DÜSSELDORF. Über Waldorf – mit rund 250 Einrichtungen immerhin eine der erfolgreichsten reformpädagogischen Bewegungen in Deutschland – gibt es eine Menge von Vorurteilen. Etwa das, dass an Waldorfschulen grundsätzlich nicht mit digitalen Medien unterrichtet wird. Das stimmt so nicht. Richtig allerdings ist: An Waldorfschulen ist die Digitalisierung kein Selbstzweck. Wie die Bewegung mit der Entwicklung umgeht, beschreibt unser Gastautor Christian Boettger von der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in seinem folgenden Beitrag.
Christian Boettger Foto: Wolfgang Schmidt – info@wolfgang-schmidt-foto.de
Lernen mit allen Sinnen – Waldorfpädagogik heute – Zukunftsperspektiven und Chancen
Waldorfpädagogik versteht sich selbst als eine Pädagogik, die einerseits versucht den Entwicklungs- und Lernbedürfnisse der einzelnen Kinder so gerecht wie möglich zu werden und andererseits die jungen Menschen auf die aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen, die auf sie nach ihrer Schulzeit zukommen, vorzubereiten. Schule wird als ein Lernort verstanden, an dem Kinder mit allen Sinnen lernen und vor allem sich auch kreativ und künstlerisch betätigen können.
Die Spannung zwischen den Lern- und Entwicklungsgeschwindigkeiten des einzelnen Menschen und der Beschleunigung[1] der Entwicklung der Gesellschaft wird allerdings immer größer. Gerade die letzten zwei Jahre der Unterrichtsbelastungen durch die Pandemie haben unseres Erachtens gezeigt, dass der digitale Fernunterricht nur sehr bedingt einen nachhaltigen Lernerfolg bei den Kindern erzielt. Gerade den Bedürfnissen der jüngeren Kinder scheint er am wenigsten entsprochen zu haben. Und das, obwohl sich alle Lehrerinnen und Lehrer ganz besonders bemüht haben, auch im digital gestützten Fernunterricht so viel Abwechslung wie möglich zu bieten. So bietet das Projekt #waldorflernt seit Sommer 2020 interessierten Kolleginnen und Kollegen eine digitale Lern- und Austauschplattform an, auf der neue Lern- und Arbeitsformen in analogen, hybriden und digitalen Formaten erarbeitet werden.
Zentral für die Waldorfpädagogik ist der Weg, der vom realen Erleben über ein analoges Verständnis zu einem Umgang auch mit digitalen Werkzeugen führt. Dieser Weg wird nicht nur entwicklungsbezogen auf die Bedürfnisse der verschiedenen Altersstufen als wichtig angesehen, sondern wir sind auch davon überzeugt, dass er zu einer Nachhaltigkeit der Lernerfolge beiträgt.
Aus der Verbindung mit der Welt entsteht Verantwortungsbewusstsein nachhaltiger als durch alle moralischen Appelle und Einsichten
Dieses reale Erleben der Pflanzen und Tierwelt, auch der Erfahrung des realen Wachstums von Getreide auf dem Acker bis hin zur Ernte und dem Genuss des selbstgebackenen Brotes, selbstverständlich mit einer darauffolgenden altersgemäßen Reflektion des Geschehens, kann zu einem nachhaltigen und verantwortungsbewussten Umgang mit der Umwelt führen. Gerade in Zeiten der Diskussion um das Weltklima werden wir den lebensnahen und tätigen Kontakt zur Landwirtschaft und ökologischen Verantwortung in den Waldorfschulen in Zukunft sogar noch stärken. Aus der Verbindung mit der Welt entsteht das Verantwortungsbewusstsein nachhaltiger als durch alle moralischen Appelle und Einsichten.
Ein zweites Beispiel: Wenn heute und in der Zukunft in der Waldorfschule ein großer Wert auf die Handschrift gelegt wird, so geht es bei dem für die Kinder mühseligen Weg um mehr als nur das Schreibenlernen. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass in wenigen Jahren nicht einmal die Tastaturen der Laptops gebraucht werden, weil alles nur noch über Sprachsteuerung funktionieren wird, geht es beim Schreibenlernen um die Koordinationsfähigkeit und die Selbstwirksamkeitserfahrung, wenn Kinder ihre Hände so gezielt bewegen können, dass eine wirklich schöne Schrift herauskommt. Dabei werden sehr viele Sinne aktiv verwendet, denn die Wachsfarben, die Buntstifte und schließlich die Tinte riechen jeweils anders, Seh-, Tast- und Eigenbewegungssinn werden in einer fein koordinierten Abstimmung geübt und schließlich kommt es auch darauf an ästhetisch zu gestalten.
Ein weiterer Fachbereich war von Anfang an dabei und sollte in der Zukunft sogar noch intensiver als Lern- und Ausbildungsraum seinen Platz in der Schule behaupten: Es ist das Werken. Im Angebot der Waldorfschulen sind: Holzwerken bis zum Schreinern, Handarbeit vom Stricken und Häkeln bis zur Herstellung eines eigenen Kleidungsstücks an der Nähmaschine, Spinnen und Weben, Metallbearbeitung im Kupfertreiben und Schmieden, plastisches Arbeiten in Ton, Holz und Stein und schließlich auch Kartonage und Buchbindearbeiten.
Die digitalen Technologien werden nicht verteufelt, aber sie werden auch nicht so uneingeschränkt positiv gesehen, wie vielfach propagiert
Einerseits geht es in all diesen Bereichen um ein erstes Kennenlernen dieser Handwerke, aber auch darum, Fertigkeiten im Umgang mit den verschiedenen Materialien zu gewinnen, und schließlich wieder um die Selbstwirksamkeitserfahrung in der kreativen Tätigkeit. Gerade in der heute durch digitale Prozesse bestimmten Welt scheint es dem Menschen wichtig zu sein, diese elementaren Erfahrungen an den Materialien zu erleben. Nicht wenige Berufe heute erfordern von Ingenieuren und Designern eine umfangreiche Materialkenntnis. Die tiefen Erlebnisse in der Schulzeit werden sich nachhaltig in einen kreativen und wertschätzenden Umgang mit der Welt einprägen.[2]
Wenn wir in der Waldorfpädagogik betonen; dass der Lernweg der Kinder immer in der realen Welt der Sinne anfängt, sich in der analogen Welt fortsetzt und schließlich durch die Welt der digitalen Technologien ergänzt wird, so folgt dieser Ansatz auch der Sicherheit, dass viele der heute angewendeten Technologien in der Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen allenfalls die Rolle von Dampfmaschinen in unserer eigenen Kindheit spielen werden.
Damit werden die digitalen Technologien nicht verteufelt, aber sie werden eben auch nicht so uneingeschränkt positiv gesehen, wie vielfach propagiert. In einem jüngst mit verschiedenen Preisen ausgezeichnete Dokumentarfilm „#KidsonTech“[3] wird vom Filmemacher Paul Zehrer eindrücklich gezeigt, wie wichtig es ist, die Kinder in ihrer Entwicklung nicht von dem ungeheuren Tempo der technologischen Welt überrollen zu lassen. In der Kürze dieses Beitrags ist nicht der Platz, das Konzept der Medienpädagogik an Waldorfschulen im Detail auszuführen, dieses haben wir kompakt dargestellt in der Broschüre „Medienpädagogik in Waldorfschulen“[4].
Eine Pädagogik der Zukunft geht unseres Erachtens von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit eines jeden Menschen aus. Dies erfordert von dem Lernraum Schule das tägliche Bemühen, diese Individualität in ihren Lern- und Entwicklungsbedürfnissen wahrzunehmen und zu fördern. Das bedeutet für uns an der ersten Stelle eine verbindliche Lerngemeinschaft von Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrerinnen und Lehrern. An zweiter Stelle folgt die entwicklungs- und altersbezogene Antwort auf die Lernanforderungen, die die Kinder in die Schule mitbringen. Wir denken, dass die Gesellschaft in den letzten zwei Jahren wahrgenommen hat, wie unverzichtbar ein funktionierender Lernort Schule für die gesamte Gesellschaft ist.
Aber es geht um mehr als Aufbewahren und Versorgen der Schüler:innen. Eine Schule, die eine innere und tiefe Befriedigung der Lernbedürfnisse und eine Gemeinschaft von gleichaltrigen Lernpartner:innen ermöglicht und gleichzeitig Selbstwirksamkeitserfahrungen bietet, sichert die Resilienz der gesamten Gesellschaft. Der Anspruch der Waldorfpädagogik an ihre Lehrerinnen und Lehrer ist hoch und sie können dem nicht immer vollumfänglich gerecht werden, aber empirische Studien zeigen, dass Eltern und Jugendliche diesen pädagogischen Anspruch dennoch wahrnehmen und schätzen[5]. Wir haben gezeigt, dass auch unsere Gesellschaft in Deutschland solche Schulen in freier Trägerschaft braucht, um Innovationen in den Bildungsangeboten auszuprobieren. Christian Boettger, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen.
Quellen:
[1] Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin, 8. Aufl. 2021
[2] Zu der Geschichte und Entwicklung des Werkunterrichts siehe: Heller, Dieter: Die Entwicklung des Werkens und seiner Didaktik von 1880- 1914, Bad Heilbrunn 1990, Pallat, Ludwig: Werkerziehung in Ansätze zur Werkdidaktik seit 1945, Weinheim1968 und Hinrichsen, Helmut: Das große Buch vom Werken, Stuttgart 2022 (erscheint im Aug. 2022)
[3] www.kidsontech.film (letzter Aufruf 28.3.22)
[4] www.waldorfschule.de/ueber-uns/printmedien/blickpunkte/reader (letzter Aufruf 28.3.22)
[5] Randoll, Dirk / Peters, Jürgen (Hg.): „Wir waren auf der Waldorfschule“. Ehemalige als Experten in eigener Sache, Weinheim 2021
