DÜSSELDORF. Ob Pisa, IQB, Iglu oder Vera – zuletzt wiesen die Ergebnisse der Bildungsstudien immer wieder auf die enormen Kompetenzdefizite der Schülerinnen und Schüler in Deutschland hin. Noch läuft die Suche nach den Ursachen und möglichen Lösungen. Einen Denkanstoß bietet unsere Gastautorin Rebekka Emersleben, Lehrerin aus NRW und nebenberuflich neurosystemische Coachin. Sie fordert in ihrem folgenden Beitrag „dringend nervensystemgerechte Bildungsmilieus“, denn nur dann seien nachhaltiges und ganzheitliches Lehren und Lernen möglich.
Nervensysteme am Limit – eine Bestandsaufnahme aus der Perspektive des autonomen Nervensystems
Einer ist immer schuld. Aus Sicht der PolitikerInnen sind es die Eltern, die sich entweder zu viel („Helikoptereltern“) oder zu wenig kümmern („fehlender Bildungswille“). Aus Sicht der SchülerInnen sind es die LehrerInnen oder eben die „scheiß Schule“, die ihnen das Leben unbequem machen. Eltern regen sich beispielsweise über langzeiterkrankte Lehrpersonen auf oder über „ungerechtfertigte“ Noten ihrer Kinder. Aus Sicht der Lehrkräfte sind es wahlweise die SchülerInnen, die Eltern, die PolitikerInnen oder eben das gesamte Schulsystem, die sinnvollen Unterricht verunmöglichen. Vorwürfe und Forderungen gibt es viele. Ob sie immer gerechtfertigt und sinnvoll sind, bleibt hier offen. Offensichtlich ist allerdings – zumindest aus der Perspektive des autonomen Nervensystems – der dysregulierte Zustand der Nervensysteme der verschiedenen Akteure.
„Auch bei Lehrkräften zeigt sich Dysregulation“
Augenscheinlich sind die Nervensysteme am Limit, wenn wir etwas näher in die Bildungsmilieus in Schulen und Kitas „hineinzoomen“ und uns das beobachtbare Verhalten vor Augen führen: Es gibt Kinder und Jugendliche, die sind regelmäßig „aufmüpfig“, aggressiv, respektlos oder überdreht. Sie ärgern, mobben, finden schwer zur Ruhe und sind ständig abgelenkt. Es fällt ihnen schwer, sich auf den Unterricht und andere Abläufe konzentriert einzulassen. Andere wirken desinteressiert, gelangweilt, verträumt, abwesend und meiden (Blick-)Kontakt. Ihr Blick ist leer, Bewegungen langsam und sie reagieren häufig verzögert. Wieder andere wirken hoch aufmerksam, latent angespannt, ängstlich und überangepasst. Schulabstinenz, (körperliche) Konflikte, psychische Erkrankungen und Leistungseinbußen nehmen zu.
Auch bei Lehrkräften, ErzieherInnen, SonderpädagogInnen etc. zeigt sich Dysregulation. Manche wirken gereizt, gehetzt, fahrig, angespannt, unruhig und belastet. Sie sind kurz angebunden, antworten mürrisch und wirken wie auf der Flucht: „Schnell noch kopieren. Schnell noch auf‘s Klo. Schnell noch den Elternanruf machen. Schnell noch ins Brot beißen. Schnell, schnell, schnell…“ Nicht selten fallen unsensible, sarkastische oder gar abwertende Kommentare im Unterricht und Lehrerzimmer – nicht immer hinter vorgehaltener Hand. Es wird geschimpft und Druck gemacht. Der empathische, feinfühlige und wohlwollende Umgang mit Kindern und MitarbeiterInnen bleibt auf der Strecke, wenn ein Nervensystem im Überlebensmodus ist. Nicht nur Motivationsverlust, Krankheitstage und langfristige Dienstunfähigkeit nehmen zu, sondern auch die Zahl derer, die sich diesem Milieu nicht mehr aussetzen wollen. Diese Menschen kündigen oder beantragen ihre Entlassung aus dem Beamtenverhältnis, obwohl sie doch „so gut bezahlt“ werden und „so viele Ferien“ haben.
„In diesem Zustand sind wir im Kampf- oder Fluchtmodus“
Die beschriebenen Phänomene sind Ausdruck von dysregulierten Nervensystemen, also Nervensystemen, die so gestresst sind, dass sie sich außerhalb ihres Stresstoleranzfensters (nach Daniel Siegel – window of tolerance) befinden. In diesem Zustand der Über- oder Untererregung sind wir im Kampf- oder Fluchtmodus (oder im shut down) und können schlicht nicht zugewandt und entspannt mit unserer Mitwelt in Verbindung sein.
Wenn also individuell empfundene Sicherheit fehlt (Ergebnis des unwillkürlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesses unseres autonomen Nervensystems und limbischen Systems), übernimmt der Sympathikus (als Teil des autonomen Nervensystems) die Leitung, wir werden weniger empathisch, kreativ, neugierig, interessiert und flexibel, sondern eher kühl, engstirnig, ignorant und rigide. Steigt das Erregungsniveau weiter, mobilisiert das sympathische Nervensystem mehr Energie, die uns in Handlungsbereitschaft versetzt. Wir werden hypervigilant und angespannt. Häufig zeigt sich die Übererregung in Gereiztheit, Aggression, Schreckhaftigkeit, Angst- oder Panikattacken, einer erhöhten Schweißsekretion und einem erhöhten Pulsschlag sowie verminderter Speichelsekretion. Aber auch eine Vermeidungs- und Abwehrhaltung sind typisch.
Menschen, die hingegen (chronisch) untererregt sind oder die Umgebung als lebensbedrohlich wahrnehmen, auch weil sie zu lange im energieraubenden Kampf-/Fluchtmodus waren, fallen aus ihrem Stresstoleranzfenster in die Untererregung. Das ganze Körpersystem wird in einen Modus der Immobilität versetzt. Jetzt ist das Erregungsniveau so niedrig, dass Menschen sich selbst, ihre Mitmenschen und Umwelt nur noch gedämpft wahrnehmen. Die emotionale Beteiligung und das Schmerzempfinden sind stark gedrosselt. In diesem Zustand wirken wir teilnahmslos, gleichgültig, antriebslos, verträumt, lethargisch und der Blick wird leer. Wir fühlen uns emotionslos, taub, erschöpft, deplatziert und unverbunden.
„Genetisch verankerte Notfallprogramme“
Ursprünglich sind die autonomen Zustände der Über- oder Untererregung genetisch verankerte Notfallprogramme für Ausnahmesituationen, in denen unser Überleben bedroht wird. Gerade die Übererregung ist energetisch äußerst kostspielig, sodass es überflüssig ist zu sagen, dass dysregulierte Zustände auf Dauer krank machen.
Chronisch dysregulierte Nervensysteme können drastische Folgen nach sich ziehen wie psychische (z. B. Burnout/Erschöpfungsdepression, Suizidalität, Sucht) und körperliche (z. B. Hörsturz, Bluthochdruck, Reizdarm) Erkrankungen, Schulabbruch, Dienstunfähigkeit und Kündigungen.
Auch nachhaltiges und ganzheitliches Lernen wird stark erschwert, wenn Nervensysteme dysreguliert sind: der Neocortex, der für rationales und komplexes Denken zuständig ist, verliert die Kontrolle und ältere Gehirnareale (Limbisches System und Stammhirn), die für unser Überleben zuständig sind, übernehmen die Führung – das passiert unwillkürlich, wenn nicht genügend Anzeichen für Sicherheit gefunden werden, sodass Stressreaktionen ausgelöst werden. In einem Zustand der Über- oder Untererregung können eingehende Informationen nur noch vermindert oder desorganisiert kognitiv verarbeitet werden.
Vielen Bildungseinrichtungen fehlen bislang noch das nötige Wissen und die Kompetenz, sichere Bildungsmilieus zu kreieren und damit versäumen sie, die Voraussetzungen für alle Bildungsbeteiligten zu schaffen, langfristig (psychisch) gesund zu bleiben. Denn so wie Lernende leiden auch Lehrpersonen unter Milieus, die nicht ausreichend Sicherheit spenden. Lehrpersonen geraten deshalb nicht selten in einen Zustand der chronischen Übererregung: Sie sind eventuell gereizt, unsensibel, beschämend, laut, unempathisch und ungeduldig.
Das nervliche Erregungsniveau einer Lehrperson spielt eine wichtige Rolle für die empfundene Sicherheit ihrer Schützlinge. Für Lernende ist eine dysregulierte Lehrperson ein Bedrohungsfaktor, da es ihr in diesem Zustand nicht gelingen kann, eine zugewandte und wertschätzende Verbindung aufzubauen. Selbst wenn sie äußerlich ruhig bleibt, nehmen die autonomen Nervensysteme der SchülerInnen permanent und unbewusst Signale aus der Umwelt wahr und bewerten sie unwillkürlich auf ihre potenzielle Gefahr hin. Selbst kleine Veränderungen in der Tonlage, Mimik, Gestik und Körperhaltung werden registriert und haben einen großen Einfluss auf die empfundene Sicherheit. In der Konsequenz steigt dann auch das Erregungsniveau der SchülerInnen und sie zeigen gegebenenfalls Signale ihrer eigenen Übererregung, die in Wechselwirkung mit den anderen im Raum befindlichen Nervensystemen tritt.
„Die maßgeblichen Prinzipien eines nervensystemgerechten Bildungsmilieus“
Wir brauchen dringend nervensystemgerechte Bildungsmilieus, die Voraussetzungen schaffen und dazu beitragen, dass die Nervensysteme aller Beteiligten innerhalb ihres Stresstoleranzfensters bleiben, oder ermöglichen, sich wieder zu regulieren. Denn regulierte Nervensysteme sind die Basis für nachhaltigen Lernerfolg, Potenzialentfaltung, Kreativität, Neugierde, Empathie, Toleranz, Resilienz, gesunde Beziehungen und (Selbst-)Führung.
Die maßgeblichen Prinzipien – Wertschätzung und Wohlwollen, Transparenz und Augenhöhe, Ressourcenorientierung sowie Sicherheit – eines nervensystemgerechten Bildungsmilieus können in den Kategorien
- Umgebung und Ausstattung
- Haltung und soziales Miteinander
- Unterricht und Lehrmaterialien
- Selbst- und Co-Regulation realisiert werden.
Das ist eine Aufgabe für die gesamte Bildungseinrichtung, die systematisch durch Fortbildungen, Training und Coaching umgesetzt werden muss, um eine nachhaltige Veränderung für alle zu erzielen.
Mehr Informationen unter: www.bindungstierchen.de
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