HANNOVER. Bemerkenswerte Kehrtwende mit bundesweiter Sprengkraft: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat deutlich gemacht, dass das Land nach anfänglicher Zurückhaltung nun doch in Luftfilteranlagen für Klassenräume investieren will. Lange Zeit sei der Nutzen auch unter Experten umstritten gewesen, mittlerweile habe sich aber eine vorherrschende Meinung herausgebildet, die den Geräten eine hohe Wirksamkeit bescheinige. „Darauf sollten wir reagieren und in den Ferien die Gelegenheit nutzen, zahlreiche Klassenzimmer mit Luftfilteranlagen auszurüsten“, sagte der Regierungschef der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Noch vor Kurzem hatte Weils Kultusminister Grant Hendrik Tonne (ebenfalls SPD) – übereinstimmend mit der Kultusministerkonferenz – das Gegenteil erklärt.
Die Konkretisierung von Weils Vorstoß, die das Kabinett heute Mittag beschloss, erlaubt allerdings Zweifel an der Umsetzbarkeit – und am Sinn des Projekts: Die niedersächsischen Schulträger sollen 20 Millionen Euro vom Land erhalten. Das Geld ist dafür vorgesehen, die Klassenräume der Schuljahrgänge 1 bis 6 “etwa mit Fensterventilatoren” auszustatten, wie es heißt. Der Fokus liege auf den Schülerinnen und Schülern dieser Jahrgänge, da ihnen in absehbarer Zeit kein Impfangebot gemacht werden könne, erklärte Tonne. Mit den 20 Millionen Euro könnte bei einer 80-prozentigen Förderung rein rechnerisch für jedes der rund 25.000 Klassenzimmer der Schuljahrgänge 1 bis 6 in Niedersachsen eine sogenannte Zu- und Abfluftanlage (ohne Filter?, d. Red.) angeschafft werden. Mobile Luftfilter mit Sicherheit nicht: Ein solches Gerät kostet 3.000 Euro – nicht 1.000 Euro, wie nun pro Raum bereitgestellt werden. (Und was ist mit den Kitas?)
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) war vergangene Woche deutlich entschiedener vorgeschprescht: Er hat das Ziel ausgerufen, dass es bis zum Herbst in allen Klassenzimmern und Kita-Gruppenräumen im Freistaat einen mobilen Luftreiniger geben soll. Die Staatsregierung will den Kommunen dafür 50 Prozent der Anschaffungskosten erstatten, kündigte Söder an. Gestern zog Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) nach: Er schlug den Kommunen im Land ein Förderprogramm von 60 Millionen Euro vor, um daraus mobile Luftfilter für Schulen anzuschaffen – die Schulträger sollen die gleiche Summe drauflegen. (Auch hier stellt sich die Frage: Was ist mit den Kitas?)
Woher kommt das plötzliche Umdenken? Niedersachsens Kultusminister Tonne war noch vor vier Wochen völlig anderer Meinung als jetzt – er verwies in einem Brief an Amira Mohamed Ali, Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion, auf die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen. „Die Anwendung der Abstand- und Hygieneregeln und das infektionsschutzgerechte Lüften waren seit dem Beginn der Corona-Pandemie wichtige Bausteine zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens“, so schrieb Tonne an Mohamed Ali. Der Brief liegt News4teachers vor. „Daran werden wir auch weiterhin konsequent festhalten und gleichzeitig den Rahmen-Hygieneplan unter Einbeziehung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse kontinuierlich prüfen und weiterentwickeln.“
„Frische Luft ist gesund, das Lüften verursacht keinerlei gesundheitliche Risiken, auch keine Erkältungen”
Und weiter: „Mobile Luftreinigungsgeräte versprechen, virushaltige Partikel in Innenräumen zu reduzieren. Ob die Minderungen ausreichen, eine Infektionsgefahr in dicht belegten Klassenräumen abzuwenden, ist nach jetzigem Wissenstand unsicher.“ Tonne: „Vor dem Hintergrund dieser Bewertung erscheint mit dem heutigen Wissensstand eine Investitionsentscheidung zur Auflage eines Förderprogramms zur Ausstattung aller Schulräume mit mobilen Raumluftreinigern weder erforderlich noch sinnvoll begründet zu sein.“ Statt Luftfilter einzusetzen, so Tonne, sollen weiterhin (nur) die Klassenraum-Fenster regelmäßig aufgerissen werden – auch im kommenden Winter. „Frische Luft ist gesund, das Lüften verursacht keinerlei gesundheitliche Risiken, auch keine Erkältungen – im Gegenteil, das regelmäßige Lüften wirkt hier sogar vorbeugend.“
Tonne folgte in dieser Argumentation der Kultusministerkonferenz, die bereits Ende September 2020 eine Expertenanhörung zu dem Thema veranstaltet hatte und zu dem Schluss kam: „Die Experten waren sich einig, dass das Lüften in Schulräumen ein unerlässlicher Bestandteil der bereits in den Schulen angewendeten Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen sei. Sie rieten zum Stoßlüften (Fenster weit öffnen) im zeitlichen Abstand von 20 Minuten und für etwa 3 bis 5 Minuten Dauer sowie zum Querlüften (Durchzug) der Räume in den Pausen“, so hieß es in einer Presseerklärung, die die KMK im Anschluss herausgab. Weiter stand darin: „Der Einsatz von mobilen Luftreinigungsgeräten in Schulräumen, der derzeit in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert wird, wurde ebenfalls erörtert. Im Ergebnis kamen die Wissenschaftler überein, dass der Einsatz solcher Geräte grundsätzlich nicht nötig sei, wo Räume über Fenster gelüftet werden können.“ Das Problem: Die Darstellung war falsch.
„Ich teile die in der Pressemitteilung aufgeführte Meinung nicht, weil meine experimentellen Analysen diese Meinung nicht stützen“, so erklärte Prof. Christian Kähler vom Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Universität der Bundeswehr München seinerzeit gegenüber News4teachers. „Gemäß unserer wissenschaftlichen Analysen bieten Raumluftreiniger, die eine Luftwechselzahl von mindestens 6 pro Stunde schaffen, einen Filter der Klasse H14 nutzen und hinreichend leise sind, so dass sie nicht abgeschaltet werden, ein viel höheres Maß an Sicherheit vor einer indirekten Infektion als die freie Lüftung.“ Und dies habe er in der Expertenrunde mit den Kultusministern auch so dargestellt; die Pressemitteilung der KMK sei nicht mit ihm abgestimmt worden. Kähler war der einzige Experte in der Runde, der tatsächlich zum Einsatz von Luftfiltern in Klassenräumen geforscht hatte. Sein Befund ist mehrfach bestätigt worden.
Tatsächlich wissen die Kultusminister also bereits seit mindestens einem Dreivierteljahr, dass Luftfilter den Schulbetrieb sicherer machen – und haben immer wieder das Gegenteil behauptet (offensichtlich weil ihnen die Geräte zu teuer waren). Warum schwenken die Ministerpräsidenten aber jetzt um? Neue Erkenntnisse hat es nicht gegeben. Eine Hoffnung allerdings verflüchtigt sich gerade: die auf Impfung der Schülerinnen und Schüler nämlich. Mit ihrer Weigerung, den für Über-12-Jährige zugelassenen Impfstoff von Biontech für den generellen Einsatz zu empfehlen, hat die Ständige Impfkommission (Stiko) offenbar das Kalkül der Landesregierungen darauf, dass sich die Coronakrise für die Schulen mehr oder weniger von selbst erledigt, ins Wanken gebracht.
„In Pandemiezeiten muss es doch vielmehr um die Frage gehen, wie viele schwere Schäden durch eine Impfung verhindert werden können“
Aus seinem Ärger über die Stiko macht Ministerpräsident Weil auch gar keinen Hehl. Er sagte im Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, er könne deren Empfehlung, 12- bis 17-Jährige nur bei bestimmten Vorerkrankungen zu impfen, „überhaupt nicht nachvollziehen“. „Der Gegner, der aktuell auf dem Platz steht, heißt Delta-Variante. Und diese wird sich vor allem auf diejenigen konzentrieren, die nicht geimpft sind. Vorrangig junge Menschen also, für die es keine Impfempfehlung gibt, was wiederum eine gewisse Zurückhaltung bei Ärzten nach sich zieht“, kritisiert Weil. „In Pandemiezeiten muss es doch vielmehr um die Frage gehen, wie viele schwere Schäden durch eine Impfung verhindert werden können“, sagt Weil. „Die Stiko sollte ihre Haltung auch mit Blick auf die Zeit nach den Sommerferien noch einmal überprüfen“, fordert der Ministerpräsident.
Weil fügt hinzu: „Das nächste Schuljahr kommt bestimmt.“ Diese Erkenntnis hätte man den Kultusministern auch gewünscht. News4teachers
Wir haben den Artikel um 18 Uhr um den Beschluss der niedersächsischen Landesregierung aktualisiert, d. Red.
