STUTTGART. Kinder mit Behinderung sollen in Baden-Württemberg trotz des verlängerten Corona-Lockdowns und fast flächendeckender Schulschließungen weiter in Präsenz unterrichtet werden. Die sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und körperliche und motorische Entwicklung bleiben nach Angaben des Kultusministeriums geöffnet – trotz des Lockdowns an den anderen Schulformen. Lehrer und Betreuer machen in einer Petition aber auf die besonderen Umstände an den Einrichtungen aufmerksam und fordern, die Schulen an SBBZ nur dann zu öffnen, wenn der Gesundheitsschutz gewährleistet ist.
«Die Einhaltung der Hygieneregeln gestaltet sich an unserer Schulart als fast unmöglich», heißt es in dem öffentlichen Schreiben an Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU). Abstand zu Schülern zu halten sei bei Pflegetätigkeiten wie Wickeln, Essen reichen und Anziehen unmöglich. «Im Gegensatz zu Pflegekräften im Krankenhaus, steht uns dafür aber keine entsprechende Schutzausrüstung zur Verfügung.» Auch der Unterricht erfordere an vielen Stellen direkte, körpernahe Zuwendung. Viele Kinder könnten nur mit Hilfestellung Regeln beim Husten oder Niesen einhalten oder Hände waschen, wiederum aber keine Masken tragen, machen die Autoren deutlich.
Geistig behinderte Schüler sind stark durch Corona-Infektionen gefährdet
«Am schwierigsten für uns ist es aber, dass unsere Schüler*innen zur Risikogruppe gehören», heißt es weiter. Wegen Einschränkungen bei der Kommunikation könnten sie nur schwer von Krankheitssymptomen berichten und würden daher vermutlich erst deutlich später als andere Menschen zum Arzt gebracht oder getestet. «In der Impfstrategie wurde dies zum Glück bereits berücksichtigt und Menschen mit geistiger Behinderung werden bereits in Gruppe 2 geimpft.»
Die Ausnahmeregelung für die SBBZ scheine all dies aber außer Acht zu lassen. Daher würden dringend Schutzausrüstung und Schnelltests benötigt und die Möglichkeit Wechselunterricht anzubieten, heißt es in der Petition. «Wir müssen so schnell wie möglich geimpft werden.»
Unterstützung kam aus den Landtagsfraktionen der SPD und FDP. «Diese Kinder und ihre Eltern fühlen sich komplett vergessen, die Lehrkräfte und Betreuer sowieso», erklärte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch. Sein liberaler Amtskollege Hans-Ulrich Rülke forderte unter anderem, Kinder und Lehrer an den SBBZ sollten bevorzugt geimpft werden.
Das Kultusministerium erklärte seine Entscheidung mit dem hohen Pflege- und Betreuungsbedarf der SBBZ-Schüler. «Bei einem Wegfall des Präsenzunterrichts stünden Eltern dieser Kinder vor enormen Herausforderungen, die sie in der Regel nicht alleine schultern können.» Ein weiterer Grund für die Entscheidung sei gewesen, dass Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung der geistigen oder motorisch-körperlichen Entwicklung noch einmal mehr als andere auf klare und regelmäßige Strukturen in ihrem Alltag angewiesen seien und ihnen das Wegfallen dieser Strukturen enorme Schwierigkeiten bereite.
Das Kultusministerium plant den Angaben zufolge, den SBBZ und den Schulkindergärten zu Beginn dieses Jahres noch einmal Schutzausrüstung zur Verfügung zu stellen, und steht dazu mit dem Sozialministerium in Kontakt. Die Einrichtungen hätten aber auch schon Hygieneartikel und Schutzausrüstung – wie FFP2-Masken, Einwegschutzkleidung und Einweghandschuhe – bekommen.
AOK-Daten: Sonderpädagogen sind öfter als andere Lehrer von Corona-Diagnosen betroffen
Nach einer Erhebung der Krankenkasse AOK sind Sonderpädagogen tatsächlich stärker als Lehrkräfte anderer Schulformen von Corona-Diagnosen betroffen. Angestellte Lehrkräfte (für die zumeist privatversicherten verbeamteten Lehrkräfte liegen der AOK keine Daten vor) waren demnach leicht unterdurchschnittlich von Krankmeldungen aufgrund von Covid-19-Infektionen betroffen. Grundschullehrer kamen auf hochgerechnet 1.004 Fälle je 100.000 Beschäftigte, Sekundarstufenlehrer auf 1.005 Fälle, Berufsschullehrer auf 1051 Fälle. Deutlich darüber rangieren allerdings Lehrkräfte an Sonderschulen mit 1.194 Fällen auf 100.000 Beschäftigte.
Bei der Einschätzung des berufsbedingten Infektionsrisikos ist allerdings auch zu berücksichtigen: In die Zeit März bis Oktober – den Zeitraum der Erhebung – fallen die Schulschließungen sowie die Sommer- und die Herbstferien, sodass die Präsenzzeiten für Lehrkräfte in den Schulen deutlich kürzer waren als die Präsenzzeiten anderer Berufsgruppen an ihren Arbeitsplätzen. Die Berufsgruppe, die am stärksten von Krankschreibungen im Zusammenhang mit Covid-19 betroffen war, sind Kita-Beschäftigte, noch vor Beschäftigten im Gesundheitsbereich. Im genannten Zeitraum haben 2.672 je 100.000 Kita-Beschäftigte krankheitsbedingt im Zusammenhang mit Covid-19 an ihrem Arbeitsplatz gefehlt haben. Damit liegt deren Betroffenheit mehr als das 2,2-fache über dem Durchschnittswert von 1.183 Betroffenen je 100.000 AOK-versicherte Beschäftigte. (News4teachers berichtete ausführlich über die Datenerhebung der AOK – hier geht es zum Bericht.) News4teachers / mit Material der dpa
Lehrkräfte fordern in einer Petition „Schulöffnungen am SBBZ nur, wenn der Gesundheitsschutz gewährleistet ist“. Im Petitionstext, der sich an Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) richtet, heißt es:
„Die aktuelle Ausnahmeregelung für unsere Schulart erweckt bei uns den Eindruck, dass Sie nicht genau wissen, welche besonderen Voraussetzungen gerade an unserer Schulart zu berücksichtigen sind. Wir möchten Sie daher mit diesem Schreiben darauf aufmerksam machen, unter welchen Bedingungen wir arbeiten. Im Frühjahr und Sommer haben wir viele Schreiben aus Ihrem Ministerium erhalten, in denen dargestellt wird, welche Regeln in Schulen einzuhalten sind, um den Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Viele dieser Regeln lassen sich aber nur begrenzt umsetzen an unserer Schulart.
Die Einhaltung der Hygieneregeln gestaltet sich an unserer Schulart als fast unmöglich. Abstand zu den Schüler*innen zu halten ist bei Pflegetätigkeiten (Wickeln, Essen reichen, An-und Ausziehen) natürlich nicht möglich. Im Gegensatz zu Pflegekräften im Krankenhaus, steht uns dafür aber keine entsprechende Schutzausrüstung zur Verfügung. Auch der Unterricht erfordert an vielen Stellen die direkte, körpernahe Zuwendung, z.B. weil Tätigkeiten mit Handführung durchgeführt werden. Die Regeln beim Husten oder Niesen einzuhalten, oder das Händewaschen, können viele unserer Schüler*innen nur mit Hilfestellung.
Wir tragen natürlich Masken – die ausgegebenen, möglicherweise ungeeigneten FFP2-Masken oder eben selbstgenähte Alltagsmasken. Viele unsere Schüler*innen können keine Masken tragen. Wir arbeiten also den ganzen Tag ohne Abstand und können uns selbst vor einer Infektion kaum schützen und dann natürlich auch nicht gewährleisten, dass wir das Virus nicht weitergeben. Wir unterrichten kleinere Lerngruppen, aber natürlich ist die Größe unserer Klassenzimmer diesen kleineren Lerngruppen angepasst. Mit Schulbegleitungen und mehreren Lehrkräften in einer Klasse, ist so auch das Abstandhalten zu den anderen Erwachsenen in der Regel nicht möglich.
Wir möchten möglichst konstante Gruppenzusammensetzungen unterrichten, nicht nur um im Infektionsfall wenige Schüler*innen in Quarantäne schicken zu müssen, sondern vor allem, um möglichst viele weitere Infektionen zu verhindern. Dazu haben wir – wie vermutlich alle anderen Schularten auch – Kohorten gebildet, getrennte Pausen- und Essenszeiten eingeführt, die Wegeführung optimiert, klassenübergreifende Lernangebote ausgesetzt, Lehrkräfte möglichst nur in einer Klasse eingesetzt.
Die schulinterne Kohortenbildung wird allerdings täglich durch die Zusammensetzung im Schulbus ad absurdum geführt. Dort sitzen die Kinder teilweise länger als 30 Minuten neben Schüler*innen aus anderen Kohorten – die teilweise aufgrund ihrer Behinderung keine Maske tragen können. Mit den für die Schülerbeförderung Zuständigen konnten nur bedingt Kompromisse, aber selten zufriedenstellende Lösungen gefunden werden. Am schwierigsten für uns ist es aber, dass unsere Schüler*innen zur Risikogruppe gehören. Viele Schüler*innen haben Vorerkrankungen und internationale Studien zum besonderen Risiko bei Menschen mit Behinderungen lassen uns immer wieder aufhorchen (vgl. z.B. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/117733/COVID-19-Extrem-hohes-Sterberisiko-von-Menschen-mit-Trisomie-21).
In der Impfstrategie wurde dies zum Glück bereits berücksichtigt und Menschen mit geistiger Behinderung werden bereits in Gruppe 2 geimpft. Ob wir selbst zur Gruppe der Lehrkräfte (Gruppe 4) gehören oder als enge Kontaktpersonen von Menschen mit geistigen Behinderungen schon früher geimpft werden, ist uns noch nicht klar. Die meisten unserer Schüler*innen haben Einschränkungen im Bereich der Kommunikation. Sie können also nur schwer von Krankheitssymptomen berichten und werden daher vermutlich erst deutlich später als andere Menschen zum Arzt gebracht oder getestet.
- Wir unterrichten also täglich Kinder und Jugendliche, die ganz besonders vor Corona geschützt werden müssen.
- Wir begegnen diesen Kindern nicht mit Abstand, sondern arbeiten körpernah mit ihnen.
- Die Hygieneregeln können die meisten unserer Schüler*innen nicht selbstständig einhalten.
Die Ausnahmeregelung, die Sie für unsere Schulart getroffen haben, scheint all dies außer Acht zu lassen. Wie können wir täglich in die Schule gehen, ohne in permanenter Sorge zu leben, uns in der Schule mit dem Virus zu infizieren und es an andere Schüler*innen weiterzugeben?
Wir leben und arbeiten in Stadt- und Landkreisen, die teilweise immer noch erschreckend hohe Inzidenzwerte haben – obwohl die aktuell ja kaum bewertbar sind. Die Gefahr infiziert zu sein, ist also kein unwahrscheinliches Szenario. Die aktuellen Maßnahmen scheinen nicht ausreichend für eine schnelle Senkung der Fallzahlen. Wir brauchen also Konzepte, mit denen wir die nächsten Wochen und Monate arbeiten können – letztlich bis wir und unsere Schüler*innen geimpft sind.
- Dazu brauchen wir dringend Schutzausrüstung, mit der wir uns selbst vor einer Infektion schützen können, um zu verhindern, unsere Schüler*innen zu infizieren.
- Wir brauchen Schnelltest, um frühzeitig Infektionen erkennen zu können.·
- Wir brauchen dringend die Beförderung in Kohorten, um eine weite Verbreitung des Virus im Falle einer Infektion zu verhindern.
- Wir brauchen dringend die Möglichkeit Wechselunterricht anzubieten, wenn die Inzidenzwerte in unseren Stadt- und Landkreisen so hoch sind, dass die Kontaktnachverfolgung den Gesundheitsämtern nicht gelingt.
- Wir müssen so schnell wie möglich geimpft werden.
Wir möchten unserem eigenen Anspruch an Bildung und Unterricht wieder gerecht werden. Das können wir aber nur, wenn wir unter Bedingungen arbeiten können, die der Pandemie und unserer besonderen Schülerschaft gerecht werden.“