BERLIN. Eine neue Variante des Coronavirus macht Experten nervös. Sie könnte es schwieriger machen, die Pandemie einzudämmen. Werden in den kommenden Monaten härtere und länger andauernde Maßnahmen nötig sein? Der britische Premier Johnson hat bereits reagiert – und Schulschließungen für England bis in den Februar hinein angekündigt. Möglicherweise sind Kinder besonders von Ansteckungen mit “B.1.1.7” betroffen.
Es sind minimale Veränderungen im Erbgut, doch die haben es in sich: Bestimmte neue Varianten des Coronavirus Sars-CoV-2 verbreiten sich schneller als die anfangs kursierenden. Die Folge: mehr Infizierte, mehr Kranke, eine höhere Belastung des Gesundheitssystems, mehr Tote. Für Europa ist derzeit vor allem die zuerst in Großbritannien entdeckte Variante B.1.1.7 relevant. Wird es fortan noch härtere und länger andauernde Maßnahmen als bisher schon geben müssen, um die Fallzahlen zu drücken?
«Das ist zu befürchten», sagt Friedemann Weber vom Institut für Virologie der Universität Gießen. Eine gefährliche Phase stehe bevor: «Wir befinden uns in der winterlichen Blütezeit respiratorischer Erkrankungen, und nun sattelt noch diese Variante drauf.» Zwar wurde B.1.1.7 bisher nur vereinzelt in Deutschland nachgewiesen. «Die Dunkelziffer dürfte aber hoch sein.»
Hierzulande wird das Virus-Erbgut von Corona-Infizierten nur selten entziffert. «Das macht niemand so gut, wie die Briten das machen», erklärt Weber. Es sei aus diesem Grund auch gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Variante in einem anderen Land entstand und in Großbritannien nur zum ersten Mal auffiel. Immer mehr Länder weltweit melden derzeit, B.1.1.7 ebenfalls nachgewiesen zu haben.
Die neue Corona-Variante ist womöglich bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte
Wegen der deutlich steigenden Zahl an Corona-Infektionen – mit fast 59.000 Corona-Neuinfektionen vermeldete Großbritannien gestern wieder einen Tagesrekord – gelten in England künftig wieder weitreichende Ausgangsbeschränkungen, wie die Deutsche Welle berichtet. „Wir müssen in England einen Lockdown verhängen, um die neue Corona-Variante in den Griff zu bekommen“, sagte Premierminister Boris Johnson in einer Fernsehansprache. “Das bedeutet, dass Sie zu Hause bleiben müssen.” Das Haus dürfe nur noch für notwendige Aktivitäten wie Arztbesuche oder die Arbeit verlassen werden. Schulen müssten schließen. Johnson sagte, die Maßnahmen würden vermutlich bis Mitte Februar in Kraft bleiben. Die in Großbritannien entdeckte Corona-Variante, die womöglich bis zu 70 Prozent ansteckender ist als die bisher bekannte, verbreite sich in „frustrierender und alarmierender Weise“, sagte Johnson.
Die anderen Regierungen des Vereinigten Königreichs haben ähnlich strikte Maßnahmen in Kraft gesetzt: So sollen beispielsweise auch die schottischen Schulen bis Februar geschlossen bleiben.
Bei Viren gibt es stetig zufällige Veränderungen im Erbgut, Mutationen genannt. Manche verschaffen dem Erreger Vorteile – etwa, indem sie ihn leichter übertragbar machen. Neben B.1.1.7 wurde im Dezember eine recht ähnliche Variante bekannt: 501Y.V2 in Südafrika. Die gute Nachricht: Fachleute gehen derzeit nicht davon aus, dass diese Erreger unempfindlich gegen die bislang zugelassenen Corona-Impfstoffe sind.
Für B.1.1.7 wird auch kein schwererer Krankheitsverlauf angenommen. Allerdings gilt tatsächlich als weitgehend gesichert, dass sich die Variante deutlich schneller verbreitet als frühere Formen. Forschern um Erik Volz vom Imperial College London zufolge liegt bei B.1.1.7 der sogenannte R-Wert unter den Bedingungen vor Ort um 0,4 bis 0,7 höher. Der Wert gibt an, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Bei einem R-Wert von 1 stecken 100 Infizierte 100 weitere Menschen an – bei einem R-Wert von 1,7 sind es mit 170 wesentlich mehr.
“Es gibt einen Hinweis darauf, dass das mutierte Coronavirus eine höhere Neigung hat, Kinder zu infizieren“
In Deutschland liegt der R-Wert dem Robert Koch-Institut zufolge momentan um 1. Es scheine anhand der verfügbaren Daten wahrscheinlich, dass B.1.1.7 bald auch hierzulande die dominierende Variante sein werde, erklärt der Virologe Jörg Timm von der Uniklinik Düsseldorf. «Ich halte eine Senkung der Fallzahlen grundsätzlich für eine nachhaltige Infektionskontrolle für notwendig. Wenn die Daten zur erhöhten Ansteckungsfähigkeit der neuen Variante stimmen – und davon gehe ich aus – dann wird die Aufgabe sicherlich schwieriger.»
Dazu kommt: Die neue Variante des Virus ist möglicherweise für Kinder ansteckender als bisherige, wie Wissenschaftler aus Großbritannien und den USA befürchten. „Es gibt einen Hinweis darauf, dass das mutierte Coronavirus eine höhere Neigung hat, Kinder zu infizieren“, sagte Prof. Neil Ferguson, Epidemiologe am Imperial College London und Mitglied von Nervtag, laut einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland. „Wir haben keine Art von Kausalität dafür festgestellt, aber wir können es in den Daten sehen. Wir werden mehr Daten sammeln müssen, um zu sehen, wie es sich in Zukunft verhält.“ „Besorgniserregende neue Daten“, so twitterte der Harvard-Forscher Eric Feigl-Ding. Die neue Coronavirus-Variante B.1.1.7 sei nicht nur grundsätzlich ansteckender, sondern insbesondere unter Kindern und Jugendlichen besonders ansteckend.
Weil sich die Variante schneller ausbreite, müssten Maßnahmen strenger sein, um den gleichen Effekt bei der Eindämmung zu erzielen, erklärt Adam Lauring, Experte für die Evolution von RNA-Viren an der US-amerikanischen Universität Michigan, in einem Podcast. «Wir müssen besser bei den Maßnahmen werden, um das Virus zu kontrollieren. Falls nicht, werden wir mehr Corona-Fälle sehen.» Das bedeute dann auch mehr schwere Erkrankungen und mehr Tote.
Je höher die Infektionszahlen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Mutationen gibt
Umgekehrt gilt: Wären die in Europa, den USA und anderen Ländern immens hohen Infektionszahlen besser eingedämmt worden, hätte es den neuen Erreger vielleicht nie gegeben. Insbesondere Varianten mit einem komplexen Mutationsmuster wie bei B.1.1.7 seien erst einmal selten, erklärt Timm. Bei hohen Infektionszahlen nehme aber die Wahrscheinlichkeit zu, dass sie entstehen und aufgrund eines Selektionsvorteils verbreitet werden. «Daher können auch aus dieser Sicht hohe Infektionszahlen für den Pandemieverlauf problematisch sein.»
Auch Weber betont: «Die Entstehung solcher Varianten resultiert daraus, dass so viel Virus unterwegs ist. Mutanten werden immer eher aus Ländern mit hohen Fallzahlen kommen.» Auch aus diesem Grund sei es wichtig, die Zahl der Neuinfektionen so gering wie möglich zu halten. «Und es zeigt einmal mehr, wie wichtig die Impfungen sind.» Auch Timm sagt: «Das Ziel einer erfolgreichen Impfung für die Weltbevölkerung hat oberste Priorität. Die mögliche Gefahr einer Verbreitung von neuen Varianten unterstreicht das noch einmal.» News4teachers / mit Material der dpa
