BERLIN. Für viele Schüler in Deutschland soll der Unterricht auch im Lockdown weitergehen – digital. Doch die Lernportale, die von den Kultusministerien bereitgestellt werden, funktionieren in der Corona-Krise mehr schlecht als recht. Zum einen sind sie nicht so leicht zu bedienen, dass Lehrer und Schüler damit mal eben loslegen könnten. Zum anderen brechen sie unter dem aktuellen Nutzer-Ansturm immer wieder zusammen. Hinter den Problemen steckt ein grundsätzlicher Denkfehler: Ministerien versuchen sich als IT-Entwickler. Das kann nur schiefgehen.
Man stelle sich vor: Die Polizei des Landes Baden-Württemberg benötigt neue Dienstfahrzeuge. Das Innenministerium beschließt angesichts der besonderen Anforderungen, die an ein Polizeiauto zu richten sind, die Entwicklung eines komplett neuen Gefährts. Drei Jahre Entwicklungszeit werden dafür eingeplant; die Entwicklungskosten werden auf 30 Millionen Euro veranschlagt. Bis dahin sollen sich die Polizisten bei der Verbrecherjagd mit Fahrrädern behelfen. Absurd – weil doch der Markt genügend Autos bereithält, die leicht anzupassen wären? Im Bereich der IT für Schulen keineswegs.
Kultusministerien versuchen sich als IT-Entwickler und erleben dabei Pleiten, Pech und Pannen
Kein Einzelfall. Auch andere Kultusministerien – wie das nordrhein-westfälische – versuchten sich als IT-Entwickler und erlebten dabei Pleiten, Pech und Pannen. Die NRW-Plattform „logineo“ ging Anfang des Jahres an den Start, nachdem auch dieses Projekt aufgrund von massiven Datenschutz-Problemen mehrfach verschoben werden musste. Noch immer ist die Cloud nicht in der Fläche ausgerollt: Erst jede fünfte Schule im Land arbeitet mit dem System.
Trotzdem gibt es aktuell Probleme. „Zum Versagen auf ganzer Linie passt, dass es aktuell (Do., 09.00) schon wieder keine Slots gibt, um in NRW auf logineo Dienstmails zu verschicken. Wahrscheinlich habe ich übersehen, erst einen formellen Antrag auf das Versenden einer Dienstmail zu stellen oder eine Nummer zu ziehen“, so schreibt ein Lehrer auf News4teachers. Ein anderer berichtete am gestrigen Mittwoch: „‘Logineo‘ war in NRW heute Vormittag für Stunden lahm. Viele, viele Millionen darin versenkt, aber häufig man kommt sich so vor, als müsste man eine Nummer ziehen oder einen Slot buchen, um eine Dienstmail zu verschicken. Fehler können passieren, aber das? Vor allem, wenn genau diejenigen Fehler zu verantworten haben, welche sich über alle Wissenschaft erhaben wähnen.“
Die IT-Probleme betreffen, nachdem schon gestern über Schwierigkeiten mit den Lernplattformen in etlichen Bundesländern berichtet wurde, heute weitere Fälle:
- Bei der bayerischen Lernplattform Mebis hat es am Donnerstag erneut Schwierigkeiten gegeben. Aktuell meldeten sich viele Nutzerinnen und Nutzer gleichzeitig an, teilte das Service-Team am Morgen auf Twitter mit. “Dadurch kommt es leider zu langen Wartezeiten.” Bereits am ersten Tag des Lockdowns am Mittwoch mussten sich die Schülerinnen und Schüler über Mebis ärgern. Es kam zu langen Wartezeiten beim Einloggen. Andere Nutzer flogen kurzerhand wieder aus dem System raus.
- Die Probleme bei der digitalen Plattform “Lernraum Berlin” halten an. Auch am Donnerstag konnten sich wie schon am Vortag viele Schüler und Lehrer dort nicht einloggen. Auf der Webseite selbst war am Morgen zu lesen, es werde daran gearbeitet, die Plattform den neuen Anforderungen anzupassen. Die Anzahl der gleichzeitigen Zugriffe habe sich am Mittwoch – dem Beginn des harten Lockdowns zur Eindämmung der Corona-Pandemie – “von einem Tag auf den anderen deutlich gesteigert”.
- Am ersten Tag der schärferen Corona-Regeln in Sachsen-Anhalt ist die Lernplattform des Landes wegen hoher Nachfrage zusammengebrochen. Es habe ähnlich wie in anderen Bundesländern Schwierigkeiten gegeben, sagte ein Sprecher des Bildungsministeriums. Grund sei die hohe Zahl an Zugriffen auf den Server.
- Bei der sächsischen Lernplattform “Lernsax” hat es erneut Störungen gegeben. Wie das Kultusministerium in Dresden am Donnerstag mitteilte, war sie am Mittwoch nach einem Hackerangriff zunächst wieder zum Laufen gebracht worden, fiel in der Hauptarbeitszeit zwischen 9.00 Uhr und 11.30 Uhr aber wieder aus. Damit lief die Plattform den dritten Tag in Folge nicht einwandfrei. Technikern sei es nun gelungen, das Problem zu analysieren und erste Schritte zur Lösung zu unternehmen, doch bis zum Wochenende könne es zu weiteren Störungen kommen, hieß es. Lernsax solle dann auf ein neues System mit anderen technischen Prinzipien umziehen, das weniger anfällig ist.
„Offiziell eine Plattform zu ‚haben‘ (und darüber medienwirksam zu berichten) ist nicht das Gleiche wie sie für alle leistungsfähig genug zu machen, so dass sie, wenn sie gebraucht wird, auch funktioniert“, so kommentiert ein Lehrer im Leserforum von News4teachers die Probleme.
Das Bundesbildungsministerium versucht zu helfen – mit noch einer Lernplattform
Die Frage steht im Raum: Warum nutzen Kultusministerien nicht die technischen Lösungen, die Unternehmen bereithalten und stetig weiterentwickeln – und basteln stattdessen, auch noch jedes für sich, an staatlichen Lösungen? Hier für Ordnung zu sorgen und die Kräfte zu bündeln, wäre doch eigentlich eine Aufgabe für ein Bundesbildungsministerium, das zwar formal nicht für die Schulen zuständig ist, mit einer Vernetzung der Länderinitiativen und der IT-Wirtschaft aber durchaus die Entwicklung voranbringen könnte. Das versucht das BMBF tatsächlich – vergrößert aber nur noch das Durcheinander, in dem es eine weitere Schulcloud entwickeln lässt, diesmal vom Hasso-Plattner-Institut (HPI).
Auch dieses Projekt scheint sich als Kopfgeburt herauszustellen, wie eine Anfrage der FDP-Politikerin Katja Suding zumindest nahelegt. Die Schul-Cloud des HPI, deren Förderung der Bund im Frühjahr wegen Corona noch deutlich ausgebaut hatte, wird laut Antwort des Bundesbildungsministerium vom 22. November nur von 356 Schulen aktiv im Rahmen des Bundesprogramms genutzt. Angemeldet seien 496 Schulen.
Der Bund hatte die Cloud mit stattlichen 12 Millionen Euro gefördert, damit alle diejenigen Schulen sie nutzen können, die nicht bereits über ein Länderprojekt Zugang zu einer vergleichbaren Cloud-Lösung haben. Suding kritisiert das Projekt als Fehlplanung: “Kaum mehr als ein Prozent aller Schulen hat sich aufgrund dieser Öffnung für die HPI Schul-Cloud entschieden”, sagt sie. Damit bleibe das Projekt „selbst hinter den ohnehin schon niedrigen Erwartungen der Bundesregierung zurück”. Statt Schulen mit individuellen und marktreifen Lösungen zu unterstützen, würden zusätzliche Millionen in eine ohnehin schon gut finanzierte Cloud gesteckt, deren Funktionen anderen Anbietern weit hinterherhinken, kritisiert Suding.
Es gibt marktreife Lösungen aus Deutschland, die an Schulen schon im Einsatz sind
Dass es solche marktreifen Lösungen gibt, darauf hatten die mittelständischen Unternehmen AixConcept, DigiOnline, H+H Software, IServ, itslearning und SBE network solutions in einem gemeinsamen offenen Brief an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bereits im April hingewiesen, der auf News4teachers erschien. „Deutsche Mittelständler bieten vielfältige innovative Lösungen für Schulen an. Diese Produkte sind praxisnah, ausgereift und werden seit vielen Jahren erfolgreich an Schulen eingesetzt. Die Anbieter leisten schon seit Beginn der Schulschließungen Soforthilfe, indem sie Schulen unbürokratisch und teils auch komplett kostenlos ihre Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Da eine kurzfristige Finanzierung vom Staat fehlt, werden die zusätzlich nötigen Kapazitäten so gut es geht aus eigenen Mitteln finanziert“, so heißt es in dem Schreiben.
Und weiter: „Statt diese Bemühungen zu unterstützen, steckt das BMBF nun erneut einen zweistelligen Millionenbetrag in sein eigenes Konkurrenzprodukt. Die HPI Schul-Cloud befindet sich mitten in der Pilotphase, eine praktische Erprobung im Schulalltag steht noch aus. Das verfrühte Ausrollen eines unfertigen Produktes belastet die beteiligten Lehrkräfte zusätzlich und wird möglicherweise weitere Vorbehalte gegen die Digitalisierung von Schule erzeugen.“
Das baden-württembergische Kultusministerium setzt unterdessen jetzt auf einen US-Giganten. In einem Pilotprojekt werden Microsoft 365-Werkzeuge in der Digitalen Bildungsplattform getestet. Ärger ist schon wieder absehbar: Eltern- und Lehrerverbände fürchten, dass Schülerdaten aus Deutschland in den USA (wo der Datenschutz deutlich laxer gehandhabt wird als hierzulande) landen und von dort aus ungeschützt durchs Internet rauschen. Die Schulen bräuchten deshalb möglichst schnell eine Lernplattform, deren Server innerhalb der EU stünden, die datenschutzkonform seien und Persönlichkeitsrechte von Lehrern und Schülern schützten, teilten der Landeselternbeirat, die Arbeitsgemeinschaften gymnasialer Elternvertreter und der Philologenverband mit. News4teachers / mit Material der dpa
Dieser Beitrag wurde mit Unterstützung der Leserinnen und Leser von News4teachers realisiert.
Mehr Informationen dazu – gibt es hier.
Schulen im Lockdown-Chaos: Lernplattformen fallen in mehreren Ländern aus