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Melatonin: Einschlafhilfe für Kinder – schwappt die Welle nach Deutschland über?

BOULDER. In Deutschland ist der Gebrauch von nicht verschreibungspflichtigen Melatonin-Produkten als Einschlafhilfe für Kinder zwar noch nicht so verbreitet wie in den USA, doch nimmt die Zahl der deutschen Eltern, die ihren Kindern das Hormon verabreichen, immer mehr zu. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität von Colorado warnen.

In den USA nimmt heute fast jedes fünfte Kind und jeder fünfte Jugendliche im Schulalter Melatonin zum Schlafen ein, und einige Eltern geben schon ihren Vorschulkindern das Hormon regelmäßig. Dies geht aus einer neuen Studie der University of Colorado Boulder (CU) hervor. Auch in Deutschland sind mittlerweile viele Melatoninprodukte auf dem Markt und die Zahl der Eltern, die ihre Kinder damit beim Einschlafen unterstützen, wächst.

Guter Schlaf ist eine wichtige Voraussetzung für das Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern. Foto: Shutterstock

„Im Jahr 2022 bemerkten wir, dass viele Eltern uns mitteilten, dass ihr gesundes Kind regelmäßig Melatonin einnahm”, so Lauren Hartstein, die als Postdoktorandin am Sleep and Development Lab der CU untersucht, wie Umweltreize, einschließlich des nächtlichen Lichts, die Schlafqualität und die Melatoninproduktion von Kindern beeinflussen. Um einen genaueren Überblick zu erhalten, befragten Hartstein und ihre Kolleginnen und Kollegen in der ersten Hälfte des Jahres 2023 rund 1.000 Eltern.

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Von den befragten Kindern im Alter von 5 bis 9 Jahren hatten 18,5 Prozent in den letzten 30 Tagen Melatonin eingenommen. Bei den 10- bis 13-Jährigen waren es 19,4 %. Knapp 6% der Vorschulkinder im Alter von 1 bis 4 Jahren hatten im letzten Monat Melatonin eingenommen. Vorschulkinder, die Melatonin einnahmen, nahmen es im Durchschnitt seit einem Jahr ein. Grundschüler und Vorschulkinder hatten Melatonin im Durchschnitt 18 bzw. 21 Monate lang eingenommen. Je älter das Kind, desto höher die Dosis: Vorschulkinder nahmen zwischen 0,25 und 2 mg ein, Jugendliche bis zu 10 mg. Im Zeitraum 2017-18 hätten nur etwa 1,3 % der Eltern in den USA angegeben, dass ihre Kinder Melatonin einnehmen.

Melatonin wird auf natürliche Weise in der Zirbeldrüse produziert, um dem Körper zu signalisieren, dass es Zeit zum Schlafen ist, und um seinen zirkadianen Rhythmus – den physiologischen 24-Stunden-Rhythmus – zu regulieren.

“Wir hoffen, dass diese Arbeit das Bewusstsein von Eltern und Ärzten schärft und die wissenschaftliche Gemeinschaft alarmiert”, so Lauren Hartstein. “Wir sagen nicht, dass Melatonin zwangsläufig schädlich für Kinder ist. Aber es muss noch viel mehr geforscht werden, bevor wir mit Sicherheit sagen können, dass die langfristige Einnahme von Melatonin für Kinder sicher ist”.

In den USA ist chemisch synthetisiertes oder aus Tieren gewonnenes Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel frei verkäuflich und zunehmend auch in Form von kinderfreundlichen Gummibärchen erhältlich. Auch in Deutschland hat die Zahl der frei erhältlichen Melatoninprodukte stark zugenommen.

Mehr Anrufe beim Giftnotruf

In einer im April veröffentlichten Studie hatten Wissenschaftler 25 Melatonin-Gummiprodukte unter die Lupe genommen und festgestellt, dass 22 davon andere Mengen an Melatonin enthielten als auf dem Etikett angegeben. Ein Produkt enthielt mehr als das Dreifache der auf dem Etikett angegebenen Menge. Ein Produkt enthielt keine nachweisbare Menge des Hormons. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass einige Melatonin-Nahrungsergänzungsmittel andere bedenkliche Stoffe wie Serotonin enthielten.

“Eltern wissen möglicherweise nicht, was sie ihren Kindern geben, wenn sie diese Präparate verabreichen”, sagt Hartstein. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben auch Bedenken geäußert, dass die Verabreichung von Melatonin an junge Menschen, deren Gehirn und Körper sich noch in der Entwicklung befinden, den Zeitpunkt des Einsetzens der Pubertät beeinflussen könnte. Die wenigen bislang vorliegenden Humanstudien, die dies untersucht hätten, so Hartstein, seien zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen.

Zwischen 2012 und 2021, so die Autoren, stiegen die Meldungen über Melatoninvergiftungen bei den Giftnotrufzentralen um 530 %, wobei die meisten Fälle Kinder unter 5 Jahren betrafen. Mehr als 94 % der Fälle waren unbeabsichtigt und 85 % asymptomatisch.

Hartsteins Co-Autorin Julie Boergers, Psychologin am New Yorker Rhode-Island-Hospital, betont, dass Melatonin, wenn es unter Aufsicht eines Gesundheitspersonals verabreicht wird, eine nützliche kurzfristige Hilfe sein kann, insbesondere bei Jugendlichen mit Autismus oder schweren Schlafproblemen. “Aber es ist fast nie eine Behandlung der ersten Wahl”, sagte sie und merkte an, dass sie Familien oft empfehle, sich zunächst auf Verhaltensänderungen zu konzentrieren und Melatonin nur vorübergehend einzusetzen.

“Obwohl es im Allgemeinen gut verträglich ist, sollten wir bei der Anwendung von Medikamenten oder Nahrungsergänzungsmitteln bei einem jungen, sich entwickelnden Körper vorsichtig sein.“, so die pädiatrische Schlafspezialistin. Anekdotisch habe sie von Eltern auch gehört, dass das Präparat anfangs oft gut wirkt, die Kinder aber mit der Zeit höhere Dosen benötigen, um die gleiche Wirkung zu erzielen.

Die frühe Einführung von Melatonin könnte auch eine andere unbeabsichtigte Folge haben, sagt Hartstein: Sie könnte die Botschaft vermitteln, dass eine Pille die Lösung ist, wenn man nicht schlafen kann. Zugleich weist sie noch auf einen anderen Aspekt des zunehmenden Melatoningebrauchs hin: “Wenn so viele Kinder Melatonin einnehmen, deutet das darauf hin, dass es viele zugrunde liegende Schlafprobleme gibt, die behandelt werden müssen. “Das Symptom zu bekämpfen bedeutet aber nicht unbedingt, die Ursache zu bekämpfen.“ (zab, pm)

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