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“Magnetismus des traditionellen Männerleitbilds”: Warum im Schnitt Jungen (noch immer) schlechter in der Schule sind

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PFORZHEIM. «Wann ist ein Mann ein Mann?», fragte Herbert Grönemeyer 1984. Damals dürfte die Antwort anders ausgefallen sein als heute. Das Bild von Männlichkeit hat sich seither gewandelt – allerdings: Nicht so stark, wie manche meinen. Es gibt «eine Art Magnetismus des traditionellen Männerleitbilds», so heißt es in einer Studie des Bundesfamilienministeriums. Tatsächlich wirkt das bis in die Schule hinein. Auch heute noch.

Wo sind die Männer? In den Grundschulen jedenfalls nicht (Symbolbild). Foto: Shutterstock

Als Peter Boch im Alter von vier Jahren mit seiner Kindergartenfreundin zum Ballettunterricht ging und mit einem Anmeldeformular zurückkam, war seine Mutter erstmal verdutzt. «Ich hab’ damals tatsächlich in langer Unterhose zum ersten Mal im Ballettsaal gestanden und da mitgemacht», erzählt der heutige Pforzheimer Oberbürgermeister. Sein Opa, selbst Ringer und Boxer, habe damals gesagt: «Wenn der Junge Ballett machen will, dann zahle ich das von meiner Rente.» Die Frage sei nie gewesen, ob ein Junge das machen darf. «Ich bin eigentlich immer unterstützt worden.»

Mit elf Jahren zog der gebürtige Lauchringer allein nach Stuttgart ins Ballettinternat John-Cranko-Schule. Das Ziel: Profitänzer werden. Doch wegen Wassereinlagerungen in der Hüfte musste er die Karriere ein halbes Jahr vor dem Ballettdiplom abbrechen und wurde Polizist. «Als kleiner Bub wollte ich auch Polizist werden», sagt Boch. «Ich glaube, das ist von vielen Jungs ein Traum.» Einfacher Beamter sollte es aber nicht sein: «Für mich war klar, ich möchte bei der Polizei unbedingt mal etwas tun, das nicht selbstverständlich ist.»

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So wurde Boch Personenschützer im Kommando Ministerpräsident Baden-Württemberg, der damals Günther Oettinger (CDU) war. Durch diesen Job kam er in Kontakt mit der Politik, was ihn in die Kommunalpolitik und letztlich ins Pforzheimer Rathaus führte.

«Wir sind vermutlich Zeitzeugen und Akteure einer erheblichen Umwälzung im Selbstverständnis sowie im Lebens-/Arbeits-/Familienstil von Männern»

Balletttänzer und Bodyguard – zwei Extreme, die ganz unterschiedliche Rollenbilder und Bilder von Männlichkeit erzeugen. Und die auf den ersten Blick nicht recht zusammenpassen mögen. Doch in beiden Fällen gehe es auch um Wettbewerb, darum, aus der Gruppe herauszustechen, sagt Diana Lengersdorf. Die Professorin für Geschlechtersoziologie an der Uni Bielefeld hat zur Neujustierung von Männlichkeiten geforscht und sieht in Wettbewerb nach wie vor etwas typisch Männliches: «Männlichkeit wird sehr stark unter Männern ausgehandelt.»

Allerdings habe sich im Vergleich zu den 1990er Jahren etwas Gravierendes geändert, sagt Lengersdorf. Inzwischen werde über Männlichkeit allgemein und auch die eigene Männlichkeit nachgedacht. «Früher wurde die Frage nach Männlichkeit zurückgewiesen.» Immer mehr Menschen lehnten heutzutage stereotype Männlichkeitsbilder ab. Die Geschlechterordnung sei im Umbruch, weiche auf. Zentrale Motoren seien dabei der Wandel von Vaterschaft und Erwerbsarbeit.

Heute nehmen Väter Elternzeit. Es gibt Transmänner und queere Männer, Männerbeauftragte, Männerhilfetelefone und Kurse, in denen Männer den Umgang mit ihren Gefühlen lernen. Vor Jahrzehnten kaum vorstellbar.

Doch gerade bei wichtigen Ereignissen wie der Geburt eines Kindes hole das klassische Bild des Mannes als Ernährer der Familie viele wieder ein: «Unsere Männlichkeitsvorstellung ist sehr kapitalistisch geprägt», so Lengersdorf. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass rationale, ökonomische Erwägungen in so einer Situation oft dazu führten, dass eine gleichgestellte Vision schlagartig in ein traditionelles Rollenmodell kippe und Männer sich um die Existenzsicherung der Familie sorgten. Die Rede ist von einer «Art Magnetismus des traditionellen Männerleitbilds».

Weiter schreiben die Autoren: «Wir sind vermutlich Zeitzeugen und Akteure einer erheblichen Umwälzung im Selbstverständnis sowie im Lebens-/Arbeits-/Familienstil von Männern.» Sie sprechen von höchst unterschiedlichen Männeridentitäten, vom «Mainstream-Mann im Spagat».

Manche würden Rollenbilder vom Mannsein weiterentwickeln, heißt es in der Auswertung. Neue soziokulturelle Anforderungen etwa in Bezug auf die Gleichstellung von Frauen und Männern spielten dabei eine Rolle. Andere wollten die Komplexität des neuen Mannseins wieder reduzieren und auf «einfache» Leitbilder zurückgreifen. Professorin Lengersdorf spricht von einem diffusen Moment: Einerseits verfestige sich heroische Männlichkeit, andererseits verändere sich gerade viel.

Den Jungs fehlten jedoch Vorstellungen, wie sich das Leben jenseits tradierter Muster führen lasse, heißt es in der Studie. «Sie haben ein Gespür für Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis, sehen aber keine Lösungsansätze.» Jungen wie Mädchen folgten bei der Berufswahl traditionellen Geschlechterrollenbildern. Um vom Rollenspagat in ein stabiles Gleichgewicht zu kommen, gebe es bisher kaum Vorbilder.

Auch die Schule trägt wenig zur Klärung bei – obwohl (oder weil?) die Lehrkräfte mittlerweile weit überwiegend weiblich sind. Jungen haben im Schnitt schlechtere Noten und machen niedrigere Abschlüsse. Auch Schulabbrecher sind überwiegend männlich. Für den Bildungsforscher Prof. Marcel Helbig, der in der Studie des Bundesfamilienministeriums ausführlich zitiert wird, ist dies aber nicht auf eine „Feminisierung“ der Schule zurückzuführen, sondern auf gesellschaftliche Rollenbilder, die mangelnde Leistungsbereitschaft bei Jungen zur Folge haben und zu deren Vermittlung die Peergroup der Gleichaltrigen wesentlich beiträgt.

„Alle Studien zeigen, dass Mädchen im Schnitt in der Schule disziplinierter, fleißiger und motivierter sind”

Jungen bewerten danach Lernen als fehlende Begabung, Fleiß als uncool. „Schulische Brillanz und Männlichkeit stehen sich nicht im Weg, solange die Leistungen scheinbar mühelos erreicht werden.“ Helbig betont laut Bericht, dass Jungen schon seit mehr als 100 Jahren schlechtere Noten bekommen als Mädchen und dass die schlechteren Noten der Jungen auf ihre niedrigere Leistungsbereitschaft zurückgeführt werden können. Der Hauptgrund für ihre geringere Leistungsbereitschaft sind gesellschaftliche geschlechtstypische Kompetenzzuschreibungen, die Jungen in stärkerem Maße als Mädchen glauben lassen, dass sie sich aufgrund ihrer „natürlichen Begabung“ in der Schule weniger stark anstrengen müssen.

Die Selbstüberschätzung hat für Helbig gesellschaftliche Wurzeln: Da Männer noch immer die besseren Positionen in Wirtschaft und Politik innehaben, wird ihnen größere Kompetenz und Intelligenz zugeschrieben. „Alle Studien zeigen, dass Mädchen im Schnitt in der Schule disziplinierter, fleißiger und motivierter sind, Sie haben eine höhere Lern- und Leistungsbereitschaft, verbringen mehr Zeit mit Hausaufgaben, arbeiten mehr, als verlangt wird, sind besser auf den Unterricht vorbereitet. Jungen hingegen erreichen höhere Durchschnittswerte bei der Arbeitsvermeidung und beim Zuspätkommen zum Unterricht.“

Diese geschlechtstypischen Kompetenzzuschreibungen hätten ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Stellung des Mannes in Relation zur Frau. Über die Eltern und andere Sozialisationsagenten werde Jungen eine höhere Kompetenz zugeschrieben. Diese strengen sich in der Folge weniger an und bekämen schlechtere Schulnoten. Mädchen hingegen hätten keine sozialen Nachteile, wenn sie fleißig sind.

Jungen mitunter schon. Als Teenager in der Pubertät bekam er zu spüren, dass nicht alle Mitschüler in der öffentlichen Werkrealschule Verständnis für seine Ballettambitionen hatten, berichtet der Pforzheimer OB Boch. Der 43-Jährige drückt es diplomatisch aus: «Ich hatte auch schwierige Zeiten.» Mancher habe den Unmut körperlich ausgedrückt. «Ich bin auch mal die Treppe runtergeflogen», erinnert er sich. «Sinngemäß ging es um so Themen, ob ich das Klischee bediene, dass ich vielleicht doch nicht auf Mädchen stehen könnte.»

Am Ende habe das erst recht seinen Ehrgeiz bestärkt, sagt Boch. Auch die Klasse sei letztlich stolz auf ihn gewesen, weil er eine Art Alleinstellungsmerkmal war. Und er lernte auf dem Internat Monika kennen – damals «das schönste Mädchen der Welt», heute seine Ehefrau. Boch findet auch, dass seine Berufszweige gut zusammenpassen: «Das, was ich beim Ballett gelernt habe, konnte ich bei der Polizei auch gut gebrauchen: nämlich Disziplin.» In beiden Berufen gehe es gleichermaßen um die Leidenschaft für das, was man tut – und den Anspruch, richtig gut zu sein in dem, was man macht. News4teachers / mit Material der dpa

Hier geht es zur Studie des Bundesfamilienministeriums zu Rollenbildern.

Junge Männer pflegen traditionelle Rollenbilder (viele legitimieren sogar Gewalt gegen Frauen)

 

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