BERLIN. Die geschäftsführende Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat angesichts der angespannten Corona-Lage dazu aufgerufen, Vorkehrungen für den sogenannten Fernunterricht zu verstärken. Tatsächlich scheinen die Kultusministerien mal wieder planlos in der Krise unterwegs zu sein – das könnte für die Landesregierungen nun aber auch rechtlich heikel werden: Das Bundesverfassungsgericht hat einen klaren Hinweis gegeben.
Es müsse aktuell alles versucht werden, Präsenzunterricht unter strengen Hygienevorschriften aufrecht zu erhalten, sagt Karliczek, «sofern dies epidemiologisch in den einzelnen Regionen zu rechtfertigen ist.» Aber: Man sehe, dass einige Schulen bereits wieder geschlossen sind und teilweise Wechselunterricht stattfindet. Karliczek: «Es sollten daher auch die Vorkehrungen für einen Distanzunterricht jetzt verstärkt werden.»
Ist das zu glauben? Fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie und seit Monaten steigenden Inzidenzen unter Schülerinnen und Schülern müssen die Kultusministerien der Länder vom Bund dazu aufgefordert werden, sich doch mal um möglichen Fernunterricht zu kümmern? Offenbar gibt es keine Notfallpläne der Bildungsverwaltungen, jedenfalls keine, die den Schulen bekannt wären.
«Um Doppelbelastungen für Lehrkräfte zu vermeiden, könnte eine landesweite Online-Schule die Lösung sein»
Beispiel Thüringen: Bereits im August schlug die GEW eine Online-Schule für die Dauer der Pandemie vor, damit Kinder nicht in den Präsenzunterricht gezwungen werden müssen. Auf Online-Unterricht spezialisierte Fachlehrer (zu ergänzen wäre: sicher auch Lehrkräfte, die aufgrund von Vorerkrankungen oder Schwangerschaft nicht im Präsenzunterricht einsetzbar sind) könnten bei Bedarf Schüler aller Klassenstufen der allgemeinbildenden Schularten ortsunabhängig unterrichten, erklärte der Landesverband der Gewerkschaft.
Dazu meinte Landesvorsitzende Kathrin Vitzthum seinerzeit: «Um Doppelbelastungen für Lehrkräfte zu vermeiden, aber auch das Anwachsen von weiteren Lernrückständen zu verhindern, könnte eine landesweite Online-Schule die Lösung sein.»
Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke) sprach auf Twitter von einer naheliegenden Idee, mit der sich sein Ministerium auch beschäftigen werde. «Wenn etwas spruchreif ist, werden wir das auch öffentlich vorstellen und diskutieren.» Bis heute: Fehlanzeige.
Das gilt offenbar auch für die anderen Bundesländer. Der Landeselternrat in Brandenburg kritisiert aktuell, dass Kinder beim Fernbleiben der Schule wegen der aufgehobenen Präsenzpflicht wegen Corona keinen Anspruch auf Lernangebote etwa per Video haben. «Das ist ein Armutszeugnis, dass Brandenburger Schulen das immer noch nicht können», sagte der Vorsitzende René Mertens am vergangenen Wochenende. Dafür fehle nach seiner Einschätzung vielerorts die notwendige Technik wie digitale Tafeln. «Gerade im Grundschulbereich sind sie auf so etwas nicht vorbereitet.» In einer ähnlichen Situation seien die Schulen schon vor einem Jahr gewesen.
«Damit einher geht im Falle von Schulschließungen eine digitale Unterrichtspflicht»
Pikant ist das auch im Hinblick auf das gestern ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse. Das billigte zwar die Schulschließungen vom Frühjahr, stellte aber ebenfalls fest: Die Länder waren verfassungsrechtlich verpflichtet, wegfallenden Präsenzunterricht nach Möglichkeit durch Distanzunterricht zu ersetzen.
Den Punkt greift Karliczeks Nachfolgerin, die designierte neue Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), in ihrem Statement zum Urteil auf. «Das Bundesverfassungsgericht hat erstmalig ein Recht auf Bildung anerkannt. Damit einher geht im Falle von Schulschließungen eine digitale Unterrichtspflicht», so erklärt sie.
Das könnte Landesregierungen in Schwierigkeiten bringen, wenn sie dafür bislang keine Vorbereitungen getroffen haben. Ist das der Grund, warum derzeit nicht über Schulschließungen, sondern über „verlängerte Weihnachtsferien“ diskutiert wird?
Gestern hatte sich Grünen-Vorsitzender Robert-Habeck dafür ausgesprochen. «Ich halte es für richtig, wenn die Weihnachtsferien in den Ländern, wo die Inzidenzen sehr hoch sind, vorgezogen werden», sagte er. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bekundete bereits Interesse an Gesprächen „mit allen darüber“. Der Deutsche Lehrerverband machte den Pferdefuß daran deutlich: Präsident Heinz-Peter Meidinger wies darauf hin, dass verlängerte Ferien ja echte Schulschließungen seien – es gehe dabei nicht nur um den Präsenzunterricht. «Da findet ja dann auch kein Distanzunterricht statt.»
Während die Kultusministerium von der Entwicklung – einmal mehr – überrascht zu sein scheinen, sind viele Schulen offenbar weiter. In Baden-Württemberg jedenfalls: Der GEW-Landesverband meldet via Twitter, dass die Vorbereitungen für Schulschließungen im Land bereits wieder angelaufen seien. «Niemand wünscht es sich, doch an vielen Schulen laufen Vorbereitungen für einen Wechsel in den Fernunterricht. Wo bleiben die Konzepte aus dem BaWü-Kultusministerium, wie Schule in der 4. Welle organisiert werden soll?» News4teachers / mit Material der dpa