforderlichen professionsbezogenen personalen Kompetenzen berücksichtigt;
  • Sicherstellung der aktiven Verfügbarkeit der deutschen Sprache (schriftlich und mündlich);
  • Beteiligung und deutliches Mitspracherecht (Vetorecht) der Ausbildungsinstitution an den Auswahlverfahren;
  • Zweijährige begleitende Qualifizierung (fachliche und überfachliche Ausbildung im Umfang von 8 Stunden) durch die lehramtsbezogenen Seminare;
  • Ausbildung in enger Kooperation zwischen Schule und Seminar, Orientierung der Ausbildung an den Standards und Kompetenzen der KMK.

Meidinger: Schlecht qualifizierte Seiteneinsteiger vor Schulklassen zu stellen, „ist ein Verbrechen an den Kindern“

 

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