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Infektionszahlen unter Schülern explodieren – Lauterbach: “Wir verlieren bei den Kindern in NRW komplett die Kontrolle”

BERLIN. Die Corona-Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen wachsen exponentiell. Innerhalb von nur einer Woche hat sich in Deutschland die Inzidenz unter den Grundschülern (Fünf- bis Neunjährige) von 49,34 auf 98,82 sowie unter den Sekundarstufe-I-Schülern von 70,24 auf 143,1 verdoppelt. Dies geht aus dem aktuellen Wochenbericht zur Pandemie des Robert-Koch-Instituts hervor. NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) behauptet, dass die Risiken durch eine Corona-Erkrankung “viel viel” kleiner seien als die durch die Beschränkungen des Schul- und Kita-Betriebs. Wissenschaftler und das RKI bestätigen das nicht.

Bei Kindern läuft das Infektionsgeschehen offenbar aus dem Ruder. Illustration: Shutterstock

Vergleicht man die aktuellen RKI-Daten mit denen von vor vier Wochen – also vor Schuljahresbeginn im ersten Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern –, dann hat sich die Zahl der neuinfizierten Mittelstufen-Schüler in Deutschland versiebenfacht, die der neuinfizierten Grundschüler sogar verneunfacht. Keine andere Altersgruppe weist eine solche Dynamik aus. Die durchschnittliche Inzidenz in Deutschland liegt bei 59.

Regionaler Schwerpunkt des aktuellen Geschehens ist Nordrhein-Westfalen, wo in der vergangenen Woche das Schuljahr mit Präsenzunterricht begonnen hat. Die Inzidenz in NRW stieg seitdem um knapp 80 Prozent von 61 auf 108 – auch hier sind Schülerinnen und Schüler offenbar Treiber des Infektionsgeschehens. Für die Stadt Bonn beispielsweise wird unter Kindern aktuell ein Inzidenzwert von 474 angegeben. Bei den 5- bis 14-Jährigen in Leverkusen wurde bereits am Montag die Schwelle der 500 überschritten. Ähnliche Werte werden aus Solingen, Wuppertal und Hagen gemeldet.

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Das RKI meldet in seinem Wochenbericht zur Gesamtlage: „In Deutschland, wie auch im europäischen Ausland, werden die allermeisten Infektionen durch die Delta-Variante (B.1.617.2) verursacht. Der Anteil anderer SARS-CoV-2 inkl. weiterer besorgniserregender Varianten (VOC) liegt bei unter 1 %.“ Und: „Auch die Zahl der hospitalisierten Fälle ist weiter angestiegen. Die meisten hospitalisierten Fälle wurden in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen übermittelt, gefolgt von der Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen und der Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen.“

Bei Kindern ist offenbar – noch? – kein Anstieg bei den schweren Covid-19-Erkrankungen festzustellen. „Schwere Erkrankungen bleiben bei Kindern weiterhin selten. Weil Delta jedoch insgesamt ansteckender ist als die vorherigen Virusvarianten, sehen wir jetzt in den jüngeren Altersgruppen wieder mehr Infektionen“, erklärt Prof. Tobias Tenenbaum, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) ist sich gleichwohl sicher, dass den betroffenen Kindern dabei nichts passiert – auch dann nicht, wenn (wie er fordert) die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen im Oktober enden. „Jeder hat die Möglichkeit, sich vor schweren Verläufen zu schützen, und bei Kindern haben wir nach übereinstimmenden Aussagen der Kinderärztinnen und Kinderärzte praktisch keine schweren Verläufe“, sagt er in einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“. „Wir haben aber massive Risiken durch die Einschränkungen, beispielsweise durch Krankheiten, die sich ergeben aus Übergewicht.“

Es gehe nicht um Experimente – und der Begriff Durchseuchung sei „propagandistisch“, so der Minister. „Es wird ja der Politik immer vorgeworfen, wir würden uns nicht an die Wissenschaft halten. Ich finde, bei der Beurteilung der Risiken für Kinder, da ist doch die wichtigste Wissenschaft die Pädiatrie, das was die Kinderärztinnen und Kinderärzte sagen. Die sagen uns, dass die Risiken durch die Beschränkungen viel, viel höher sind“.

„Es gibt Studien, in denen zehn bis 15 Prozent der Kinder noch drei Monate nach einer Infektion unter Symptomen gelitten haben“

„Die“ Kinderärztinnen und Kinderärzte sagen das allerdings keineswegs. Zur Frage, ob es womöglich mehr Fälle unter Kindern mit Long Covid gibt, verweist zum Beispiel Mediziner Tenenbaum auf die unklare Datenlage. Außerdem gebe es in Deutschland keine genaue Definition der Erkrankung. „Es gibt Studien, in denen zehn bis 15 Prozent der untersuchten Kinder noch bis zu drei Monate nach einer Corona-Infektion unter andauernden Symptomen gelitten haben.“ Ob sich dieser Befund auf eine große Population übertragen lasse, sei offen.

“Es wird bei einer Ausbreitung des Virus an den Schulen fast zwangsläufig auch zu schweren Verläufen unter Schülern kommen”

Die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, Prof. Sandra Ciesek, weist darauf hin, dass sich bei der Delta-Variante rasch sehr viele Menschen infizieren können – eben auch viele Kinder. «Es wird also bei einer tolerierten Ausbreitung des Virus an den Schulen durch die große Anzahl an nicht geimpften Schülerinnen und Schülern fast zwangsläufig auch in dieser Gruppe zu schweren Verläufen kommen.»

Prof. Isabella Eckerle, Virologin der Universität Genf, fragt auf Twitter: „Jeder Erwachsene hat die Freiheit, sich für oder gegen die Impfung zu entscheiden, es ist eine persönliche Entscheidung. Kein Kita-/Schulkind < 12 hat noch die Möglichkeit, sich vor einer #SARSCoV2 Infektion #COVID19 mit Delta zu schützen. Ist das gerecht?“ Die Gegenüberstellung von „Bildung/Sozialkontakte vs. Infektionsschutz“ – wie sie von den Kultusministern gepflegt wird – sei ein falsches Narrativ. Eckert: „Inkaufnahme von hohen Infektionszahlen in der nicht-impfbaren Bevölkerung im kommenden Herbst ist unethisch und wird dem Opfer, das Kinder & Familien gebracht haben, nicht gerecht.“

“Niemand will im Wahlkampf darüber sprechen. Es läuft eine stille Durchseuchung der Kinder ab”

Der Schutz von Kindern unter zwölf Jahren wäre ihr zufolge „möglich durch „1) Niedrig-Inzidenz 2) konsequente Durchimpfung des erwachsenden Umfelds (Eltern & Betreuungspersonal) 3) engmaschige Testung an Kita/Schule 4) nicht-pharmazeutische Maßnahmen wie Luftfilter & Masken“. Eckert lässt erkennen, dass Impfstoffe auch für junge Kinder wohl bald verfügbar sein werden. „Effektive Impfung für Jüngere ist eine Frage der Zeit“, schreibt sie und fordert: „Bis dahin: Vorsorgeprinzip!“

Das gilt insbesondere in Nordrhein-Westfalen offenbar nicht mehr. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach twittert: „Bei den Kindern in NRW verlieren wir gerade komplett die Kontrolle. Und niemand will im Wahlkampf darüber sprechen. Es läuft eine stille Durchseuchung ab.“ News4teachers

Hier geht es zum aktuellen Wochenbericht des RKI.

Im „Laschet-Land“ (Spiegel) NRW explodieren die Inzidenzwerte – Lauterbach: Schulen werden das Geschehen anheizen

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