KARLSRUHE. War die Bundesnotbremse, mit der der Schul- und Kitabetrieb im Frühjahr massiv eingeschränkt wurde, mit dem Grundgesetz vereinbar? Die Frage, die das Bundesverfassungsgericht morgen beantworten will, ist nicht nur rechtshistorisch relevant: Offenbar hängt daran die Entscheidung der Ampel-Koalition, das neue Infektionsschutzgesetz gleich wieder zu ändern – und womöglich die erst seit vier Tagen ausdrücklich verbotenen Schulschließungen in der Fläche dann doch grundsätzlich zu erlauben. Sie wolle das Urteil abwarten, so erklärte Grünen-Chefin Annalena Baerbock gestern Abend bei „Anne Will“. „Nach Dienstag muss geschaut werden, ob alle Länder alle notwendigen Maßnahmen ergriffen haben.“ Das Urteil wird deshalb mit Spannung erwartet.
Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) hält angesichts der rasanten Corona-Entwicklung auch erneute Schulschließungen für möglich. „Jeder, der etwas kategorisch ausschließt, hat die letzten zwei Jahre etwas nicht mitbekommen“, antwortete er in der vergangenen Woche einem Bericht der „Hessenschau“ zufolge auf eine entsprechende Schüler-Frage. Geplant sei ein erneuter Wechsel in den Distanzunterricht zwar nicht, doch die Pandemie habe bereits viele böse Überraschungen bereitet, so Lorz. „Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass dieser Notfall nicht eintreten wird.“
„Die Ampel hat den Ländern ausdrücklich verboten, aus Gründen des Infektionsschutzes Schulen zu schließen“
Kann er derzeit auch gar nicht. „Die Ampel hat den Ländern ausdrücklich verboten, aus Gründen des Infektionsschutzes Schulen zu schließen“, so erklärt der Rechtsprofessor Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld auf Twitter. Tatsächlich heißt es im neuen, seit vergangener Woche geltenden Infektionsschutzgesetz, dass (§28a) „folgende Schutzmaßnahmen ausgeschlossen sind: (…) die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von §33“. In §33 heißt es dann: „Gemeinschaftseinrichtungen im Sine dieses Gesetzes sind Einrichtungen, in denen überwiegend minderjährige Personen betreut werden, dazu gehören insbesondere 1. Kindertageseinrichtungen und Kinderhorte, 2. die Kindertagespflege, 3. Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen, 4. Heime und 5. Ferienlager.“
Die Folgen des Gesetzes lassen sich bereits beobachten – im Corona-Hotspot Sachsen. Dort explodieren die Inzidenzen insbesondere unter Kindern und Jugendlichen. Ein Viertel der Schulen wurden bereits nach massiven Ausbrüchen für den Präsenzbetrieb geschlossen. Festgestellt und angeordnet werden muss das allerdings für jede einzelne Schule stets aufs Neue. Ein genereller Lockdown, so erklärt das Kultusministerium, sei eben rechtlich nicht mehr möglich.
Doch: Reicht das punktuelle Eingreifen, um die vierte Welle, die derzeit nahezu ungebremst durch Kitas und Schulen rollt, zu bremsen? Daran mehren sich die Zweifel. Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus brachte bereits ein Vorziehen der Weihnachtsferien „um ein bis zwei Wochen“ ins Gespräch – Schulschließungen also, die dann nicht Schulschließungen heißen würden (weil die ja ausdrücklich verboten sind).
Solchen Manövern – und eben auch einer Korrektur des Infektionsschutzgesetzes, über die Baerbock laut nachdenkt – könnte allerdings das Bundesverfassungsgericht nun einen Riegel vorschieben. Der konkrete Fall, weshalb sich das höchste deutsche Gericht mit der Bundesnotbremse beschäftigt, wirkt eigentümlich: Beschwerdeführerin ist eine Mutter – und Lehrerin. Die sei, so schildern es ihre Anwälte, im September 2020 eigens nach Berlin gezogen, um ihrem achtjährigen Sohn dort den Besuch einer Privatschule zu ermöglichen.
Der sei durch die Corona-Schutzmaßnahmen notwendig geworden. Durch den eingeschränkten Präsenzunterricht am vorherigen Wohnort hätten sich zunehmend negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes „sowie auf das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn“ ergeben. „Diese zunehmenden Schwierigkeiten veranlassten die Beschwerdeführerin einen neuen Ort zum Leben zu suchen, welcher der zweiköpfigen Familie neue Perspektiven, ein neues Lernumfeld für das Kind und eine Neujustierung des aufgrund der sogenannten Corona-Maßnahmen äußerst angestrengten Verhältnisses von Mutter und Sohn bieten würde“. Das habe die Bundesnotbremse, die Wechselunterricht ab einer Inzidenz von 100 und Distanzunterricht ab einer Inzidenz von 165 vorsah, aber verhindert.
“Die Beschwerdeführerin möchte ihrem Sohn uneingeschränkten Zugang zu Bildung und zu Gleichaltrigen ermöglichen“
Weiter heißt es im Begründungsschreiben: „Die Beschwerdeführerin sorgt sich vor diesem Hintergrund um die Entwicklung der sozialen, personalen, kognitiven und weiterer in der Schule erlernter Kompetenzen. Als studierte Bildungswissenschaftlerin hat sie sich eingehend mit dem Thema beschäftigt und weiß, dass sich grundlegende Kompetenzen unter Ängsten und Sorgen nur sehr eingeschränkt entwickeln. Daher möchte sie ihrem Sohn uneingeschränkten Zugang zu Bildung und zu Gleichaltrigen ermöglichen.“
Das Bundesverfassungsgericht hat 31 „sachkundigen Dritten“ Fragen zur Auswirkung von Schulschließungen geschickt, darunter dem Robert-Koch-Institut, dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Chef-Virologen der Berliner Charité, Prof. Christian Drosten. Als einzige Lehrervertretung – die Auskunft über Belastungssituation von Schülern und Lehrkräften in Schulen praktisch ohne Infektionsschutz in einer Pandemie geben könnte – wurde der Deutsche Lehrerverband einbezogen. News4teachers