DRESDEN. Sachsen war das erste Bundesland, das nach dem Lockdown im vergangenen Jahr seinen Schul- und Kitabetrieb ohne Abstandsregel wieder aufnahm – und das erste Bundesland, das dann im Herbst seinen Schul- und Kitabetrieb wieder komplett schließen musste, weil die Infektionszahlen explodierten. Gelernt hat die Landesregierung daraus offenbar die Lektion, dass sie das Infektionsgeschehen künftig besser ignoriert: Am Montag gehen die Kitas- und Schulen des Freistaats in einen Präsenzbetrieb – unabhängig von allen Inzidenzwerten.
Wenn Sachsens Schüler am kommenden Montag erneut zur Schule gehen, müssen sie „verschärfte Schutzmaßnahmen“ gegen das Coronavirus in Kauf nehmen – jedenfalls das, was das sächsische Kultusministerium unter „verschärften Schutzmaßnahmen“ versteht. Die Wahrheit ist: Die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts werden in Sachsen ignoriert. Die Abstandsregel sowie die Maskenpflicht gelten im Unterricht der Grundschulen nicht.
Gleichzeitig soll der in den vergangenen Monaten praktizierte Rhythmus aus Schulschließungen und -öffnungen Geschichte sein. Allerdings nicht, weil die Pandemie besiegt oder auch nur eingegrenzt worden wäre. Der Schulbetrieb wird einfach nicht mehr mit der Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner verknüpft. Er soll unabhängig von Inzidenzwerten laufen. Aus gutem Grund: Es gibt heute mehr Corona-infizierte Menschen in Sachsen als im Herbst. Die Inzidenz im Freistaat liegt aktuell bei 143 – nur Thüringen verzeichnet unter den deutschen Bundesländern ein stärkeres Infektionsgeschehen. Sachsen liegt bei der Zahl der Corona-bedingten Todesfälle mit 208,1 Fällen auf 100.000 Einwohner bundesweit mit großem Abstand an der traurigen Spitze, mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt in Deutschland (93,4).
Einzige echte Veränderung gegenüber der Situation im Herbst, als Sachsen angesichts dramatisch steigender Infektionszahlen als erstes Bundesland nach den Sommerferien die Schulen schließen musste: Es gibt jetzt eine Testpflicht. Der Schulbesuch ist nur mit Tests möglich – offiziell jedenfalls. Bisher mussten Schüler und Schülerinnen weiterführender Schulen einmal pro Woche eine ärztliche Bescheinigung oder ein negatives Testergebnis vorweisen. Mit der neuen Corona-Schutzverordnung wird die Testpflicht auf zwei Mal wöchentlich und zudem auf Grundschüler erweitert. Das Personal muss sich weiter wie bisher zwei Mal testen.
„Die Testpflicht darf nicht durch Selbstbestätigungen über ein negatives Coronatest-Ergebnis aufgeweicht werden“
Allerdings gibt es ein Schlupfloch für Corona-Verharmloser und -Leugner: Eltern oder volljährige Schüler können mit unterschriebenen Selbstbestätigungen über ein negatives Selbsttestergebnis die Testpflicht erfüllen – ohne einen Nachweis darüber erbringen zu müssen, dass der Test tatsächlich durchgeführt wurde und wirklich ein negatives Ergebnis zeigte. Der Sächsische Lehrerverband (SLV) sieht darin einen Unsicherheitsfaktor für den Gesundheitsschutz im Schulbetrieb. Für den SLV-Landesvorsitzenden Jens Weichelt ist das nicht akzeptabel: „Die Testpflicht darf nicht durch Selbstbestätigungen über ein negatives Coronatest-Ergebnis aufgeweicht werden!“, fordert er. Nach einer ersten Auswertung des Kultusministeriums vom 19. März gab es im Freistaat 3.400 Schüler, die eine Testung ablehnten.
Folgerichtig sagt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU): «Die Tests können die anderen Hygieneregeln und Vorsichtsmaßnahmen nicht ersetzen, sondern sollen die bisherigen Schutzmaßnahmen flankieren.» Welche Schutzmaßnahmen? In den weiterführenden Schulen orientiert sich das sächsische Kultusministerium noch grob an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts: Es ist Wechselunterricht vorgesehen, um die Abstandsregel einhalten zu können. Ab Klasse 5 müssen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrpersonal eine Maske auch im Unterricht tragen. Für Grund- und Förderschulen dagegen werden die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts ignoriert; die Abstandsregel sowie die Maskenpflicht gelten im Unterricht nicht.
„Die Schulen zu öffnen, ohne die Hygienekonzepte weiterzuentwickeln, das sehen wir sehr kritisch“
Im Auftrag der sächsischen Landesregierung beobachtet das Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig die Pandemie – dessen Befunde machen aber offenbar in Dresden wenig Eindruck. Dabei lassen die Wissenschaftler keinen Zweifel am Ernst der Lage.
„Das ist eine wirklich erschreckende Entwicklung, die wir dort sehen“, erklärte Projektleiter Prof. Dr. Markus Scholz bereits am 20. März gegenüber News4teachers. „Seit dem 15. Februar sind die Grundschulen in Sachsen geöffnet – ohne Masken im Klassenzimmer, ohne Luftfilter in den Klassenräumen und ohne Testkonzepte, also praktisch im gleichen Modus wie im Sommer, als wir eine ganz niedrige Inzidenzlage hatten. Und seitdem die Schulen geöffnet sind, steigen dort im Alterssegment der Schüler die Zahlen rapide. Wir hatten dort innerhalb von nur 3 Wochen eine Verdreifachung der Inzidenz, während alle anderen Altersgruppen nicht oder nur minimal stiegen. Das betrifft auch den Kita-Bereich. Auch bei den Kleinkindern steigen die Infektionszahlen massiv an.“
Scholz sagt: „Die Schulen zu öffnen, ohne die Hygienekonzepte weiterzuentwickeln, das sehen wir sehr kritisch. Es ist ein hohes Risiko, was man da eingeht.“ News4teachers / mit Material der dpa