BERLIN. Im Streit über Öffnungen und Schließungen von Schulen bei steigenden Corona-Zahlen positionieren sich die Kultusminister der Länder klar für ein möglichst langes Offenhalten der Einrichtungen. Das wirkt angesichts der Lage zunehmend entrückt: In immer mehr Bundesländern wird der Schulbetrieb augrund von dramatisch steigenden Inzidenzwerten wieder eingeschränkt – selbst in Nordrhein-Westfalen, wo Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) seit Tagen öffentlich mit Kommunen streitet, werden Schulen in zwei Landkreisen wieder weitgehend geschlossen. Weitere dürften folgen.
Der Kontrast könnte größer kaum sein. Der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lars Schaade, sagte: «Das Infektionsgeschehen gewinnt an Dynamik.» Eine Verschlimmerung der Lage um Ostern, vergleichbar mit der Zeit vor Weihnachten, sei gut möglich. Der Anstieg der Fallzahlen sei real und nicht mit inzwischen mehr Schnelltests zu erklären. «Alle Szenarien, die wir sehen, laufen im Moment darauf hinaus, dass sich die Intensivstationen wieder sehr stark füllen», sagte auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Die steigenden Infektionszahlen könnten bedeuten, dass es vielleicht keine weiteren Öffnungsschritte geben könne, sondern «sogar Schritte rückwärts» nötig würden.
«Wir ringen um jeden Tag der Präsenzbeschulung für Schülerinnen und Schüler»
Die Kultusminister der Länder wollen sich hingegen dafür einsetzen, dass die Schulen in Deutschland so lange wie möglich offenbleiben – trotz steigender Corona-Zahlen. «Wir ringen um jeden Tag der Präsenzbeschulung für Schülerinnen und Schüler», sagte die brandenburgische Bildungsministerin und Präsidentin der KMK, Britta Ernst (SPD), am Freitag bei einer Pressekonferenz. Im Interview im «Bayerischen Rundfunk» fügte sie später hinzu: Man tue Kindern «etwas an», wenn Schulen monatelang geschlossen blieben. Die Aussage der Kultusminister sei ja nicht, Schulen um jeden Preis offen zu halten. «Aber was nicht geht, ist, dass andere gesellschaftliche Bereiche offengehalten werden, wie
Baumärkte, und die Schulen geschlossen werden.»
Bundesweit stieg die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen nun auf 96, wie das RKI am Freitag bekannt gab – am Donnerstag hatte diese Sieben-Tage-Inzidenz bei 90 gelegen. Es gibt aber weiterhin starke regionale Unterschiede – von jetzt 56 im Saarland bis 187 in Thüringen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sprach vom Beginn einer «fulminanten dritten Welle» und forderte: «Man kann es drehen und wenden wie man will, wir müssen zurück in den Lockdown.» Je früher man reagiere, desto kürzer müsse er sein, um wieder auf eine beherrschbare Fallzahl zu kommen.
«Ich befürchte, dass sich die Lage weiter verschlechtert. Wir sind in einer starken dritten Welle»
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sagte: «Ich befürchte, dass sich die Lage weiter verschlechtert. Wir sind in einer starken dritten Welle.» In der Hansestadt sollen gemäß der «Notbremse» ab diesem Samstag wieder die Regeln von vor dem 8. März gelten. Private Kontakte müssen sich auf eine Person außerhalb des eigenen Hausstandes beschränken. Kinder bis 14 Jahre sollen diesmal nicht mitgezählt werden. Die «Notbremse» sieht vor, Öffnungen wieder zurückzunehmen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einer Region oder einem Land an drei aufeinander folgenden Tagen auf über 100 steigt.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte vor den erneuten Bund-Länder-Beratungen: «Damit muss man rechnen, dass Dinge zurückgenommen und verschärft werden.» Angesichts vieler Ansteckungen in Kitas und Schulen könne es zudem sein, «dass wir da auch was ändern müssen». Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) sagte: «Ohne Kontaktnachverfolgung und ohne Testen bin ich nicht fürs Öffnen, da bin ich für gar nichts.»
Seit Februar wird an den meisten Grundschulen in Deutschland wieder unterrichtet. Zuletzt waren je nach Bundesland auch ältere Jahrgänge zumindest im Wechselbetrieb zurückgekehrt. Regional sind Schulen wegen steigender Corona-Zahlen aber auch schon wieder geschlossen worden.
- Über das Thema wird zum Teil erbittert gestritten, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die Landesregierung Entscheidungen lokaler Behörden zu geplanten Schließungen wieder einkassiert hatte. Jetzt aber eine erneute Wende: Nachdem die Staatskanzlei (offenbar über den Kopf von Schulministerin Gebauer hinweg) dem Kreis Düren schließlich doch genehmigt hatte, den Betrieb in weiterführenden Schulen bis auf die Abschlussklassen wieder in den Distanzunterricht zu verlegen, wird es nun auch im Oberbergischen Kreis Schulschließungen geben – sogar noch weiter reichende: auch die Grundschulen gehen dort in den Distanzunterricht. Weitere Kommunen dürften folgen: Mittlerweile haben 21 Kreise und kreisfreie Städte in NRW bei der Sieben-Tage-Inzidenz die kritische Marke von 100 überschritten.
- In Thüringen läuft die Diskussion andersherum: Die Stadt Gera muss ihren Schulbetrieb einstellen, will aber nicht. Ab Mittwoch (um zuvor allen Betroffenen die Gelegenheit zu geben, sich auf den Notbetrieb einzustellen) sollen die Schülerinnen und Schüler dort zu Hause bleiben, nachdem sich die Inzidenz in der Stadt auf 228,7 erhöht hat. Bei Überschreitung des Sieben-Tages-Inzidenzwertes von 200 ist in Thüringen nach Weisung des Gesundheitsministeriums der Präsenzbetrieb in Schulen auszusetzen. «Ich hoffe, dass am kommenden Montag im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz und der Bundesregierung abweichende Festlegungen noch beschlossen werden, um die Maßnahme noch abwenden zu können», sagte Oberbürgermeister Julian Vonarb (parteilos).
- Auch Bayern steuert Schritt für Schritt zurück in Richtung Schulschließungen. Am Freitag überschritt die Sieben-Tage-Inzidenz im bayerischen Durchschnitt laut RKI erstmals wieder den Wert von mehr als 100. 41 Land- oder Stadtkreise lagen mindestens bei diesem Wert, ab dem strengere Corona-Regeln gelten, nur noch vier unter der Marke von 50. Damit war zu erwarten, dass ab Montag weitere Schulen vom Regel- in den Wechselunterricht beziehungsweise vom Wechselunterricht in den Distanzunterricht gehen.
- In Sachsen ist die Lage vergleichbar. Wegen zu hoher Corona-Infektionsraten müssen auch in den sächsischen Landkreisen Meißen, Nordsachsen und Zwickau sowie im Erzgebirge ab Montag die Schulen und Kindertagesstätten schließen. Ausgenommen davon seien nur die Abschlussjahrgänge, wie das Kultusministerium mitteilte. «Ich bedauere die Entscheidung und verstehe die Verzweiflung der Eltern und Kinder», erklärte Kultusminister Christian Piwarz (CDU). Im den Landkreis Meißen lagen die Inzidenzwerte mehrere Tage in Folge über der kritischen 100er-Marke.
«Es gibt keine Altersgruppe, wo der Zuwachs der Fälle derzeit so ausgeprägt ist, wie bei den Kindern und den jungen Erwachsenen»
Im Vergleich zu allen anderen Lebensbereichen müssten Schulen am längsten geöffnet bleiben, heißt es hingegen im KMK-Beschluss. «In diesem Zusammenhang betonen die Kultusministerinnen und Kultusminister nachdrücklich, dass Kinder und Jugendliche nicht als Gefahr für alle an der Schule Beteiligten stigmatisiert werden sollen.»
SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach erklärte, dass die immer dominierender werdende britische Virusvariante sich über Schüler und Kinder besonders stark verbreite. «Es gibt keine Altersgruppe, wo der Zuwachs der Fälle derzeit so ausgeprägt ist, wie bei den Kindern und den jungen Erwachsenen.» Lauterbach forderte, der Aufbau der Teststrategie in den Schulen müsse höchste Priorität haben.
Tests für Schüler und Lehrer halten auch die Kultusminister für wichtig. Sie fordern allerdings vor diesem Hintergrund auch eine Prüfung, ob bei Entscheidungen über Schulschließungen künftig weiterhin vor allem die sogenannte Inzidenzzahl – also die Ansteckungszahl auf 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen 7 Tage – ausschlaggebend sein soll. Die Begründung: Wenn Kinder und Jugendlichen nun überall massiv getestet werden, werden automatisch mehr Fälle gefunden – und dadurch steigen auch die Inzidenzwerte. News4teachers / mit Material der dpa
Kritisch äußerten sich Bildungsgewerkschaften am Freitag.
«Wenn die Kultusminister die Schulen weiter öffnen wollen, müssen sie alles dafür tun, dass sie coronafreie Orte werden», forderte Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, der die Gymnasiallehrer vertritt. «Wir brauchen Impfangebote für alle Lehrkräfte, eine kluge Teststrategie und die nötigen Voraussetzungen dafür, nämlich ausreichend Selbst- und Schnelltests.» Wie gut es mit Tests von Schülern und Lehrkräften bisher klappt, sei regional sehr unterschiedlich.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE), der nach eigenen Angaben als Gewerkschaft mehr als 160.000 Pädagogen vertritt, kritisierte ebenfalls einen fehlenden Infektionsschutz an den Schulen. Mit Blick auf die vom Robert Koch-Institut vor wenigen Tagen veröffentlichten Zahlen, die einen starken Anstieg der entdeckten Infektionen bei Kindern gezeigt hatten, sagte Verbandschef Udo Beckmann, die KMK dürfe sich nicht vor Schulschließungen in Gebieten mit sehr hohen Inzidenzen verschließen. «Wir brauchen die klare Definition einer Notbremse für den Schulbereich.»
Kultusminister verabschieden sich vom Inzidenzwert – weil Schüler jetzt getestet werden
