BERLIN. Der Bund-Länder-Gipfel vereinbart am Dienstag, den Schulbetrieb bis zum 14. Februar weitgehend einzustellen – nur 24 Stunden später scheint das nicht mehr zu gelten: Jedes Bundesland macht mit den Schulen, was es will. Und viele wollen offenbar Präsenzunterricht. So auch Niedersachsen, wo seit Anfang der Woche die Grundschüler in wechselnden Schichten wieder zur Schule gehen. Und das soll, trotz der Gipfel-Beschlüsse, auch so bleiben. Nur die Schulbesuchspflicht wird gestrichen. Was ein Grundschullehrer, Leser von News4teachers, davon hält, hat er sich in einem Brief an die Landesregierung von der Seele geschrieben. Wir dokumentieren den Post.
Lehrer mit Seele, 20.01.2021 um 17:16 Uhr
Sehr geehrter Herr Tonne, sehr geehrter Herr Weil,
ich bin ausgesprochen dankbar dafür, dass Sie beide nicht direkt vor unseren Klassen stehen. Die Art und Weise, wie Sie in durchdacht jedes Schlupfloch nutzen beziehungsweise erzeugen, hat absolut nichts mit Vorbildfunktion zu tun.
Sie schaden hier vorsätzlich Schülern, Lehrern, Familien und treiben ganz nebenher eine Pandemie unnötig an, die es zu bekämpfen gilt.
Die Schüler in den Grundschulen haben gleichzeitig Wechselunterricht, Notbetreuung und Homeschooling.
Allein die notwendigen Hygieneregeln bringen Grundschüler an ihre Grenzen. Ich habe viele Kinder mit kaputtgewaschenen Händen gesehen und nie mehr Konflikte auf den Toiletten erlebt, als jetzt, wenn zwei kleine Jungs aus unterschiedlichen Klassen auf die Toilette mussten, die nur ein Kind betreten durfte. Nicht selten endete dies in nassen Hosen und einer Schamsituation, wie es sie in Schulen dringend zu verhindern gilt.
Das einzig pädagogisch Sinnvolle haben Sie leider vergessen, dass genau die Kinder, die wir dringend in die Schulen bringen müssten, weil sie aufgrund von Sprachschwierigkeiten, Lernückständen o. Ä. pädagogische Unterstützung benötigen, jetzt zu Hause bleiben.
“Wie man sich selbst klont, war nicht Teil unserer Lehrer-Ausbildung”
Die Lehrer haben jetzt eine Dreifach-Belastung. Selbst die, deren Kinder schon erwachsen sind, arbeiten so viel, dass sie kaum noch dazu kommen, mal anständig zu kochen. Rückmeldungen an Eltern gehen sogar noch sonntagsabends raus, weil sie regulär unterrichten, Notbetreuung stemmen, in der nachmittäglichen Notbetreuung aushelfen und alle Arbeitsblätter aus dem Homeschooling einzeln korrigieren. Vielleicht ist Ihnen das nicht bekannt, aber solche Dinge können selbst Lehrer nur nacheinander stemmen. Wie man sich selbst klont, war nicht Teil unserer Ausbildung.
Und nicht zu vergessen die Familien. All die Eltern, die keinen gemütlichen Bürojob haben, sondern sich in der Produktion, im Verkehr und in der Pflege körperlich kaputt machen, in ständiger Infektionsangst leben und mit schlechtem Gewissen ihre Kinder 8,5 Stunden notbetreuen lassen, um ihren Beitrag in dieser Gesellschaft leisten, dürfen jetzt gegen 17.00 mit vollkommen übermüdet und gestressten Kindern noch Hausaufgaben machen. Dies ist eine absolute Überbelastung für Menschen, die auf so Vieles verzichten, um unsere. Gesellschaft am Laufen zu halten.
“Lassen Sie endlich diese ewige Suche nach einem Schlupfloch!”
Ich spreche für viele Eltern, Lehrer und Schüler, wenn ich eindringlich bitte, die Entscheidungskompetenzen an die Leute abzugeben, die die Kinder kennen und nicht nur nach Zahlen entscheiden. Sollen die Eltern gern selbst entscheiden, ob die Kinder zu Hause unterrichtet werden können oder nicht. Aber basteln Sie bitte keine Kombinationen, die nicht umsetzbar sind wie „Szenario B + Notbetreuung“ und überlassen Sie den Schulen das Recht, für einzelne Schüler Präsenzpflicht anzuordnen. Wir haben schon vor Corona 8 Prozent Schüler ohne Abschlüsse gehabt. Für diese 8 Prozent, die in den letzten 30 Jahren niemand interessiert haben, werden jetzt um jeden Preis Schulen offengehalten. Das ist Augenwischerei und das weiß jeder, der sich damit auseinander setzt.
Lassen Sie endlich diese ewige Suche nach einem Schlupfloch und geben Sie die Entscheidungsgewalt an die Leute vor Ort, Schulen und Eltern. Bezüglich der Kinder, die uns jetzt genauso verloren gehen, wie schon all die Jahre zuvor, sollte man bitte mal generell unser Schulsystem modernisieren.
Schlussendlich noch eine Bemerkung zu Ihrem Kommentar in NDR. Sie sagten, sie wollen die Schulen auflassen, weil man den Kindern ja schon das freie Spielen, Sport und Musikvereine weggenommen habe. Das ist eine schöne Überlegung, aber leider nicht zu Ende gedacht.
“Wenn Sie unseren Kindern und uns allen Lebensqualität wieder geben wollen, setzen Sie den Lockdown um”
Wenn Sie meinen, dass die Kinder gerne vier bis sechs Mal am Tag bis zu 20 Minuten aufs freie Waschbecken zum Hände waschen warten, um sich dann mit Eiswasser abzuschrubben oder auf dem Schulhof zwei Meter Abstand halten, anstatt fangen zu spielen oder zu klettern, oder gerne vor den Toiletten von einem Bein aufs andere hüpfen, weil trotz 5 Toilettenkabinen nur ein Kind den Raum betreten darf, sind Sie wirklich weit außerhalb der Realität.
Wenn Sie unseren Kindern und uns allen Lebensqualität wieder geben wollen, setzen Sie den Lockdown um, so hart wie nur möglich. Nach zehn Monaten sinnlosem Hin und Her überstehen wir alle noch ein paar Wochen. Und dann mit Spaß und Lebensfreude zurück in die Schule, die Vereine und weg mit der Angst. Ja, das wäre nur ein Etappensieg. Aber den hätten sich alle, insbesondere die Kinder nach 10 Monaten verdient.
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