STUTTGART. Was Schüler in Baden-Württemberg lernen sollen, war plötzlich Thema in Politik-Talkshows: Um sexuelle Vielfalt ging es, als Demonstranten vor fünf Jahren auf die Straße gingen. Nun ist der Bildungsplan überarbeitet und in Kraft. Doch hat sich etwas geändert?
«Schützt unsere Kinder!» stand auf Plakaten. Die «Gender-Ideologie» und «Sexualisierung unserer Kinder» müsse gestoppt werden, hieß es bei den «Demos für alle». Tausende gingen auf die Straße. Tausende protestierten dagegen – mit Regenbogenfahnen für Vielfalt. Der Streit um das Thema sexuelle Vielfalt im Unterricht drohte hier und da zu eskalieren. Angefacht durch eine von der damaligen grün-roten Landesregierung geplante Reform der Bildungspläne.
Eine entschärfte Version trat zum Schuljahr 2016/17 in Kraft. Sie enthält als eine von sechs fächerübergreifenden Leitperspektiven: «Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt». Eine Sprecherin des Kultusministeriums erklärt: «Das Thema sexuelle Vielfalt wird dabei in einen größeren Kontext von Vielfalt und Toleranz gestellt.»
«Die «Sexualpädagogik der Vielfalt» ist in Deutschland gleichwohl weiterhin auf dem Vormarsch»
Von den lautstarken Protesten gegen angebliche Frühsexualisierung ist schon länger nichts mehr zu hören. Die Gruppe sei eh klein gewesen, meinen die Bildungsgewerkschaft GEW und das Ministerium. Dessen Sprecherin erläutert: «Einem Realitätscheck haben diese in Teilen abstrusen Vorbehalte ohnehin nicht standgehalten.»
Dadurch, dass der Bildungsplan überarbeitet wurde, sieht Hedwig von Beverfoerde vom Aktionsbündnis für Ehe & Familie, das die «Demo für alle» organisierte, ihre Kernforderungen erfüllt. Deutschlandweit sei es ebenfalls mit Aktionen gelungen, «Schlimmes zu verhindern und Verantwortungsträger für die Problematik zu sensibilisieren». Doch die Arbeit sei weiter in vollem Gange, erklärt die Frau, die damals auch in Polit-Talkshows präsent war. «Die «Sexualpädagogik der Vielfalt» ist in Deutschland gleichwohl weiterhin auf dem Vormarsch.»
Also alles gut? Das Kultusministerium verweist auf Fortbildungen für Fachleute an den 28 schulpsychologischen Beratungsstellen im Land. Diese sollen ihr Wissen in Sachen sexuelle Vielfalt/Identität auch an Lehrer weitergeben. Zudem erstelle das Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) Baden-Württemberg für die Beratungsstellen und die rund 1650 Beratungslehrer an den Schulen eine Handreichung zu Themen der LSBTTIQ-Community (Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Menschen).
«Seit der groß angekündigten Qualitätsreform sind die Fortbildungsangebote für Lehrkräfte weniger geworden»
ZSL-Präsident Thomas Riecke-Baulecke betont: «Kinder in der Pubertät, die ihre eigene Geschlechtsidentität hinterfragen, können einen sehr großen Leidensdruck haben.» Hier brauchten die Verantwortlichen Sensibilität und müssten jeden Einzelnen ernst nehmen.
Doch aus Sicht der Kritiker ist das zu wenig – und kommt zu spät. «Leider gibt es für die Themen sexuelle Orientierung, sexuelle Identität und LSBTTIQ noch immer kaum didaktisches Material, Aufklärungsprojekte und Fortbildungen für Lehrkräfte und Schulleitungen», bemängelt die Landtagsabgeordnete Brigitte Lösch, die bei den Grünen die Belange von LSBTTIQ vertritt.
Und auch die GEW erwartet mehr Unterstützung für die Umsetzung der Ziele, die mit dem Bildungsplan verbunden sind. «Seit der groß angekündigten Qualitätsreform von Kultusministerin Susanne Eisenmann sind die Fortbildungsangebote weniger geworden», beklagt Landeschefin Monika Stein. Warum Lehrer dringend zum Beispiel Unterrichtsmaterial und Schulungen brauchen, macht sie an einem Beispiel deutlich: «Schwule Sau darf nicht länger eines der am meisten benutzten Schimpfwörtern auf deutschen Schulhöfen sein.»
Kerstin Fritzsche vom Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Baden-Württemberg berichtet ebenfalls, dass Schüler und Lehrer nach wie vor Angst hätten, sich zu outen. Immer wieder löst das Thema auch Kontroversen aus: So setzte das Theater Baden-Baden vor einigen Jahren ein Stück über ein schwules Känguru ab, weil Schulklassen ausblieben. Von «vermehrt gespaltenen Meinungen zum Stück bei einigen Lehrern und Eltern» war die Rede. Die Probleme sind also ganz real da und nicht nur in Theorie – und somit nicht nur auf Papier zu lösen.
Gefordert werden Studien, die einen Überblick über die Lage an Schulen geben sollen
Inzwischen ist das Kultusministerium CDU-geführt. Bei Ressortchefin Eisenmann sei sexuelle Vielfalt nie besonders hoch oben auf der Agenda gewesen, sagt LSVD-Sprecherin Fritzsche. Nun sei Eisenmann im Wahlkampfmodus, da habe das Thema auch keine Priorität. Grundsätzlich glaubt sie aber, dass alle Parteien – außer die AfD – verstanden hätten, dass Politik für LSBTTIQ gesellschaftlich wichtig sei und es sich um eine Querschnittsaufgabe handle.
Um einen Überblick über die Lage an den Schulen zu haben und die Umsetzung des Themas Vielfalt zu evaluieren, fordern LSVD, GEW und Grüne Studien. Was Lehrer konkret machen können, zeigt ZSL-Chef Riecke-Baulecke an einem Beispiel auf: So habe er früher als Sportlehrer in Schleswig-Holstein Tanzunterricht gegeben: «Da kann man das als völlig normal vorleben, dass man seinen Körper bewegt, dass Jungen mit Mädchen, Jungen mit Jungen und Mädchen mit Mädchen tanzen.» Zugleich sei es ein hochsensibler Bereich, weil es um Körperlichkeit gehe. Da sei es wichtig, dass die Lehrer genau hinschauten, ob es zu Konflikten oder gar Mobbing komme.
Das Thema sexuelle Vielfalt soll im Unterricht in vielen Fächern unter der Leitperspektive «Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt» behandelt werden. Das baden-württembergische Kultusministerium gibt Beispiele aus dem Bildungsplan:
– Biologie: Schüler in den Klassen 7 und 8 sollen das Thema Fortpflanzung und Entwicklung behandeln. Dabei ist vorgeschrieben, dass sie «unterschiedliche Formen der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität wertfrei» beschreiben und die «Bedeutung der Sexualität für die Partnerschaft (auch gleichgeschlechtliche)» beschreiben können.
– Gemeinschaftskunde: Schüler der Klassen 8 bis 10 beschäftigen sich mit dem Thema Familie und Gesellschaft. Dabei ist eine Anforderung, dass sie sich auch mit der sogenannten Pluralisierung von Lebensentwürfen befassen.
– Deutsch: Bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten in den Klassen 9 und 10 sollen Schüler eigene und fremde Lebenswelten differenziert vergleichen können – und das auch in Bezug auf geschlechtliche Identitäten oder sexuelle Orientierung.
– Ethik: Für die Klassen 9 und 10 ist eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen und Auffassungen von Liebe und Sexualität im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung vorgesehen, zum Beispiel durch Rollenbilder von Partnerschaft, Ehe, Familie, sexueller Identität oder Gender. Dabei soll es auch um Selbstbestimmung gehen. Ähnliche Vorgaben gibt es auch für den Religionsunterricht.
– Geschichte: Hier kann die Verfolgung von Homosexuellen zur Zeit des Nationalsozialismus thematisiert werden. Der Nationalsozialismus wird in den Klassenstufen 9 und 10 behandelt.
Sexuelle Vielfalt steht zwar in Lehrplänen, kommt aber im Unterricht kaum vor