BERLIN. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sieht für Schulschließungen „zum jetzigen Zeitpunkt“ keinen Anlass. Gleichzeitig räumte der SPD-Politiker allerdings ein, dass die Datenlage zur Frage, ob Omikron bei Kindern zu schwereren Krankheitsverläufen führen kann, „sehr schwierig auszuwerten“ sei. RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler warnte davor, mögliche Langzeitfolgen einer Infektion bei Kindern zu ignorieren – und sprach sich eindrücklich dafür aus, die S3-Richtlinie für den Schulbetrieb, die das Bundesbildungsministerium gemeinsam mit 40 Fachverbänden entwickelt hat, anzuwenden. Diese Richtlinie sieht bei sehr hohem Infektionsgeschehen Wechselunterricht vor.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach rechnet mit noch stärker steigenden Corona-Infektionszahlen, setzt aber auf eine Eindämmung durch weitere Alltagsbeschränkungen und mehr Impfungen. Die Strategie sei, die Omikron-Welle zu verlangsamen und zu strecken und in dieser Zeit so viele Menschen wie möglich mit Auffrisch-Impfungen zu boostern, sagte der SPD-Politiker auf einer Pressekonferenz gemeinsam mit den Professoren Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), und Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité.
Die Pandemie komme in Deutschland nun „in schwieriges Fahrwasser“, so Lauterbach. Das Ziel sei jetzt, „aus der sonst zu erwartenden steilen Wand der Infektionszahlen möglichst einen Hügel zu machen oder dass die Wand nicht so hoch ist“. Es sei aber ein Sonderproblem in Deutschland, dass es in der besonders gefährdeten Gruppe älterer Menschen viele Ungeimpfte gebe.
Für zusätzliche Verschärfungen sieht Lauterbach vorerst keinen Anlass – auch für Schulschließungen nicht. Aus seiner Sicht sei zur jetzigen Zeit „das richtige Maßnahmenpaket am Platz“, sagte er. Sollten die Fallzahlen aber noch deutlich steigen und eine Überlastung der medizinischen Versorgung zu erwarten sein, müsse auch mit anderen Maßnahmen gegengesteuert werden. „An dem Punkt sind wir nicht.“
Zur Frage, ob Kinder möglicherweise durch die Omikron-Variante stärker gefährdet seien als durch frühere Mutationen des Coronavirus, erklärte Lauterbach: „Die Datenlage zu Kindern ist sehr schwierig auszuwerten. Zuerst gab es ja sehr beunruhigende Daten, dass Kinder schwerer erkranken würden. Es gab auch eine gewisse Plausibilität dafür. Ich lese die Daten aber mittlerweile anders.“ Nämlich: „dass Kinder nicht schwerer erkranken, möglicherweise sogar leichter erkranken“. Das sei allerdings wissenschaftlich noch nicht endgültig geklärt.
„Wir sehen aber auf jeden Fall, dass Omikron sehr gut auf Schutzmaßnahmen wie Masken reagiert.“ Das habe damit zu tun, dass die Variante über einen relativ kurzen Zeitraum ansteckend sei. „Somit könnte es sein – das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht genau –, dass wir mit Maskentragen, Stoßlüften zwischen den Schulstunden, Isolation der infizierten Kinder und vielleicht einer Quarantäne, die sich auf einige wenige Kinder oder sogar nur tägliches Testen beschränkt, durch die Schulwelle hindurchkommen, ohne dass wir zu viel Schulausfall haben.“
„Ich möchte, dass nie vergessen wird, dass es eben auch Long-Covid und Post-Covid bei Kindern gibt“
Wieler betonte, dass die Datenlage über die Covid-19-Krankheitsschwere bei Kindern nicht eindeutig sei. Eine aktuelle Studie aus den USA, die Unter-Fünfjährige untersucht habe, zeige mildere Verläufe auf. „Ich rede aber nur von den akuten Krankheitsfällen, wir wissen ja nicht genau, was für Langzeitfolgen bei Covid auftreten.“ Hier komme eine weitere US-Studie aktuell zu dem Befund, dass Coronainfektionen Risiken für Folgeerkrankungen bergen. Das sei allerdings eine Diskussion, „die wir noch nicht richtig fassen können“. Der RKI-Chef mahnte mit Blick auf Kinder: „Ich möchte, dass nie vergessen wird, dass es eben auch Long-Covid und Post-Covid gibt.“ Wichtig sei deshalb, dass die vorliegende S3-Richtlinie für den Schulbetrieb, an der auch das RKI mitgewirkt hat, beachtet werde. „Wir hören ja alle von Anekdoten, dass bestimmte Regeln nicht vollzogen und kontrolliert werden“, sagte Wieler. Die Empfehlungen sollten jedoch unbedingt in den Schulen umgesetzt werden. „Dann kann man das auch im Griff haben.“
Hintergrund: Die damalige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hatte im vergangenen Februar die S3 Leitlinie für den Schulbetrieb vorgestellt, die unter 40 Fachgesellschaften abgestimmt worden war. Federführend waren vier medizinische Verbände beteiligt: die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie, die Deutsche Gesellschaft für Public Health, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin sowie die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie.
„Bei hohem Infektionsgeschehen soll eine gestaffelte Öffnung nach Jahrgängen und/oder eine Halbierung der Klassen erfolgen”
„Bei mäßigem Infektionsgeschehen sollte eine Kohortierung von Klassen/Jahrgängen erfolgen“, so heißt es in dem Papier beispielsweise. „Bei hohem Infektionsgeschehen soll zusätzlich zur Kohortierung von Klassen/Jahrgängen eine gestaffelte Öffnung nach Jahrgängen und/oder eine Halbierung der Klassen erfolgen. Bei sehr hohem Infektionsgeschehen sollen alle Maßnahmen umgesetzt werden.“ Was ein „hohes“ oder ein „sehr hohes“ Infektionsgeschehen ist, lässt die Leitlinie offen. Ohnehin vermeiden die Experten Festlegungen in brisanten Punkten: „Das Thema der Schulschließungen wird in der Leitlinie ausdrücklich nicht behandelt. Auch das Thema Testen wurde (…) ausgeklammert“, so heißt es in den Erläuterungen.
Weitere Empfehlungen dagegen: „Ab hohem Infektionsgeschehen soll ein medizinischer Mund-Nasen-Schutz zum Einsatz kommen.“ Und: Maßnahmen zum Infektionsschutz (Maskentragen, Reduktion des Personenaufkommens) sollen auf Schulwegen im öffentlichen Personennahverkehr und in Schulbussen umgesetzt werden.“ Dazu wird ausgeführt: „Eine Reduktion der Anzahl von Personen im ÖPNV kann auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden, u.a. Wechselunterricht oder gestaffelte Öffnung, versetzter Unterrichtsstart, Erhöhung der Taktung und der Verfügbarkeit der Verkehrsmittel.“
Zum Thema Lüften: „Es soll regelmäßig und ausreichend gelüftet werden. Korrektes Lüften erfolgt mittels Querlüftung bei weit geöffneten Fenstern alle 20 Minuten für 3-5 Minuten, im Sommer alle 10-20 Minuten, außerdem nach jeder Unterrichtsstunde über die gesamte Pausenzeit. Der Betrieb einer geeigneten Lüftungs- oder Raumlufttechnischen Anlage ist als gleichwertig anzusehen.“
Der Virologe Christian Drosten warnte auf der Pressekonferenz davor, auf eine Durchseuchung der Bevölkerung zu setzen. Drei Millionen der Menschen über 60 Jahren seien noch nicht geimpft, fast neun Millionen nicht geboostert und damit nicht vollständig gegen die Omikron-Virus-Variante geschützt. Irgendwann müsse man das Virus „laufen lassen“, weil man die Bevölkerung nicht immer wieder nachimpfen könne, doch sei es jetzt möglicherweise noch zu früh dazu. „Da sind wir ein bisschen im Blindflug.“
Nach Einschätzung von Wieler tritt Deutschland in eine „neue Phase der Pandemie“ ein. „Die reinen Fallzahlen werden weniger entscheidend sein. Wichtiger ist, wie viele Menschen schwer an Covid-19 erkranken und wie stark das Gesundheitssystem dann belastet sein wird“, sagte Wieler. Er warnte allerdings auch, selbst wenn Infektionen durch Omikron insgesamt milder verliefen, „durch die Masse an Infektionen müssen wir uns leider darauf einstellen, dass auch die Zahl der Hospitalisierungen und der Todesfälle natürlich wieder steigen wird“. News4teachers / mit Material der dpa
Hier lässt sich die S3-Leitlinie für den Schulbetrieb herunterladen.