BERLIN. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Prof. Dr. med. Thomas Mertens, zweifelt an der Sinnhaftigkeit von Massentests für Schüler. «Ich frage mich, wie wichtig es tatsächlich ist, jedes symptomlos infizierte Kind durch Testung zu entdecken», sagte Mertens der «Schwäbischen Zeitung». «Würde es möglicherweise reichen, jedes Kind mit Symptomen frühzeitig zu identifizieren und zu isolieren? Das mag zwar ketzerisch klingen, aber man sollte darüber nachdenken.» Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warf Mertens vor, damit eine Durchseuchung der Kinder in Kauf zu nehmen.

Wörtlich twitterte Lauterbach: “Wenn wir Kinder weder testen noch impfen ist unausgesprochene Strategie die Delta Durchseuchung. Das ist m. E. zu riskant. Zu viele Kinder würden schwerer erkranken oder hätten mit LongCovid zu rechnen. Testen plus Impfen wäre der bessere Schutz der Kinder.” Hintergrund: Die Stiko lehnt eine generelle Empfehlung der Impfung von Schülern ab, obwohl für Über-12-Jährige ein Impfstoff (Biontech) mittlerweile zugelassen ist.
Wenn wir Kinder weder testen noch impfen ist unausgesprochene Strategie die Delta Durchseuchung. Das ist mE zu riskant. Zu viele Kinder würden schwerer erkranken oder hätten mit #LongCovid zu rechnen. Testen plus Impfen wäre der bessere Schutz der Kinder https://t.co/MckdasYryf
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) July 5, 2021
Kritik zog Mertens auch vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) auf sich. Mertens schüre Vorurteile gegenüber Schnelltests ohne echte Alternative, sagte Verbandschef Udo Beckmann. Beckmann erinnerte besorgt an die Reisetätigkeit in den Ferien, die grassierende Delta-Variante und die Quote an Vollgeimpften von etwas mehr als einem Drittel. Mertens hatte argumentiert, alle Maßnahmen zum Infektionsschutz an Schulen sollten «auch hinsichtlich ihrer spezifischen Wirksamkeit» überprüft werden. Diese solle man «möglichst sinnvoll» einsetzen.
«Die Delta-Variante wird nach den Sommerferien sehr schnell durch die Schulen rauschen, wenn wir keine Vorsorge treffen»
Die Braunschweiger Virologin Prof. Melanie Brinkmann meint das auch – fordert deshalb aber für die Zeit nach den Sommerferien sogar ein erweitertes Testkonzept für die Schulen. «Ich finde es wichtig, auch Kinder und Jugendliche vor einer Infektion zu schützen», sagte die Wissenschaftlerin des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «Gerade jetzt, denn die Delta-Variante wird nach den Sommerferien sehr schnell durch die Schulen rauschen, wenn wir keine Vorsorge treffen.» Herkömmliche Schnelltests seien häufig zu unsicher. «Viel einfacher ist der sogenannte Lollitest oder ein Gurgeltest. Das spart Kosten und kann per PCR ausgewertet werden.»
Zustimmung zu Brinkmanns Vorschlag kam von Lauterbach: “Das sehe ich wie Melanie Brinkmann. Zu Schulbeginn wird es wieder keine Luftfilter geben. Stiko wird wohl leider keine Empfehlung zur Impfung machen. Dann geht nur gepoolter PCR plus Quarantäne. Durchseuchung mit Delta Variante kann keiner verantworten.”
Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) übt unterdesssen Kritik an der Stiko. Ihm, so Weil, bereite die Lage bei Jugendlichen und Kindern Sorge: «Wenn es dabei bleibt, dass die junge Generation nicht geimpft wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn wir genau in diesem Bereich im Herbst Probleme haben werden.»
“Die Stiko sollte ihre Haltung auch mit Blick auf die Zeit nach den Sommerferien noch einmal überprüfen”
Weil appelliert mit Nachdruck an die Stiko, ihre Haltung bei Corona-Schutzimpfungen für Kinder und Jugendliche zu überdenken. Der SPD-Politiker sagte im Gespräch mit der “Neuen Osnabrücker Zeitung”, er könne die Stiko-Empfehlung, 12- bis 17-Jährige nur bei bestimmten Vorerkrankungen zu impfen, “überhaupt nicht nachvollziehen”. “Der Gegner, der aktuell auf dem Platz steht, heißt Delta-Variante. Und diese wird sich vor allem auf diejenigen konzentrieren, die nicht geimpft sind. Vorrangig junge Menschen also, für die es keine Impfempfehlung gibt, was wiederum eine gewisse Zurückhaltung bei Ärzten nach sich zieht”, kritisierte Weil.
Gleichzeitig gebe es viele Länder, in denen auch Kinder und Jugendliche geimpft würden, was er für “absolut plausibel” halte. Er habe kein Verständnis dafür, dass die Stiko ihre üblichen Maßstäbe und die Frage, ob in wenigen Einzelfällen Impfschäden drohten, nicht an die bedrohliche pandemische Lage anpasse. “In Pandemiezeiten muss es doch vielmehr um die Frage gehen, wie viele schwere Schäden durch eine Impfung verhindert werden können”, sagte Weil. “Die Stiko sollte ihre Haltung auch mit Blick auf die Zeit nach den Sommerferien noch einmal überprüfen”, forderte der Ministerpräsident und fügte hinzu: “Das nächste Schuljahr kommt bestimmt.” Und wenn die Stiko meine, die Datenbasis reiche noch nicht aus, möge sie sich das Datenmaterial “schnellstens” beschaffen. “Schließlich gibt es inzwischen viele Tausend geimpfte Kinder und Jugendliche auf der Welt.” News4teachers / mit Material der dpa
