DÜSSELDORF. Prüfungsangst ist offenbar wesentlich stärker verbreitet als vermutet. Einer aktuellen, nach Angaben der Initiatoren repräsentativen Umfrage zufolge haben fast 90 Prozent der Erwachsenen in Deutschland schon (mindestens) einmal darunter gelitten – die meisten davon in der Schule oder im Studium. Die Folgen sind mitunter gravierend. Trotzdem wird das Problem gesellschaftlich offenbar nicht ernst genommen.
Nervosität vor einer Prüfung? Kennt wohl jeder. Für zahlreiche Schülerinnen und Schüler wächst sich das Problem allerdings aus. Christian Ehmann, Leiter einer Klinikschule in Baden-Württemberg und Mitbegründer des Blogs lehrerschueler.de, rät in Verdachtsfällen Eltern und Lehrkräften, herauszufinden, was für eine Art von Prüfungsangst das Kind oder der Jugendliche hat. „Da gibt es ganz verschiedene Level“, sagt der Schulleiter. Der normale Bammel vor einer Klausur sei dabei vielleicht sogar gut fürs Abschneiden. Und dann gebe es noch die Angst, die im schlimmsten Fall zum Versagen in der Prüfung führt. „Da würde ich sagen, dass Eltern hier machtlos sind und besser ein Fachmann, also ein Psychologe, zur Hilfe geholt werden sollte.“
Als wesentlicher Grund Nummer Eins für Prüfungsangst nennen 53,8 Prozent der Betroffenen zu hohe Ansprüche an sich selbst
So oder so: Das Phänomen ist weit verbreitet. Einer aktuellen Studie der IU Internationalen Hochschule (IU) zufolge litten 9 von 10 Deutschen (86,8 Prozent) schon einmal unter Prüfungsangst. Bei den meisten Befragten (64,7 Prozent) trat diese während der Schule oder des Studiums auf. 47,1 Prozent verspürten Prüfungsangst im Rahmen einer Bewerbung, dicht gefolgt von Ängsten während der Berufsausbildung (45,9 Prozent). Das Überraschende: Obwohl die Angst vor Prüfungssituationen so verbreitet ist, nimmt kaum jemand Hilfe in Anspruch. Insgesamt gerade einmal 14,1 Prozent der Befragten mit Prüfungsangst suchten sich Unterstützung, um etwas gegen ihre Angst zu unternehmen – die meisten davon (53,4 Prozent) bei Freund:innen und Familie, 39,8 Prozent zur psychologischen Psychotherapie.
Dabei kann Prüfungsangst gravierende Folgen für die berufliche Zukunft der Betroffenen haben: 26,8 Prozent der Befragten, bei denen die Prüfungsangst Auswirkungen hatte, konnten aufgrund der Angst nicht den gewünschten Beruf wählen. Und 41 Prozent der Befragten haben durch ihre Prüfungsangst sogar einen bestimmten Schul- oder Hochschulabschluss nicht erlangt – etwa, weil sie die Schule oder das Hochschulstudium abgebrochen haben. Laut der Umfrage fühlt sich trotzdem fast die Hälfte der Befragten (45,8 Prozent) mit ihren Ängsten nicht ernstgenommen. Als wesentlicher Grund Nummer Eins für Prüfungsangst nennen 53,8 Prozent der Betroffenen zu hohe Ansprüche an sich selbst.
Und die Probleme nehmen offenbar zu: „Es gibt keine andere Generation, die sich so stark vergleicht, wie die Generation Z“, erklärt Anna Paulin Horwedel, die sich als Study Guide am IU-Standort Mannheim um die Sorgen der Studierenden kümmert. „Das stresst zum einen natürlich, weil man gefühlt ständig in Konkurrenz steht. Zum anderen steigt dadurch die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen – denn die anderen brauchen sie ja scheinbar auch nicht“, so Hordwedel weiter.
Dem Blog lehrerschueler.de zufolge hängt es häufig mit der Persönlichkeitsstruktur der Schülerin oder des Schülers zusammen, ob sie oder er unter extremer Angst vor schulischen Leistungserhebungen leidet. Betroffen seien einerseits perfektionistische und sehr ehrgeizige Schülerinnen und Schüler: „Kinder und Jugendliche mit diesen Charaktereigenschaften neigen dazu, sich selbst zu wenig zuzutrauen oder sich zu sehr auf Kleinigkeiten zu konzentrieren. Hierdurch setzen sie sich selbst vermehrt unter Druck.“ Andererseits litten Schülerinnen und Schüler mit Lernblockaden häufig unter Prüfungsangst. „Scheinbar offensichtlich faule Kinder und Jugendliche sind dies unter Umständen gar nicht. Eine Lernblockade hindert die Heranwachsenden daran, neuen Stoff aufzunehmen. Meist merken dies die Schülerinnen und Schüler selbst und geraten in Panik, da sie schlechte Noten befürchten.
„Die Ausschüttung von Stresshormonen und die hohe emotionale Erregtheit legen das rationale Denken praktisch lahm“
Die aktuelle Umfrage zeigt: 49,5 Prozent der Betroffenen glaubt, ihre Prüfungsangst sei nicht schlimm genug, um sich Hilfe zu suchen. 38,6 Prozent möchten es allein schaffen, die Prüfungsangst zu bewältigen. Ein mitunter folgenreicher Trugschluss, wie Horwedel erklärt: „Je früher man sich Hilfe sucht, desto besser. Sich mit einer solchen Situation allein gelassen zu fühlen, sorgt für emotionalen Stress und verstärkt das Ganze nur. Die Gefahr für eine Gedankenblockade – ein so genannter Blackout –, der während der Prüfung auftreten kann, steigt. Im Austausch mit Expert:innen sollte das Problem daher an der Wurzel gepackt werden, um den Auslöser für die Angst zu finden. Wird die konkrete Ursache, wie etwa zu großer Druck wegen der Wichtigkeit der Prüfung oder internalisierten Erwartungshaltungen von außen schnell gefunden, kann man an einem gemeinsamen Plan arbeiten – etwa, um sich gezielter auf die Prüfung vorzubereiten.“
„Prüfungsangst hat in unserer Leistungsgesellschaft zugenommen“, bestätigt Dr. Werner Weishaupt, Präsident des Verbands freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V. (VFP) gegenüber der Nachrichtenseite t.online. Der Heilpraktiker für Psychotherapie unterstützt in seiner Praxis häufig Menschen mit Prüfungsangst.
Prüfungsangst führe wie jede ausgeprägte Angst den Körper in eine Ausnahmesituation. Da das Gehirn die Situation als existenziell bedrohlich einstuft, werde das vegetative Nervensystem in höchstem Maße aktiv. Urinstinkte erwachten. Stresshormone würden ausgeschüttet, darunter Adrenalin und Cortisol. Der Körper bereite sich in dieser akuten Stresssituation auf Flucht vor. „Die Ausschüttung von Stresshormonen und die hohe emotionale Erregtheit legen das rationale Denken praktisch lahm“, erklärt Weishaupt. „Es kann keine klare Einschätzung der Situation mehr erfolgen. Das limbische System, das für Empfindungen zuständig ist, übernimmt die Führung. Der Fluchtgedanke steht im Vordergrund.“
Die Folgen: Das Herz rast, der Blutdruck steigt, der Prüfling beginnt zu schwitzen, der Magen-Darm-Trakt rebelliert. Zugleich lässt die Konzentration nach, die Fehlerwahrscheinlichkeit steigt und im schlimmsten Fall kommt es zum totalen Blackout. „Ich frage in meinen Beratungen immer ‚Haben Sie Angst oder hat die Angst Sie?‘, sagt Weishaupt. Die Prüfung werde ohne rationale Grundlage als existentielle Gefahr empfunden und die Angst bestimme das Denken, Fühlen und Handeln. „Prüfungsangst kann bei extremer emotionaler Erregtheit sogar Panikattacken auslösen und den Betroffenen komplett handlungsunfähig machen. Eine schlimme Erfahrung – die natürlich auch Auswirkungen auf spätere Prüfungssituationen hat“, so Weishaupt.
Der Experte empfiehlt, bei Prüfungsangst oder negativen Prüfungserfahrungen so früh wie möglich psychologische Unterstützung anzunehmen, damit sich die Prüfungsangst nicht immer weiter verfestigt. News4teachers / mit Material der dpa