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In der Klasse überfordert: Mutter eines autistischen Kindes kämpft für Distanzunterricht

STUTTGART. Die Ärztin Dr. Heike Leonhardt-Huober aus Baden-Württemberg ist Mutter eines autistischen Kindes – eines von geschätzt 100.000 in Deutschland. Und sie kämpft gegen die Anwesenheitspflicht in Schule. Denn: „Ihm fehlt ein ‚Reizausknipser‘. Dadurch empfindet es jeden einzelnen Tag in Präsenz in der Schule als Gewalterfahrung“, sagt sie. Leonhardt-Huober macht deshalb mobil: Sie hat eine Petition an den Landtag gestartet. Wir dokumentieren den eindrücklichen Text im Wortlaut.

Gibt es ein Recht auf Distanzunterricht? Foto: Shutterstock

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Landtag soll das Kultusministerium beauftragen, eine gleichberechtige Distanzschule einzurichten

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Autistische Kinder und Jugendliche sind reizoffen und können Sinnesreize schlecht ausblenden. Dadurch stürmen Sinnesreize ungefiltert auf sie ein. Gerade in Gruppen mit mehreren Menschen ist die Reizbelastung überwältigend. In Schulen trifft das in besonderem Maße zu, da bekanntlich viele Kinder in einer Klasse sind. Dadurch wird autistischen Kindern und Jugendlichen die Schullaufbahn erheblich erschwert, vielen sogar unmöglich gemacht. Bildungsabschlüsse bleiben unter den gegebenen Umständen häufig auf der Strecke, weit unter den Möglichkeiten der Betroffenen.

“Naheliegend ist eine zentrale Distanzschule landesweit, die dann alle Schüler und Schülerinnen wählen können”

Im Interesse der Gleichbehandlung muss es Aufgabe des Staates sein, Bedingungen zu schaffen, so dass diese Kinder und Jugendlichen auch den ihnen gebührenden Schulabschluss erreichen können.

Ab März 2020 gab es die Möglichkeit der Präsenzpflichtbefreiung – zunächst als verantwortliche Entscheidung der Eltern. Die Präsenzpflichtbefreiung wurden nur von sehr wenigen Familien genutzt. Die Schulen und das Schulsystem waren dennoch mit der Aufgabe überfordert. Deshalb braucht es zur Entlastung der stationären Schulen eine landesweite Distanzschule, damit die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht benachteiligt werden.

Die unbürokratische Gewährung des Distanzunterrichts in Coronazeiten hat gezeigt, dass diese kleine Gruppe Schüler und Schülerinnen sehr davon profitiert haben und dass es technisch machbar ist. Es ist natürlich nicht daran gedacht, alle Schüler wie in Coronazeiten in Distanz zu verbannen. Aber für diejenigen, die damit einen Abschluss erreichen können, sollte es für einen demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich sein, dass diese Möglichkeit unbürokratisch erhalten bleibt und sogar ausgebaut wird.

Naheliegend ist eine zentrale Distanzschule landesweit, die dann alle Schüler und Schülerinnen wählen können.

Es könnten auch bereits bestehende Fernschulen unbürokratisch als schulpflichterfüllend zugelassen werden, sofern sie den baden-württembergischen Bildungs- und Erziehungsplänen folgen. Es gibt eine Reihe von Distanzschulen, die diese Kriterien erfüllen. Es gibt aber keinen Weg, wie diese Distanzschulen in Baden-Württemberg zugelassen werden. Damit entfällt für Kinder und Jugendliche, die diese Art von Beschulung notwendigerweise brauchen, die einzige Möglichkeit, zu ihrem Recht auf Bildung zu gelangen.

“Ein stilles Ausschulen der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit verheerenden Folgen wird billigend in Kauf genommen”

Gerade autistische Kinder und Jugendliche sind auf unterschiedliche Arten der Distanzbeschulung angewiesen. Zum jetzigen Zeitpunkt hält sich die Schulverwaltung diesbezüglich mit überlasteten Autismusbeauftragten, schlecht umgesetzten Nachteilsausgleichen, prekär qualifizierten Schulbegleitungen und mit Hinhalten der Betroffenen über Wasser. Betroffene Familien lässt man mit zähen Wechseln der vorgenannten Methoden am langen Arm verhungern. Es gibt etliche Familien, deren Kinder monatelang nicht beschult werden, weil die Schulbehörden keine Entscheidung treffen können, da geeignete Schulen nicht zugelassen sind. Ein stilles Ausschulen der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit verheerenden Folgen wird billigend in Kauf genommen und ist für autistische Kinder und Jugendliche sozusagen normal.

Ich brauche für mein autistisches Kind eine schulpflichterfüllende Distanzschule, die zum Abitur führt. Mein Kind besucht gerade die achte Klasse des G8 Gymnasiums. In unserer Selbsthilfegruppe ist noch mindestens ein weiteres Kind – im Moment in der vierten Klasse – das noch dringender auf eine Distanzschule angewiesen ist, da seit Monaten von Schulamt bzw. Schule keinerlei Unterrichtsversorgung erfolgt. Vor zwei Jahren hatte mir das Kultusministerium einen entsprechenden Schulversuch versprochen, was aber still und heimlich fallengelassen wurde. Der Bedarf ist aber bei uns immer noch sehr groß.

Bitte sorgen Sie dafür, dass eine staatliche landesweite Distanzschule in Baden-Württemberg eingerichtet wird oder hilfsweise dafür, dass autistische Kinder schulpflichterfüllend eine private Distanzschule besuchen können und ihnen die Möglichkeit offensteht, Schulabschlüsse zu erlangen. Im mindesten Fall erleichtern und erweitern Sie die Möglichkeit der Präsenzpflichtbefreiung, so wie sie in Baden-Württemberg zu Beginn der Corona-Pandemie möglich war. Besten Dank.” News4teachers

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