DÜSSELDORF. Seit mehr als zehn Jahren lässt das Schulministerium Nordrhein-Westfalen eine Lernplattform mit dem Namen Logineo bauen. Obwohl bereits 5,8 Millionen Euro in das Projekt geflossen sind, kann immer noch nur ein Bruchteil der Schulen damit arbeiten. Wie Recherchen von News4teachers zeigen, wurde darüber hinaus bei der Entwicklung offensichtlich ein wesentlicher Punkt vernachlässigt: die Barrierefreiheit. Heißt: Blinde und sehbehinderte Schüler und Lehrkräfte können Logineo praktisch nicht eigenständig nutzen. Dabei ist das gesetzlich vorgeschrieben.
Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen können über die Logineo-„Produktfamilie“ rechtssicher per E-Mail kommunizieren, gemeinsame Termine in einen Kalender eintragen oder Materialien in einem geschützten Cloudbereich austauschen – so bewirbt das nordrhein-westfälische Schulministerium die in seinem Auftrag entwickelte Plattform. Auch das Bearbeiten und Austauschen von Aufgaben sei möglich. Über den Messenger könne datensicher mit Gruppen und Einzelpersonen kommuniziert werden. Über die Videokonferenzoption könnten Konferenzen in Bild und Ton durchgeführt werden. Dies sind nur einige Vorzüge, die das Ministerium anführt. Aber wie benutzerfreundlich ist Logineo NRW tatsächlich? Wie können Schüler*innen und Lehrkräfte mit Behinderung mit den Produkten zurechtkommen?
Gerade an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Sehen wird Logineo NRW kritisch gesehen. Dort beklagt man gravierende Mängel in Sachen Barrierefreiheit. Blinde und sehbehinderte Menschen arbeiten mit einem Screenreader, welcher ihnen die Bildschirminhalte vorliest. Meist kommt noch eine Braillezeile hinzu, ein Gerät, das – an den PC oder Laptop angeschlossen –, die Bildschirminhalte in Brailleschrift wiedergibt. Somit können die Informationen auditiv und tastbar zur Verfügung gestellt werden. Zumindest dann, wenn das System die Funktionen unterstützt.
Bei Logineo Orange, der ersten Version der landeseigenen Lernplattform, herrschte das Problem, dass die Menüführung durch den Screenreader nicht vorgelesen werden konnte. „Ich konnte Logineo Orange nicht eigenständig nutzen, sondern musste erst von einem sehenden Kollegen angeleitet werden, der mir zum Beispiel die Direktlinks zum Kalender etc. heraussuchte“, berichtet eine blinde Lehrerin. „Bei der Entwicklung wurde die Barrierefreiheit nicht bedacht. Man hätte das System schon in der Entwicklungsphase durch Nutzer*innen mit Behinderung testen lassen müssen, damit solche Probleme im Nachhinein erst gar nicht auftauchen können.“ Seit 2011 lässt das Schulministerium NRW an Logineo herumentwickeln – bislang entstandene Kosten: rund 5,8 Millionen Euro.
Zwar bietet die 2019 an den Start gegangene (aber noch längst nicht in der Fläche ausgerollte) Nachfolgeplattform Logineo NRW einige Verbesserungen. Von Barrierefreiheit ist das System aber nach wie vor weit entfernt. So ist das Tool unübersichtlich gestaltet, was die Bedienung für Nutzer*innen mit Seheinschränkung schwierig macht. „Ich habe mich zwei Nachmittage lang in den Messenger hereingefuchst und konnte ihn halbwegs bedienen“, erzählt die blinde Lehrerin. „Die Navigation in einem Chat ging gut, aber zwischen verschiedenen Chats zu wechseln, das war mit Screenreader schwierig.“
„Wenn ich dort einen Kurs anlegen möchte, benötige ich dafür eine Stunde. Ein sehender Kollege schafft das in zehn Minuten”
Zu Logineo NRW gehört auch das Lernmanagementsystem Logineo LMS, dass unter anderem die Plattform Moodle enthält. Zwar behauptet das Schulministerium auf seiner Homepage: „Moodle und somit auch Logineo NRW LMS ist mit seinen Strukturelementen grundsätzlich in allen Funktionen in einem hohen Maße barrierefrei. Bilder, die zur Gestaltung der Plattform eingebettet werden, können mit einem Alternativtext hinterlegt werden, sodass eine Vorlesefunktion von sehbehinderten Menschen genutzt werden kann. Um die Barrierefreiheit innerhalb von Logineo NRW LMS zu gewährleisten, wurde ein Design verwendet, das die Gestaltung von barrierefreien Lernangeboten durch Lehrerinnen und Lehrer in Logineo NRW LMS besonders unterstützt.“
Die Praxis sieht allerdings anders aus. „Auch für Moodle braucht es die Anleitung eines Sehenden, der sich mit dem Programm gut auskennt“, erzählt die Lehrerin. „Wenn ich dort einen Kurs anlegen möchte, benötige ich dafür eine Stunde. Ein sehender Kollege schafft das in zehn Minuten. Es ist alles auf einer Seite angeordnet und es gibt keine Kontrollkästchen zum Anhaken von Feldern. Die Seite ist sehr überladen.“
Alles in allem hat sich die Barrierefreiheit in manchen Bereichen durch Logineo NRW sogar noch verschlechtert. Die Lernplattform bietet – anders noch als Logineo Orange – kaum Kontraste und ist blass gestaltet, was die Bedienung für Menschen mit Sehbehinderung erschwert, da die Schrift nicht gut lesbar ist. Zudem überlappen sich die Tastenkombinationen von Logineo NRW teilweise mit denen der Vergrößerungs- und Sprachsoftware. Ein weiteres Problem ist, dass sich die Umlaute und Leerzeichen der Dateinamen beim Hoch- und Herunterladen verändern. Dies trat bei Logineo Orange nicht auf und erschwert das Vorlesen durch den Screenreader. Außerdem wird die Mathematikschrift wie z.B. Latex, mit der blinde Schüler*innen oft arbeiten, nicht richtig dargestellt. Auch das Ausfüllen von Lückentexten mit Screenreader ist bei Logineo NRW schwierig, da diese nicht richtig angezeigt werden. „Die Tendenz geht immer mehr zu grafischen Elementen und zum intuitiven Sehen“, sagt ein normalsichtiger Lehrer einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Sehen. „Das macht die Bedienung für blinde Nutzer*innen zunehmend schwieriger.“
Der Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik äußert sich auf Nachfrage von News4teachers folgendermaßen: „Die Logineo NRW Produktfamilie (Schulplattform, Lernmanagementsystem und Messenger) ist – ebenso wie andere Lernplattformen – nicht vollständig barrierefrei und damit nur eingeschränkt zugänglich für Nutzerinnen und Nutzer mit Blindheit und Sehbehinderung.“
Das müsste sie aber sein. „Im nordrhein-westfälischen Inklusionsgrundsätzegesetz ist geregelt, dass der schulische Verwaltungsbereich barrierefrei sein muss“, erläutert Uwe Boysen, Richter im Ruhestand aus Bremen, der sich seit Jahren im Rahmen eines ehrenamtlichen Engagements beim Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) mit dem Thema beschäftigt. Lernplattformen seien inbegriffen, erklärt er.
Was genau ist Barrierefreiheit? Auch das ist geregelt. Den Rahmen setzt die Barrierefreie Informationstechnikverordnung (BITV), die auf das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes zurückgeht. NRW hat eine eigene BITV. Zu den Kriterien gehören zum Beispiel Tastaturbedienbarkeit, Beschriftung von grafischen Elementen oder die klare Strukturierung von Internetseiten durch Überschriften. „All diese Kriterien sind wichtig und tragen zur Barrierefreiheit bei“, erklärt Andrea Katemann, Leiterin der Deutschen Blinden-Bibliothek Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista), „Sie müssen alle einzeln geprüft werden und es gibt keine Priorisierung. Auf einer Lernplattform eingestellte Dokumente müssen ebenfalls barrierefrei sein.“
Auch muss von Behörden eine Erklärung abgegeben werden, welche Inhalte auf einer Webseite nicht oder nur teilweise barrierefrei sind. Verpflichtend ist es darzulegen, warum eine barrierefreie Gestaltung nicht möglich ist. „Kostengründe zum Beispiel reichen als Begründung nicht aus“, erläutert der Jurist Boysen.
„Eine vollumfängliche Verbesserung der Barrierefreiheit ist im Rahmen der Überarbeitung der Logineo NRW Produktfamilie mittelfristig vorgesehen”
Auf der Website des Schulministeriums ist tatsächlich eine Erklärung mit Datum vom 30. Mai 2022 zur Barrierefreiheit von Logineo NRW zu finden. In dieser Erklärung wird eingeräumt, dass die „Produktfamilie“ die Anforderungen nur „teilweise“ erfüllt. „Eine vollumfängliche Verbesserung der Barrierefreiheit ist im Rahmen der Überarbeitung der Logineo NRW Produktfamilie mittelfristig vorgesehen. Dafür bitten wir um etwas Geduld, da die Optimierung der Barrierefreiheit eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird.“
Weiter heißt es: Für die Barrierefreiheit einzelner Unterrichtsmaterialien und Kursinhalte müssten die Autor*innen sensibilisiert werden. Bei Beschwerden solle man sich an sie wenden. Des Weiteren werden die nicht zugänglichen Inhalte aufgezählt. „Diese Erklärung reicht meiner Meinung nach nicht aus“, kommentiert Uwe Boysen. „Bei den Kursinhalten muss eine konkrete Überprüfung auf Barrierefreiheit stattfinden. Eine bloße Sensibilisierung der Autor*innen reicht nicht aus. Die Teile von Logineo NRW, die nicht barrierefrei sind, wie zum Beispiel die fehlende Möglichkeit der Navigation über die Tastatur, fehlende Alternativen für sogenannte Captchas und schlechte Kontraste, sind keine Kleinigkeiten.“
“Schülerinnen und Schülern mit Förderschwerpunkt Sehen dürfen keine zusätzlichen Hürden durch digitale Barrieren in den Weg gestellt werden”
Technische Standards wie die BITV einzuhalten, stellt jedoch nur die Grundvoraussetzung für Barrierefreiheit im Kontext von schulischer Bildung dar – betont der Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. Er fordert ein grundsätzliches Umdenken bei der Digitalisierung von Schulen in Richtung Inklusion: „Die Bildungsplattform selbst, das Format und die Struktur der Inhalte, die Hilfsmittel der blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schüler und deren Kompetenz im Umgang mit ihren Hilfsmitteln müssen aufeinander abgestimmt sein“, so heißt es in einem Statement. „Erst dann können die Kinder und Jugendlichen selbstständig und in adäquater Geschwindigkeit am Unterricht teilnehmen. Schülerinnen und Schülern mit Förderschwerpunkt Sehen dürfen keine zusätzlichen Hürden durch digitale Barrieren in den Weg gestellt werden. Beispielsweise müssen Fragestellungen zur Barrierefreiheit wie das Lesen und Schreiben von Mathematik auf Lernplattformen oder die barrierefreie Bedienbarkeit von interaktiven Elementen wie Lückentexten oder Zuordnungsaufgaben beantwortet werden. Dann erst können Schülerinnen und Schüler wirklich barrierefrei und mit ausreichender Arbeitsgeschwindigkeit am Unterricht in der Inklusion teilnehmen.“
„Gesellschaftliche Teilhabe heißt heute auch digitale Teilhabe“, betont Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch. „Kinder und Jugendliche mit Behinderung dürfen nicht länger von schulischen oder digital gestützten Bildungsangeboten ausgeschlossen werden – Chancengleichheit und eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe sind so schlichtweg nicht gegeben.“ Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus