HANNOVER. Vom 10. Mai sollen wieder deutlich mehr Schüler in Niedersachsen zum Unterricht in die Klassenräume kommen. Das Land verabschiedet sich von seinem strikten Corona-Kurs an den Schulen und verschiebt die regionale Inzidenz-Grenze für den Distanzunterricht von 100 auf 165. Unterhalb dieses Werts greift künftig das Wechselmodell mit geteilten Klassen. Die Kindertagesstätten wechseln dann in den eingeschränkten Regelbetrieb, wie Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) am Dienstag in Hannover bekanntgab. Gestern hatte bereits Bayern angekündigt, seine Grundschulen bis zu einem Inzidenzwert von 165 öffnen zu wollen.
«Wir können jetzt endlich wieder allen Kindern und Jugendlichen ein Angebot auf Bildung und Betreuung machen», sagte der Minister. Die Öffnung sei auch notwendig, weil sich die Kontaktbeschränkungen negativ auf die Entwicklung der Jugendlichen auswirkten. Gleichzeitig seien die Lockerungen an Sicherheitsmaßnahmen wie die verpflichtenden Selbsttests geknüpft, sagte Tonne. Auch die übrigen Hygienemaßnahmen, etwa das Lüften, Masketragen und Abstandhalten, sollen weiter gelten. Dann sei ein sicherer Schulbesuch möglich. «Wir haben keine Massenausbrüche in Schulen», behauptete Tonne.
“COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen insbesondere private Haushalte, aber auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld”
Das Robert-Koch-Institut (RKI) stellt unterdessen – bundesweit – sehr wohl Ausbrüche an Kitas und Schulen fest. “Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen insbesondere private Haushalte, aber auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld”, so heißt es im aktuellen Lagebericht.
Eine vollständige Rückkehr in den Präsenzunterricht stellte Tonne jedoch noch nicht in Aussicht – auch nicht für Regionen mit besonders niedrigen Inzidenzwerten. Dafür sei bis auf Weiteres der landesweite Inzidenzwert entscheidend, der aktuell knapp unter 100 liegt.
Niedersachsen setzt mit der Änderung die erweiterten Möglichkeiten für den Schulunterricht um, die der Bund im Rahmen der sogenannten Notbremse festgelegt hat. Derzeit liegen nach den Daten des RKI nur der Landkreis Vechta sowie die Städte Salzgitter und Delmenhorst über 165 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche. Der Landkreis Grafschaft Bentheim liegt mit 164,0 minimal darunter. Die bisher entscheidende 100er-Marke übertreffen dagegen insgesamt 16 Regionen, darunter etwa die Region Hannover.
Viele Schüler in Niedersachsen befinden sich inzwischen seit knapp fünf Monaten im reinen Distanzunterricht und haben ihre Schule seit Mitte Dezember nicht mehr besucht. Beim Wechselunterricht, dem sogenannten Szenario B, wird immerhin eine Hälfte der Schüler in der Schule unterrichtet, während die andere Hälfte zu Hause lernt. Die beiden Gruppen wechseln sich mit dem Präsenzunterricht ab.
Grundschulen in Bayern dürfen ab nächsten Montag auf breiter Front wieder für alle Klassenstufen im Wechselunterricht öffnen – nämlich schon bei einer regionalen Sieben-Tage-Inzidenz bis 165. Das kündigte Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder am Montag an. Die Lockerungen für Grundschulen begründete Söder damit, dass dort Distanzunterricht zum Teil mit Schwierigkeiten verbunden sei. Bei den weiterführenden Schulen dagegen sei dies anders: «Das funktioniert.» Hier will Bayern beim Distanzunterricht ab einem Inzidenzwert von 100 festhalten.
Die Bildungsgewerkschaft GEW erklärte zu der geplanten Öffnung in Niedersachsen, der Unterricht könne nach der langen Pause nicht einfach weitergehen als sei nichts gewesen. «Die Schülerinnen und Schüler, die schwere Zeiten hinter sich haben, benötigen nun dringend intensive pädagogische und psychologische Unterstützung», sagte Landeschefin Laura Pooth. Auch viele Schulbeschäftigte seien zermürbt. Minister Tonne mahnte ebenfalls eine Übergangsphase an und rief dazu auf, die Schüler nach ihrer Rückkehr nicht sofort mit Tests und Klausuren zu überhäufen. «Die Schule soll nicht mit Druck starten», sagte er. Der seit Pandemiebeginn verpasste Stoff könne auch in den nächsten Schuljahren noch aufgeholt werden.
Der Landeselternrat kritisierte indes die Anhebung des Grenzwerts auf 165 als unverantwortlich. Die Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen hätten sich zuletzt dramatisch erhöht, zudem gebe es für die Schüler bisher kaum Aussicht auf Impfungen.
„Es ist ein Trugschluss, Selbsttests als sicheres Mittel zum Schutz vor Corona anzusehen”
Auch der Lehrerverband VNL/VDR bezeichnete die Öffnung als «große Gefahr» für Lehrer und Schüler. „Die Aufgabe des bislang geltenden Inzidenzschwellenwerts zur Schließung der Schulen von 100 und die Erhöhung auf 165 können von uns zurzeit noch nicht mitgetragen werden, so sehr auch wir eine Normalisierung des Schulbetriebes herbeisehnen“, so erklärte Vorsitzender Torsten Neumann.
Er betonte: „Es ist ein Trugschluss, Selbsttests als sicheres Mittel zum Schutz vor Corona anzusehen. Es handelt sich jeweils um ein Momentergebnis, das bereits kurze Zeit später anders ausfallen kann. Die Impfung der an den Schulen im Sekundarbereich I und II Tätigen ist erst angelaufen. Impfangebote und Impftermine bedeuten noch lange keinen Schutz vor Corona. Ein noch nicht vollständiger Schutz vor Corona nach einer Erstimpfung setzt erst nach durchschnittlich drei Wochen ein, so dass von einem Gesundheitsschutz an unseren Schulen derzeit nicht gesprochen werden kann. Die zunehmenden gefährlichen Mutationen des Corona-Virus haben bei der Einschätzung des Kultusministers offenbar keine Berücksichtigung gefunden.“ News4teachers / mit Material der dpa
