DÜSSELDORF. Fake News, Cybermobbing, gefährliche Challenges und zuletzt vermehrt Kriegspropaganda sowie extremistische oder antisemitische Inhalte – die Probleme, die mit sozialen Medien einhergehen, sind vielfältig und landen oftmals in den Schulen. Für ein weiteres Thema, das online mittlerweile mehr Aufmerksamkeit erhält, und die damit verbundenen Risiken will unsere Gastautorin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Nina Jordis, sensibilisieren: psychische Erkrankungen. Sie warnt, dass die Suche junger Menschen nach Unterstützung auf TikTok oder Instagram schnell ins Gegenteil umschlagen kann.
Selbsthilfe in den sozialen Medien: „Facebook, Twitter & Co. sind keine Lösung bei psychischen Erkrankungen!“
Social-Media-Plattformen wie Instagram, Facebook und TikTok sind für Lehrkräfte ein permanentes Thema. Ging es bisher vorrangig um mit der Nutzung der Plattformen verbundene Probleme wie Cybermobbing und Datenschutz von Schülerinnen und Schülern, so steht heute das Thema „Mental Health“ zunehmend stärker im Vordergrund. Ob Magersucht, Streit in der Familie oder Depressionen – in den sozialen Medien zeigen sich junge Menschen mit ernsten psychischen Erkrankungen. Es geht um Information, Transparenz und Selbsthilfe. Ist das hilfreich – oder eher gefährlich?
Im Internet findet so ziemlich jeder junge Mensch eine Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, eine sogenannte „Peergroup“. Im Allgemeinen bezeichnet eine Peergroup eine soziale Gruppe mit großem Einfluss, der sich ein Individuum zugehörig fühlt. So gibt es beispielsweise zu Essstörungen unzählige Foren und Beiträge Betroffener. Dieses Phänomen ist bei Jugendlichen durch die sozialen Medien stark verbreitet, denn 96 Prozent der 12- bis 19-Jährigen besitzen laut der „JIM-Studie 2022 – Jugend, Information, Medien“ des Medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest ein Smartphone. Fakt ist: Durch die Krisenerfahrungen der letzten Jahre ist der Alltag der Jugendlichen stark beeinflusst worden. Die tägliche Nutzungsdauer lag 2022 in dieser Altersgruppe bei durchschnittlich 204 Minuten am Tag. In manchen Bereichen ist seit Pandemiebeginn allerdings auch eine Verstetigung der erhöhten Mediennutzung zu sehen, so die Studie.
Risiken: Fehlende Fachkompetenz und Mobbing
Die Selbstoffenbarung im Internet hat neben den Chancen, psychische Erkrankungen zu enttabuisieren, auch Risiken. In der Regel ist die Zurschaustellung persönlicher Probleme ein Versuch, empathische Reaktionen in einer akuten Krise zu erfahren. Einige Menschen finden es hingegen befremdlich, dass Bloggerinnen und Blogger ihre seelischen Nöte öffentlich machen. Und dann kann das positive Erleben kippen: Die JIM-Studie 2022, die gemeinsam von der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) und der Medienanstalt Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk (SWR) durchgeführt wurde, zeigt zudem, dass Desinformation und Beleidigungen im Netz für viele Jugendliche zum digitalen Alltag gehören.
Anstatt Empathie und Hilfe zu erfahren, schlägt so mancher Userin beziehungsweise manchem User Unverständnis, ja sogar Ablehnung oder Mobbing entgegen. So geben 56 Prozent der 12- bis 19-Jährigen in der JIM-Studie an, im letzten Monat im Netz Fake News begegnet zu sein, gut ein Drittel der Befragten wurde mit Hassbotschaften konfrontiert und 16 Prozent waren persönlichen Beleidigungen ausgesetzt.
In der Anonymität des Internets ist die Schwelle für Beleidigungen und persönliche Angriffe bekanntermaßen niedriger – mit der Folge, dass es ohnehin schon psychisch belasteten Menschen möglicherweise noch schlechter geht.
Verherrlichung statt Warnung
Die sozialen Medien scheinen trotz der Gefahren bei Kindern und Jugendlichen wie dafür geschaffen zu sein, zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen beizutragen. Beispielsweise junge Mädchen mit Anorexia nervosa, Magersucht, sind oftmals sozial isoliert und finden in den sozialen Medien das ersehnte Echo. Damit ist das Problem allerdings nicht gelöst, denn es reicht nicht aus, die eigenen Sorgen und Ängste im Netz zu teilen, sondern diese Erfahrung im realen Leben unter professioneller Begleitung stattfinden zu lassen. Schwierig wird es vor allem, wenn sich eine digitale Parallelwelt manifestiert und die Essstörung dort verherrlicht, also die Krankheit zum Lifestyle, wird. Genau das passiert nicht selten in digitalen Pro-Ana- oder Pro-Mia-Gruppen. Pro-Ana ist die Kurzform für Pro Anorexie, also Magersucht, Pro-Mia steht für Pro Bulimie. Unter den Mitgliedern der Gruppe herrscht schnell eine harte Konkurrenz, bei der Gewicht und Größe verglichen werden.
Dennoch können Mental-Health-Apps oder Social-Media-Plattformen für junge Betroffene eine Möglichkeit sein, die Frist bis zu einem Therapieplatz zu überbrücken. Hier treffen Menschen aufeinander, die eine ähnliche Geschichte haben und sie besser verstehen als Menschen ohne diese Problematik. Oftmals erzählen die Nutzer:innen sich gegenseitig mehr als ihren Freunden in der Schule oder Freizeit. Die Angst, Nicht-Betroffene zu überfordern, spielt hierbei eine große Rolle. Trotz der Chancen können Apps und die sozialen Medien eine klassische Psychotherapie nicht ersetzen, da jede Diagnose individuell ist und eine persönliche fachmännische Begleitung benötigt. Die Verbindung mit anderen über Instagram & Co. kann wohldosiert allerdings ein guter erster Schritt sein.
Gesprächsangebote in Schulen können helfen
Für pädagogische Fachkräfte, die bei einer Schülerin beziehungsweise einem Schüler etwa Symptome einer psychischen Erkrankung feststellen, ist es ratsam, das vertrauliche Gespräch zu suchen. Das Thema ist bei Betroffenen allerdings häufig scham- und angstbesetzt, daher kann das Gesprächsangebot mit Vertrauenslehrer:innen oder Schultherapeut:innen häufig weiterhelfen. Betroffene Eltern sollten sich zudem regelmäßig informieren, welche Medien ihre Kinder nutzen.
Fazit: Dass soziale Medien kein Therapie-Ersatz sind, liegt auf der Hand. Der Heilungsprozess von psychischen Erkrankungen findet ideal im geschützten Therapieraum statt, und nicht auf Instagram.
Dr. Nina Jordis ist eine deutsche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Buchautorin. Sie wurde 1982 geboren und lebte bis zu ihrem neunten Lebensjahr in Bayern. Dann zog sie mit ihren Eltern in den hohen Norden. Zunächst studierte sie Sonderpädagogik und absolvierte dann die Psychotherapieausbildung in Berlin.
Bereits im Jugendalter war sie sehr interessiert an der menschlichen Psyche. In ihrer Doktorarbeit untersuchte sie Evaluationsverfahren, die die Probanden zusätzlich stärken sollten. Heute arbeitet sie als Psychotherapeutin und Schriftstellerin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von Hamburg. Zuletzt erschien ihr Buch „Lass mal Therapie gehen!: Sechs Therapie-Storys von Jugendlichen“. Mehr Informationen unter: www.lass-mal-therapie-gehen.de.