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Streit um Präsenzpflicht: Darf der Staat Kinder in die Schulen zwingen, wenn er sie dort nicht schützt?

BERLIN. Lange hatte der Berliner Senat versucht, die Schulen ohne Wenn und Aber offenzuhalten. Nun ist der Druck von Elternseite zu groß geworden – die Präsenzpflicht wird ausgesetzt. «Es ist auch ein Eingeständnis der Politik, dass die Schulen – anders als zuvor versprochen – keine sicheren Orte mehr sind», sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, dem Nachrichtenportal «Business Insider». Die anderen Bundesländer, in denen Omikron ebenso heftig durch die Bildungseinrichtungen zieht, bringt das in Zugzwang.

Objekt staatlicher Verfügungsgewalt? Foto: Shutterstock

Angesichts steigender Corona-Infektionszahlen wegen der Omikron-Variante wird die Präsenzpflicht an Berliner Schulen vorläufig ausgesetzt. Ab dem heutigen Dienstag können Eltern selbst entscheiden, ob ihr Kind die Schule besucht oder zu Hause an Aufgaben und Projekten arbeitet und lernt. Mit der Entscheidung vollziehen die Bildungsverwaltung und der Senat einen Richtungswechsel. Zuletzt hatte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) immer betont, am Präsenzunterricht so lange wie irgendmöglich festhalten zu wollen. Dies sei aus bildungspolitischen wie auch aus sozialpolitischen Gründen wichtig.

Giffey begründete die neue Linie mit einer veränderten Lage. «Die Entscheidung, die wir getroffen haben, (…) basiert auf der Erklärung der Amtsärzte in den Gesundheitsämtern, dass sie eine Kontaktnachverfolgung in allen über 800 Schulen bei über 300.000 Schülerinnen und Schülern nicht mehr so nachvollziehen können», sagte sie nach den gestrigen Bund-Länder-Beratungen zum weiteren Vorgehen in der Corona-Pandemie, auf dem beschlossen wurde, neben PCR-Tests auch die Kontaktverfolgung bundesweit auf den Gesundheitssektor zu priorisieren und damit die Schulen praktisch davon auszunehmen – die Berliner Situation gilt also bald überall.

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Giffey: «In diesem Moment, wo wir eine solche Situation haben, solche Fallzahlen haben, ist auf der einen Seite für uns wichtig, dass wir den Schulbetrieb aufrechterhalten, dass es ein Angebot weiter gibt.» Gleichzeitig machten sich aber auch manche Eltern Sorgen und würden gerne selbst entscheiden, ob sie ihr Kind in die Schule schicken oder nicht. Das sei nunmehr unkompliziert möglich.

«Es wird allgemein befürchtet, dass diese Entscheidung dazu führt, dass die soziale Spaltung zwischen den Kindern verschärft wird»

Der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid sprach hingegen von einer «entsetzlichen Dummheit». «Wir wurden in keiner Weise beteiligt, es ist eine einsame Entscheidung der Senatorin gewesen», sagte er. Der Widerstand und die Wut im Hygiene-Beirat, in dem die Politik sich mit Bezirken, Amts- und Kinderärzten und Schulleitungen über das Vorgehen in der Corona-Pandemie berät, sei «maximal». «Es wird allgemein befürchtet, dass diese Entscheidung dazu führt, dass die soziale Spaltung zwischen den Kindern verschärft wird», sagte Larscheid. Die Frage ist allerdings: Welche Legitimation hat ein Amtsarzt (Larscheid meldete sich ja nicht als Privatmann zu Wort), öffentlich die Zwangsdurchseuchung von Kindern zu fordern?

Denn genau darum geht es: Der Staat kann (und will) die Schülerinnen und Schüler nicht mehr vor den Infektionen einer in ihren Folgewirkungen immer noch weitgehend unbekannten Seuche schützen. Darf er dann noch Kinder per Schulpflicht in die Schule zwingen?

Das Verwaltungsgericht Leipzig hat die Frage im Mai 2020 schon einmal verneint, als die Eltern von zwei Grundschülern wegen der Streichung der Abstandsregel in den Klassenräumen gegen die Präsenzpflicht klagten. Die Richter urteilten: «Die getroffene Regelung, nach der die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern bei Schülern der Primarstufe der Grund- und Förderschulen während des Unterrichts im Klassenraum nicht erforderlich ist, verstößt gegen die aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates i. V. m. dem Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG und verletzt den Antragsteller in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und auf Gleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 1 GG.» Sachsens Staatsregierung nahm das Urteil seinerzeit zum Anlass, die Schulbesuchspflicht auszusetzen, für Grundschüler jedenfalls.

Der Epidemiologe Prof. Dr. med. Hajo Zeeb vom Bremer Leibniz-Institut für Präventions­­forschung und Epidemiologie geht davon aus, dass Berlin nicht das letzte Bundeslandsein wird, das die Präsenzpflicht in der Omikron-Welle aussetzt. Zeeb betont gegenüber dem Redaktions­netzwerk Deutschland, dass die Aufhebung der Präsenzpflicht aus epidemiologischer Sicht sinnvoll sei, um Kontakte zu reduzieren.

«Allerdings muss man bedenken, dass nicht alle Eltern ihre Kinder zu Hause lassen und dort betreuen können. Es gehen also weiterhin Kinder in die Schule und können sich dort anstecken», sagt er. Außerdem führe die Aufhebung der Präsenzpflicht zu mehr Ungleichheit, weil nicht alle Kinder zu Hause von ihren Eltern unterstützt werden. Präsenz­unterricht müsse grundsätzlich vorgezogen werden, solange gute Schutz­bedingungen durch die Schulleitungen gesichert werden könnten.

«Die Debatte wird oft von Kreisen dominiert, die mit Schulschließungen gut umgehen können»

Das meint offenbar auch Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland. Er will die Präsenzpflicht beibehalten. «Die Debatte wird oft von Kreisen dominiert, die mit Schulschließungen gut umgehen können», behauptet er in einem Interview mit dem „Spiegel“. «Es ist ein Unterschied, ob ein Oberstufenschüler in einem gut ausgestatteten Jugendzimmer lernt oder ob wir es mit Grundschulkindern oder mit Kindern und Jugendlichen aus sozial nicht so gut gestellten Familien zu tun haben.»

53 Prozent der Kinder in Hamburg hätten einen Migrationshintergrund. In 28 Prozent der Familien werde kein Deutsch gesprochen und mehr als ein Drittel beziehe Hartz IV, sagte er. «Viele haben kein eigenes Kinderzimmer und leben in engen Wohnungen. Das sind alles Rahmenbedingungen, die man mitdenken muss.» Diejenigen, die die Debatte zurzeit in Deutschland bestimmten, würden das oft ausblenden, «weil sie nur ihre persönliche Lage sehen».

Wieso allerdings die Präsenzpflicht für alle nötig sein soll, um besonders förderbedürftige Kinder und Jugendliche in Präsenz besonders fördern zu können? Das erschließt sich nicht – meint jedenfalls Hamburgs Linken-Fraktion. «Das starre Festhalten an der Präsenzpflicht an den Schulen ist zu einem Zwang zur Infektion geworden», erklärt deren schulpolitische Sprecherin, Sabine Boeddinghaus. Gerade bei jungen Menschen, die zur vulnerablen Gruppe gehörten, gingen die Inzidenzen durch die Decke. Boeddinghaus fordert Rabe zum Handeln auf: «Ich erwarte von ihm, sich endlich vom Dogma der Präsenzpflicht zu lösen und die Voraussetzungen für ihre Aussetzung an den Schulen zu schaffen.»

Das Kinderhilfswerk Unicef mag die Landesregierungen nicht so einfach aus ihrer Verantwortung entlassen – weder in die eine noch in die andere Richtung. In einer Reaktion auf die Berliner Entscheidung erklärt Sebastian Sedlmayr, Abteilungsleiter Advocacy und Politik bei Unicef Deutschland: «Mit der Entscheidung übertragen Politik und Verwaltung die Verantwortung, ob Kinder zur Schule gehen, vollständig an die Eltern. Das Versprechen, Schulen zuletzt zu schließen, droht damit unterlaufen zu werden.»

Weiter erklärt er: «Wir appellieren an die Landesregierungen, diese Maßnahme nur so kurz wie möglich gelten zu lassen. Gleichzeitig sind sofortige flankierende Maßnahmen notwendig wie die Ausstattung von Schulklassen mit Luftfiltern und die Aufnahme von Distanzunterricht. Wenn Kinder nicht zum Präsenzunterricht kommen, muss ein engmaschiger Kontakt insbesondere zu gefährdeten Schülerinnen und Schülern sichergestellt werden.» Im Klartext: Die Aufhebung der Präsenzpflicht entbindet die verantwortlichen Politiker nicht davon, sich um besonders förderbedürftige Schülerinnen und Schüler zu kümmern.

Und wie? Sedlmayr: «Die Entscheidung der Landesregierung macht eindringlich klar: Investitionen in bauliche und digitale Infrastruktur, in Lehrkräfte und weiteres pädagogisches sowie psychologisches Personal an den Schulen dürfen nicht länger aufgeschoben werden. Es sollten alle notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, damit Schulen nicht wieder schließen müssen.»

Ähnlich argumentiert Lehrerverbands-Präsident Meidinger. Es sieht durch den Verzicht auf die Präsenzpflicht große Schwierigkeiten auf die Schulen zukommen: Ein geordneter Unterrichtsbetrieb und eine angemessener Lernfortschritt seien kaum möglich, weil die gleichzeitige Betreuung von Präsenz- und Distanzlernenden durch Lehrkräfte im Grunde nicht umzusetzen sei. Hinzu komme, dass zum Teil gerade die Kinder zuhause blieben, die die direkte persönliche Unterstützung durch Lehrkräfte besonders brauchten und schon Lernlücken hätten. «Die Lücken werden in diesem Zeitraum eher größer als kleiner werden», sagt Meidinger. News4teachers / mit Material der dpa

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