NÜRNBERG. Keine Klassen, kein fester Stundenplan, keine Noten. Das soll Schule sein? Wir sprachen mit Christian Schuster, Schulleiter der privaten Jenaplan-Grundschule in Nürnberg, über den Alltag und die Besonderheiten des rund 100 Jahre alten reformpädagogischen Konzepts.

Wenn Christian Schuster zur Arbeit geht, dann wird oft gefeiert. Und damit sind nicht nur Ostern, Sommerfest oder Weihnachten gemeint. „Auch kleine Feiern sind bei uns ganz wichtig“, sagt der Schulleiter der Jenaplan Grundschule in Nürnberg. „Heute hatten zum Beispiel einige Kinder ihr Arbeitsheft fertig“, erzählt er. „Dafür gab es Applaus und das tut den Kindern gut – gerade jetzt, denn in den letzten zwei Jahren war es ja ein bisschen schwierig zu feiern.“
Schuster ist vor 14 Jahren als „ganz normaler Grundschullehrer“ an die 2003 gegründete freie Schule gekommen. Davor hatte er die Gelegenheit, verschiedene Schulformen kennenzulernen. Doch die alternative Pädagogik blieb für ihn am interessantesten und im Jenaplan fand er schließlich das passende Konzept.
Was bedeutet Jenaplan?
Auch wenn jede Schule den Jenaplan anders mit Leben füllt, bleiben die vier Grundsäulen des in den 1920er Jahren von Peter Petersen entwickelten Konzepts immer gleich: Arbeit, Gespräch, Spiel und Feier tragen das sogenannte Jenaplan-Haus. Der Jenaer Erziehungswissenschaftler und Schulleiter nannte sein Konzept nach amerikanischem Muster „Plan“. Im Zentrum seiner Pädagogik steht das Kind in der sozialen Gemeinschaft, dem die Schule Raum zum entdeckenden, forschenden Lernen geben soll. In Deutschland gibt es heute 68 Schulen, die nach diesem Konzept arbeiten. Die meisten Jenaplan Schulen, etwa 230, sind in den Niederlanden zu finden. In Nürnberg gibt es neben der Grundschule noch ein Jenaplan-Gymnasium und insgesamt mit knapp 15% einen hohen Anteil von Schüler*innen, die eine Schule in freier Trägerschaft besuchen.
Die Jenaplan-Grundschule Nürnberg besuchen in diesem Jahr 123 Kinder in fünf jahrgangsübergreifenden Stammgruppen. Neben der Kernzeit, in der die Kinder frei arbeiten, findet Fachunterricht in kleinen Gruppen statt. „Einen Pausen- oder Stundengong gibt es bei uns nicht“, erklärt Schulleiter Schuster. Und auch sonst habe die Schule einen freien Umgang mit Zeit: „Das Kind bekommt bei uns Zeit anzukommen, in Beziehung mit den anderen Kindern und den Pädagog*innen zu treten. Weil wir der Meinung sind, erst dann wenn das Kind sich wohl und sicher fühlt, kann es auch frei sein fürs Lernen“, so der Lehrer.
Leistung oder Laissez-faire? Beides!
Es gebe Kinder, die in der ersten Klasse noch überhaupt kein Interesse an Buchstaben und Lesen hätten, erzählt Schuster. Dafür seien sie vielleicht in Mathe schon weiter. „Wir vertrauen und arbeiten mit dem Kind, so dass der Knoten irgendwann platzen wird“, erklärt er. „Und wir freuen uns, wenn auch die Eltern dieses Vertrauen haben und gelassen bleiben.“ Diese Geduld aufzubringen, sei sicherlich nicht jedermanns Sache.
Entspannung statt Druck? Kann das gutgehen? Christian Schuster lacht. „Ich habe noch keines unserer Kinder an die weiterführende Schule entlassen, das nicht lesen, schreiben, rechnen konnte. Wir sind sicherlich keine Kaderschmiede fürs Gymnasium, aber unsere Schüler*innen liegen im ganz normalen Durchschnitt. Manche sind akademisch besser, manche sind nicht so gut in der Schule“, so der Schulleiter. Noten gibt es an Jenaplan-Schulen übrigens bis zum Schluss nicht. Am Ende der 4. Klasse müssen die Kinder, die nicht an eine freie Schule wechseln, deshalb einen externen Probeunterricht ablegen um ihre Befähigung fürs Gymnasium oder die Realschule unter Beweis zu stellen.
„Wenn Kinder die Fähigkeit haben, zum Beispiel auf ein Gymnasium zu gehen, dann packen sie auch diese Prüfung“, weiß Schuster. „Diese Erfahrung machen wir jedes Jahr. Es braucht zusätzliche Übung, das ist klar. Denn die Prüfungsaufgaben kennen sie nicht, und sie kennen auch den Druck nicht, weil sie bei uns keine Prüfungen in dem Sinne schreiben.“
Klassenarbeiten oder Tests sieht der Jenaplan nicht vor. Stattdessen arbeiten Schuster und sein Team mit Wochenplänen und geben individuelles Feedback, wenn ein Kind zum Beispiel Probleme hat, seinen Aufsatz fertigzustellen. Jeder darf im eigenen Tempo arbeiten. Erledigt werden müssen die Aufgaben aber schon.
„Laissez-faire ist auch bei uns nicht angesagt“, so Schuster. „Wenn ein Kind zum Beispiel mit einer Aufgabe nicht fertig wird oder sie nicht machen will, nützt es aber nichts Druck aufzubauen. Es gibt immer Gründe für das Verhalten. Und wenn sich im Gespräch herausstellt, dass ein Kind gerade absolut keine Geschichte schreiben möchte, dann gibt es Alternativen, für die ich es motivieren kann. Ob das jetzt ein Brief an die Mama ist oder ein Rezept oder andere Möglichkeiten, die ja sowieso auch in der Schule durchgenommen werden. Wir begleiten und ermutigen die Kinder und zeigen Wege auf. Aber gehen muss den Weg dann das Kind.“
Mit den Eltern stehen die Pädagog*innen immer im engen Austausch über den Lernprozess ihres Kindes. Diese regelmäßige Kommunikation und vertrauensvolle Zusammenarbeit sei ein wichtiger Punkt und stelle sicher, dass immer klar ist, was und warum etwas in der Schule geschieht.
Feedback statt Noten
Grundsätzlich gehört Feedback zu den wesentlichen Elementen der Jenaplan-Pädagogik und erklärt vielleicht auch, weshalb Noten nicht nötig sind. An der Nürnberger Grundschule gibt es darüber hinaus die Besonderheit, dass jede Gruppe von einem Dreier-Team aus Lehrkraft und Sozialpädagog*innen oder Erzieher*innen betreut wird. Mindestens zwei Pädagog*innen sind immer zeitgleich im Einsatz und können ihre eigene Perspektive auf das Kind und das soziale Verhalten der Gruppe beisteuern, wenn es um Rückmeldungen an Eltern und/oder Kind geht. Lehrkraft und Sozialpädagog*in unterhalten sich in Schusters Gruppe zum Beispiel etwa alle vier Wochen mit dem Schüler oder der Schülerin und schreiben ihr Feedback dann so auf, dass sowohl Eltern als auch Kind es nachvollziehen können.
Auch darüber hinaus sind Kinder für die Lehrkräfte Gesprächspartner auf Augenhöhe. „Wenn ich zum Kind eine gute Beziehung habe, kann ich auch mal streng sein, und wir sind uns trotzdem grün. Aber wichtig ist, es ihm zu erläutern und nicht einfach auf Regeln zu beharren“, ist Schuster überzeugt.
Demokratische Bildung gehört dazu
Die Kinder dürfen an seiner Schule deshalb auch viel mitreden und mitbestimmen. „Wenn die Kinder ihre Anliegen begründen können, dann können wir darüber reden“, so der Pädagoge. „Dazu müssen wir Lehrkräfte natürlich auch schon mal flexibel sein und unsere Unterrichtsplanung anpassen. Es gibt aber natürlich Sachen, die werden nicht diskutiert. Im Schulklo die Wand zu beschmieren, macht vielleicht Spaß, geht aber nicht. Punkt. Jemanden auf die Nase hauen oder über die rote Ampel laufen auch nicht. Das sind Regeln, die gelten für alle in der Gesellschaft.“
Manchmal ist Christian Schuster auch nur Beobachter und die Kinder übernehmen. Dann gehen die Gruppensprecher*innen mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen im morgendlichen Sitzkreis den Tagesplan durch oder die Viertklässler machen mit den Erstklässlern ein Mathetraining. „Sich zurücknehmen können ist ganz wichtig. Das musste ich auch erst einmal lernen“, so Schuster. „Ich glaube aber, dass das im Lehrerberuf immer mehr gefragt ist. In meiner Ausbildung damals war noch eher die führende Rolle verlangt. Hier an der Jenaplan-Schule sind wir Lehrpersonen hingegen Beobachter, Partner, Trainer und Entertainer – je nach Persönlichkeit in unterschiedlicher Ausprägung.“
Voraussetzung sei aber die notwendige Zeit für die Beschäftigung mit dem Kind. An Regelschulen fehle die oft. „Wir müssen zwar auch nach dem bayerischen Lehrplan unterrichten und werden vom Schulministerium regelmäßig überprüft, haben aber viel mehr Freiräume. Und wir hetzen nicht von einer Probe beziehungsweise Klassenarbeit zur nächsten“, so der Schulleiter. Die Kollegen und Kolleginnen an staatlichen Schulen würden auch in Sachen Digitalisierung immer wieder ausgebremst durch bürokratische Hürden.
Digitalität und Reformpädagogik? Passt gut!
„Auch hier können wir als private Schule viel freier unsere Entscheidungen treffen. Die Zukunft wird nicht weniger digital werden und deshalb müssen wir einen praktikablen Weg finden“, sagt Schuster, der seine Schule in Sachen Digitalisierung gut aufgestellt sieht. „Digitale Medien kommen uns im Endeffekt zugute. Sie haben einen ganz anderen Aufforderungscharakter und wenn ich sehe, wie manche Apps und Tools Kinder unterstützen, die beispielsweise beim Lesen oder Schreiben Probleme haben, dann sind sie vielleicht nicht unbedingt ein Segen aber durchaus eine große Hilfe“, so Schuster weiter. Seine Devise: Hin zu einem sinnvollen und bewussten Umgang mit Digitalität, weg von dogmatischen Glaubenssätzen wie „Jedes Kind muss den Füllerführerschein machen“. Auch das gehöre zum Auftrag, Kinder zu mündigen Menschen zu erziehen.
„Wir versuchen, das Kind in all seinen Facetten zu sehen und die Schulzeit, die ja ganz viel Lebenszeit einnimmt, so zu gestalten, dass Lernen Spaß macht“, sagt der Schulleiter. „Das gelingt uns auch nicht immer. Auch wir schweben schließlich nicht auf Wolken. Aber dieses Menschenbild hinter Jenaplan, für sich selbst und andere offen zu sein und sich in der Gemeinschaft mit anderen weiterzuentwickeln, das ist glaube ich auch das, was uns als Pädagogen und Pädagoginnen ausmacht.“ Sonja Mankowsky / Agentur für Bildungsjournalismus
Mehr zum Menschenbild der Jenaplan Schule Nürnberg sowie eine deutliche Distanzierung von politischen Ansichten und Äußerungen des Jenaplan-Begründers Peter Petersen (s. Kasten u.) finden Sie unter dem Titel “Unsere Schule – ein Ort der Menschenwürde” auf der Website der Schule zum Download.
Seit 1927 gibt es Jenaplan-Schulen in Deutschland. Sie sind nach dem Reformpädagogen Peter Petersen benannt, der seit 1923 eine Professur am Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft an der Universität Jena innehatte. Seit einigen Jahren wird Kritik am Begründer des Jenaplan-Konzepts laut. Peter Petersen wird eine Nähe zum Nationalsozialismus nachgesagt.
Petersen gehörte zwar nicht der NSDAP an, hielt aber während des Krieges Vorlesungen vor der Nazi-Elite und Vorträge im KZ Buchenwald. Der Frankfurter Antisemitismusforscher Benjamin Ortmeyer veröffentlichte im Jahr 2009 das Werk „Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“. Darin finden sich Texte von Peter Petersen, die auf nationalsozialistisches Gedankengut schließen lassen. Im Jahr 1941 hatte Petersen einen Text mit dem Titel „Es gibt rassische Hochwertigkeit. Sie verpflichtet!“ veröffentlicht. Nach 1933 integrierte Petersen das nationalsozialistische Rassenkonzept in seine Pädagogik. Für die Hitlerjugend fand er anerkennende Worte. Sie diene der „Leistungssteigerung des Volkes.“
In seinem 1941 erschienenen Text schreibt Peter Petersen von „Herrenvölkern.“ Es sei die Pflicht hochwertiger Völker und Rassen, ihr Erbgut reinzuhalten. Andere Äußerungen Petersens richten sich gegen Juden. Auch in seinem Buch „Der Mensch in seiner Erziehungswirklichkeit“ klagt Peter Petersen 1949 darüber, dass das deutsche Volk „rassisch verunreinigt“ sei.
Die Verteidiger des Konzepts der Jenaplan-Schulen halten dagegen, dass Petersens Reformpädagogik in ihren humanistischen Grundzügen nichts mit der NS-Ideologie zu tun habe. Petersens Verhalten ist ihrer Auffassung zufolge eine Art politischer Pragmatismus gewesen, mit dessen Hilfe er sein pädagogisches Konzept durch schwierige Zeiten gebracht habe. Der Jenaer Historiker Jürgen John hingegen wirft den Petersen-Verteidigern Verdrängungstendenzen vor. Die NS-Zeit würde von ihnen einfach ausgeblendet.
Peter Petersen wurde 1884 nahe Flensburg geboren und starb 1952 in Jena.
Themenwochen Privatschulen auf News4teachers: Nutzen Sie die Bühne für Ihr Content-Marketing!



