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“Größtenteils haltlose Vorwürfe”: Warum die Debatte um Maria Montessori wenig neue Erkenntnisse bietet – ein Gastbeitrag

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BERLIN. Neues von gestern? Seit einigen Tagen häufen sich Meldungen über die 1952 verstorbene Maria Montessori. So berichtet der Deutschlandfunk über „die dunkle Seite der Reformpädagogin. Die Rede ist von rassistischem Denkweisen und einer Nähe zum Faschismus. Der Anlass: ein gerade erschienenes Buch der Salzburger Erziehungswissenschaftlerin Prof. Sabine Seichter, mit dem sie über 70 Jahre nach Montessoris Tod ein neues, wenig freundliches Bild von der Pädagogik-Ikone zeichnen will. Was ist dran? Wenig – erklärt Prof. Heiner Barz von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der seit Jahren zur Empirie und Praxis der Reformpädagogik forscht, in seinem folgenden Gastbeitrag.

Maria Montessori, hier ein nachträglich coloriertes Foto von 1913, hat pädagogische Prinzipien formuliert, die noch heute gelten. Foto: Wikimedia Commons / Public Domain CC BY-SA 4.0

Aufarbeitung ja – Diffamierung nein: Montessori und der Faschismus-Vorwurf

Im Deutschlandfunk Kultur wurde mit schwerem Geschütz die Gründerin der Montessori-Bewegung angegriffen. Gleich drei Beiträge, in denen schon die Headlines gewissermaßen ein Todesurteil ankündigen, wollen einer bewährten und allein in Deutschland von Hunderttausenden von Eltern, Kindern und Schülern geschätzten, international erfolgreichen Erziehungskonzeption den Garaus machen:

Man könnte behaupten, der Deutschlandfunk kommt hier nur seiner wissenschaftsjournalistischen Pflicht nach und berichtet über bildungshistorisch neue Erkenntnisse. Da diese „neuen Erkenntnisse“ erstens aber nicht neu und zweitens in diffamierender Weise höchst einseitig und über weite Strecken falsch zugespitzt werden, wäre es naheliegend, wenn auch Kritiker dieser Fundamentalkritik um eine Einschätzung gebeten würden: Audiatur et altera pars („Man höre auch die andere Seite.“). Was aus einer historisch und bildungsphilosophisch weniger voreingenommenen Perspektive zu den Invektiven von Prof. Seichter zu sagen wäre, soll im Folgenden skizziert werden. Die heutige Montessori-Pädagogik scheint indessen auch den neueren, größtenteils haltlosen Vorwürfen, mit Gelassenheit zu begegnen: Ihre internationale Erfolgsgeschichte ist offenbar kaum zu bremsen.

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Vorausgegangen ist den aktuellen Behauptungen seit Januar 2024, die eine strukturelle und praktische Verbindung zwischen Montessoripädagogik und Nationalsozialismus behaupten, ein ähnlich argumentierender Beitrag 2022 in einer österreichischen Zeitschrift,[1] auf den es 2023 auch Reaktionen aus der Montessori-Bewegung gab.[2]

Montessori und Mussolini – Das Scheitern einer Zweckgemeinschaft

Das Zentrum der Argumentation von Dr. Sabine Seichter, Professorin an der Uni Salzburg, deren Buch „Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind“ (Beltz Verlag 2024) im Mittelpunkt der aktuellen DLF-Sendungen stand, bildet die Behauptung einer inhaltlichen und historischen Nähe von Maria Montessori zum Faschismus. Die „Beweisführung“ erfolgt in maßgeblichen Teilen anhand von drei Themenfeldern, nämlich Rassismus, Eugenik und Mussolini. Es erscheint zunächst ziemlich einseitig, die inzwischen 120 Jahre erfolgreiche Montessori-Pädagogik auf die Episode zu reduzieren, in denen Mussolini sich mit der international anerkannten pädagogischen Autorität Maria Montessori schmücken wollte und Montessori eine Chance sah, Einfluss auf die Gestaltung der staatlichen Bildungsanstalten in Italien zu nehmen. Dazu habe ich bereits an anderer Stelle Bemerkungen gemacht.[3]

Hierzu ist es wichtig zu wissen, dass Montessori nicht nur als Pädagogin, sondern auch als Frauenrechtlerin und als Pazifistin international geachtet wurde. Mussolini war insofern mehr am berühmten Namen als an den inhaltlichen Konzepten der Montessori-Pädagogik interessiert. Tatsächlich musste dieses zeitweise Zweckbündnis an der kompletten Unvereinbarkeit der Vorstellungen vom Menschen und von der Erziehung scheitern. Folgerichtig ließ Mussolini 1934 sämtliche Montessori-Einrichtungen schließen. Auch die deutschen Nazis hatten übrigens schnell bemerkt, dass es keine wirklichen Gemeinsamkeiten mit reformpädagogischen Konzepten geben konnte, seien sie waldorf- oder montessori-pädagogischer Prägung.

So erschien am 23. Januar 1936, dem Zeitpunkt der Zwangsauflösung der letzten Montessori-Vereinigungen und –Einrichtungen in Nazideutschland, im „Westdeutschen Beobachter“ eine General-Abrechnung aus NS-Perspektive: „Allerdings verirren wir uns nicht in die individualistische Erziehungsform […], die im Kind ein Einzelwesen sieht. […] Es ist erwiesen, dass ausschließlich jüdische und marxistische Elemente jene Montessori-Pädagogik als willkommene Methode aufgriffen und für sie Propaganda machten. […] Es ist gut, dass wir die Methode kennlernten, um sie als verderblichen und unnötigen Ballast über Bord zu werfen.“[4]

Schon der Würzburger Montessori-Kritiker Winfried Böhm hatte in seiner Doktorarbeit indessen erkannt, dass es äußert schwer, ja eigentlich unmöglich ist, Montessoris Konzept einer bestimmten weltanschaulichen oder politischen Richtung zuzuordnen: „Zunächst wurde die Montessori-Pädagogik in den einzelnen Ländern von verschiedenen Gruppen propagiert: in Deutschland von Sozialisten, in Frankreich von den Theosophen, in Holland von Liberalen, in Österreich von der Kongregation der Weißen Franziskanerinnen; dann folgte überall eine Phase katholischen Montessoriverständnisses, die sich in ihrer Ausbreitung von Italien aus über Holland (1920), Deutschland (1929) und die Tschechoslowakei (1940) verfolgen läßt; nur in Österreich nahmen zur gleichen Zeit die Sozialisten Montessori für sich in Beschlag.“[5]

Die Behauptung einer gewissermaßen immanenten Affinität von Montessoris Menschenbild und Pädagogik zu Faschismus und Nationalsozialismus lässt sich jedenfalls weder anthropologisch noch historisch aufrechterhalten. Montessori selbst hatte viele Jahrzehnte in Barcelona, Amsterdam und Adyar (Indien) gelebt und gelehrt. Als sie 1947 erstmals wieder in Italien war, wurde sie auch zu ihrer Zusammenarbeit mit dem Faschismus gefragt: „Sie haben meine Schulen abgeschafft, weil sie auf einer internationalen Idee beruhten und weil ich mich weigerte, Krieg zu lehren.“[6]

Wer im 21. Jahrhundert über Einstellungen und Äußerungen von Menschen urteilt, die vor 100 oder 120 Jahren gelebt haben, muss die damaligen Verhältnisse und Selbstverständlichkeiten in Rechnung stellen. Nur wer die damals vorherrschenden Anschauungen über Menschen und Völker aus verschiedenen Weltgegenden, über die gesellschaftliche Partizipation von Frauen (z.B. Wahlrecht, Recht auf höhere Bildung) oder über die scheinbar unerschöpflichen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik zur Verbesserung der Lebensbedingungen kennt,[7] kann sie in Würdigung und Be- oder Verurteilung auch berücksichtigen.

Maria Montessori hat sich als eine der ersten Ärztinnen Italiens und später als Friedensaktivistin sicher über viele hergebrachte Traditionen und in ihrem Umfeld geltende Anschauungen hinweggesetzt. In anderen Punkten war sie ganz Kind ihrer Zeit. Und so finden sich – in dieser Zeit von Kolonialismus und Imperialismus durchaus gewissermaßen „common sense“ – Zitate zur Überlegenheit der „triumphierenden Rasse“ gegenüber den „minderwertigen Rassen“. Insbesondere manches aus Montessoris frühen Schriften, die den Zeitgeist der Jahrhundertwende atmen, wirkt auf uns heute fremd, ja abstoßend. Das wird von Vertretern der Montessori-Bewegung auch unumwunden eingeräumt.

So formuliert etwa der Vorsitzende von Montessori Deutschland, Dr. Jörg Boysen: „Es gibt tatsächlich solche Zitate. Da muss man allerdings weit zurückgehen, zwei Jahrzehnte zurück, in die Anfänge ihrer beruflichen Tätigkeit, als sie Ärztin an einer Klinik war und dann an das Pädagogische Institut der Universität in Rom kam. Von 1905 bis 1908 hat sie für Naturwissenschaftler Vorlesungen zum Thema Anthropologie gehalten, in denen sie den Studenten den damaligen Stand dieser Wissenschaft näherbrachte, der tatsächlich rassistisch geprägt war. Diese Vorlesungen hat sie auf Bitte ihrer Studenten 1910 als Buch veröffentlicht, in dem sie versuchte – so heißt auch das Buch – , eine „pädagogische Anthropologie” zu entwickeln.“[8]

Es war indessen das, was Dr. Montessori als junge Dozentin an der römischen Universität in den vorhandenen Lehrbüchern vorfand und ihrerseits an ihre Studenten weitergab. Dass sie alles andere als eine nationale Chauvinistin, oder gar Nationalistin war, lässt sich nicht nur an ihrer internationalen Anhängerschaft, an ihren langjährigen Wohnsitzen in Spanien, den Niederlanden und Indien ablesen – sondern auch an ihrem Engagement als Friedensaktivistin, weshalb sie mehrfach als Kandidatin für den Friedensnobelpreis gehandelt worden war.

Das Ministerium für menschliche Entwicklung. Oder: Wie man aus Public Health Rassismus macht

Das „Ministry of the Race“, das angebliche Ministerium für Eugenik und Rassismus, das Montessori (1951) gefordert haben soll,[9] war in Wirklichkeit eines, das Humanismus, Kultur und Bildung fördern sollte. Vor allem durch eine Verbesserung der Bedingungen des Aufwachsens in jeder, insbesondere in kultureller Hinsicht. Mit „Race“ ist also das gemeint, was wir im Deutschen vielleicht Menschheit nennen würden. Und das von Montessori skizzierte Ministerium wäre in heutigem Verständnis vielleicht eines, was Gesundheit, Bildung, Familie und Jugendhilfe umfasst. Von dem, was Seichter und Tenorth insinuieren, nämlich biologistisch motivierte Auslese einer weißen Herrenrasse und womöglich sogar Eliminierung lebensunwerten Lebens, findet sich in der Original-Version des Textes von Montessori rein gar nichts.

Stattdessen ist immer wieder von Kultivierung und von Lern- und Lebensbedingungen die Rede, die erforderlich sind, um Kinder ein ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechendes Aufwachsen zu ermöglichen: „Heute sprechen die Psychologen viel von ‚Unterdrückung‘ bei Kindern, aber wenn man berücksichtigt, dass die Art des Unterrichtens stets ein und dieselbe ist, muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass nicht nur Kinder, sondern auch die Jugendlichen und die Erwachsenen unter den Schülern unterdrückt und deformiert, das heißt, in ihrer Persönlichkeit geschwächt werden, wenn man sie zum Lernen zwingt. Die Bildungseinrichtungen bringen daher ein Geschlecht seelischer Zwerge hervor, bei denen die höheren menschlichen Eigenschaften erstickt worden sind.“[10]

Dementsprechend war der betreffende Text von Montessori auch in den auf Deutsch verfügbaren Fassungen unter die Überschrift „Das Ministerium für menschliche Entwicklung“ gestellt worden.[11] Seichter nutzt den bloßen Klang des englischen Titels „Ministry of the Race“, und übersetzt ihn eigenwillig mit „Ministerium für die Verbesserung der menschlichen Rasse“, um daraus den Vorwurf zu zimmern, dass Montessori auch nach dem Ende von Faschismus und Nationalsozialismus noch eugenische und rassistische Ideen verkündet hätte.

Zunächst ist im Zusammenhang mit dem zurecht heute als Unwort geltenden Begriff „Eugenik“ darauf hinzuweisen, dass die Eugenik im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts u.a. durch den großen Einfluss des Darwinismus ein durchaus von vielen Wissenschaftlern und einflussreichen Personen vertretenes Konzept darstellte. Als Vererbungslehre mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern und den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern, sah man international Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gegensteuerns vor dem Hintergrund einer als problematisch wahrgenommenen „Degeneration“ der Bevölkerung. Literaten wie D. H. Lawrence, George Bernard Shaw, H. G. Wells traten ebenso dafür ein wie der britische Premierminister Winston Churchill oder der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes – um berühmte Beispiele aus dem angelsächsischen Raum zu nennen. In Deutschland propagierte etwa der Sozialmediziner und Reichstagsabgeordnete der SPD, Prof. Alfred Grotjahn (1869-1931) ein stärker auf Sozialhygiene ausgerichtetes Konzept der Eugenik.

Wenn die späte Montessori sich für die Kultivierung und Verbesserung der Menschheit einsetzte und durch eine wissenschaftlich angeleitete Neugestaltung von Bildung und Erziehung den Weg dazu ebnen wollte, dann war alles andere als die von Seichter behauptete Rassenhygiene nationalsozialistischer Prägung gemeint. Die Intention von Montessori war vielmehr eindeutig auf Menschheit oder Spezies und nicht auf irgendeinen Teil davon gerichtet.

Dementsprechend wurde der Text etwa auch im Italienischen unter die Überschrift gestellt: „II ministero della specie“.[12] Montessori erläutert ihr „Ministerium für menschliche Entwicklung“ damit, dass es für viele Dinge, die für eine Gesellschaft wichtig sind, eigene Ministerien gibt. Dass aber eben für die Verbesserung der Lebensbedingungen insbesondere der Kinder bisher keine Zuständigkeit gesehen worden sei. Sie nennt u.a. das Beispiel der Landwirtschaft, wo die Erträge verbessert wurden, indem man die Bauern darüber aufgeklärt hat, wie man mit wissenschaftlichen Methoden und technischen Errungenschaften (Maschinen, Düngern, Pestizide, Züchtung) die Ernten ertragreicher machen kann. Und sie beklagt, „dass kein ähnlicher Versuch unternommen wird ‚die Menschheit zu kultivieren.‘“ In der Tat werden Pflanzen auch durch Erbgutveränderungen kultiviert.

Der gesamte Kontext und alle von Montessori in Bezug auf die Menschheit vorgeschlagenen Maßnahmen zielen aber nirgends in Richtung Erbgesundheitslehre oder Rassenhygiene. Montessoris Appell gilt einzig und allein der Verbesserung der Erziehungsmethoden, der Ausschöpfung von durch falsche Methoden brachliegenden Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Das, was sie intendiert, hätte man früher vielleicht „Volksgesundheit“ und heute „Public Health“ genannt. Es braucht einen starken Willen zum bewussten Missverständnis, um aus Montessoris Text aus dem Jahr 1951 eugenische Motive herauszulesen.

Die Thesen der Kollegin Seichter entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Halbwahrheiten und Manipulationen – nicht nur beim angeblichen „Ministerium zur Verbesserung der menschlichen Rasse.“ Montessori war etwa auf der Weltausstellung 1915 in San Francisco eingeladen worden, eine Art Demo-Klassenzimmer einzurichten, in dem Kinder bei der Arbeit mit Montessori-Materialien beobachtet werden konnten. Frau Seichter berichtet von einem – so wörtlich – “gigantischen Glaskasten”, einem “gläsernen Schaukasten”, in der Montessori die Kinder zur Schau gestellt hätte (angeblich als Prototypen der überlegenen “weißen Herrenrasse”). Nach dieser Beschreibung stellt man sich einen Menschenkäfig vor, von allen Seiten einsehbar, oder einen saalgroßen Glas-Kubus. Aber die Fotos des realen „Glass Classrooms“ zeigen etwas anderes, nämlich keinen Glaskasten, sondern einen kleinen Klassenraum, in dessen einer Seitenwand durch Sproßenfenster die Möglichkeit des Zusehens geschaffen wurde. Wie im Brennglas scheint sich in dieser manipulativ verzerrten Darstellung die Arbeitsweise von Frau Seichter zu spiegeln.

Mit der Behauptung von Prof. Seichter, der weltberühmte Philosoph und Bildungstheoretiker John Dewey sei ein scharfer Kritiker der Montessori-Pädagogik gewesen, verhält es sich ähnlich: Ein paar Sätze, in denen Dewey die Unterschiede seiner zentralen pädagogischen Postulate zu denen Montessoris sachlich benennt, stehen im Kontext einer großen gemeinsamen Anstrengung beider, für eine neue Sicht auf die Kindheit und für eine Erneuerung der Erziehungsmethoden einzutreten – was Dewey auch überaus wertschätzend gegenüber Montessori so formuliert hat. Usw.

Die Montessori-Bewegung hat schon manche Stürme überstanden. Ausgerechnet aus den USA wurde ihr einst eine mechanistische Methode, eine zu sehr dem Wissenschaftsglauben des 19. Jahrhunderts verhaftete Konzeption unterstellt. Interessant sind dazu übrigens die Richtigstellungen, die Michael Knoll[13] längst in Bezug auf die Position John Deweys geliefert hat, der Montessori gegen die harschen Einwände seines Kollegen Kilpatrick verteidigte. Später wurde die Frage virulent, ob man die Montessoripädagogik wegen ihrer u.a. auch an fernöstlichen Religionen orientierten Weltsicht und Montessoris Sympathie für die Theosophie überhaupt als „genuin christliches“ Konzept gelten lassen könne. Auch wurde gelegentlich die zu geringe Betonung der künstlerisch-musischen Bildung und – im Kindergartenbereich – das Fehlen einer expliziten Würdigung des kindlichen Freispiels kritisiert.

Über all diese Aspekte haben Montessori-Vertreter immer wieder diskutiert[14] und auch teilweise neue Wege gefunden. Ich denke etwa an die Montessori-Waldkindergärten, an Montessori-Naturschulen oder an die Musical-Schule im Montessori-Internat Schloss Hagerhof. Montessori-Einrichtungen haben sich für die empirische Überprüfung ihrer pädagogischen Arbeit geöffnet und sich mit kritischen Rückmeldungen auseinandergesetzt.[15] Und auch die Vergangenheitsbewältigung in puncto der (teilweise fehlenden) Abgrenzung zu Mussolinis faschistischer Bewegung ist etwas, worüber Montessorianer sich Gedanken gemacht haben – und diese auch öffentlich zur Diskussion gestellt haben.[16] Das Argument fehlender Auseinandersetzung oder mangelnder Aufarbeitungsbereitschaft läuft also ins Leere. Und auch der Faschismus-Vorwurf wird nicht dadurch wahr, dass er nun nach einer ersten Welle, um das Jahr 2000 herum, erneut vorgetragen wird.

Alle Wege führen nach Würzburg?

Interessanterweise taucht sowohl hinter den altbekannten (Fuchs, Leenders, Hofer[17]) wie den neueren Schriften (Stiehler, Seichter), die das Ansehen von Maria Montessori mit Hilfe des Faschismus-Vorwurfs beschädigen wollen, als Stichwortgeber und akademischer Lehrer immer wieder ein und dieselbe Person auf: Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Böhm. Birgitta Fuchs ist die Tochter von Böhm. Leenders, Hofer und Seichter wurden bei ihren Doktorarbeiten von Böhm betreut. Seichter hat mit Böhm zusammen mehrfach publiziert. Dr. Miriam Stiehler, die Autorin eines unsäglichen Cicero-Artikels[18], der das Kunststück fertigbringt, Maria Montessori gleichzeitig als autoritäre Anhängerin Mussolinis wie als Mutter der Laissez-Faire-Pädagogik zu verunglimpfen, hat ebenfalls in Würzburg promoviert.

Im Laufe der Jahre war Böhm offenbar vom Apologeten zum Apostaten mutiert. Anhand der Sammlung pädagogischer Quellentexte, die er über Jahrzehnte in immer neuen Auflagen zu Montessori herausgegeben hatte, lässt sich diese Wandlung erahnen. So fand sich bis 1985 darin noch ein Text von ihm selbst, der die Stärken der Montessori-Pädagogik in puncto Individualität und Selbsttätigkeit, in Selbstbestimmung und Eigenzeit der Kinder durchaus würdigt. Während Böhm in späteren Auflagen eher z. B. um die Beweisführung bemüht ist, Montessori des Renegatentums wegen des Abfalls vom Katholizismus, zu überführen. Ursprünglich wusste Böhm den Montessori-Ansatz noch durchaus sehr positiv zu charakterisieren.

Im älteren Text von 1985 (auf S. 113) lesen wir von Böhm noch Sätze wie: „Ohne allen Zweifel geht es Maria Montessori in erster Linie darum, das Eigenrecht des Kindes, seine Andersheit und seine Individualität gegenüber jeder Form von Adultismus und aller die kindliche Eigentümlichkeit einebnenden gleichmacherischen Erziehung zu verteidigen. Indem Montessori mit allem Nachdruck die überragende Bedeutung des individuellen Bauplans und mit aller ihrer Entschiedenheit den Vorrang der kindlichen Entwicklungs- und Wachstumsgesetzlichkeiten verficht, richtet sie das Schwert ihrer Kritik gleichermaßen auf jegliche pädagogische Überheblichkeit und jedweden Hochmut des Erziehers – die Fehler des Kindes sind für Montessori die Fehler des Erwachsenen! –, und genauso brandmarkt sie das Ausufern der gesellschaftlichen Ansprüche und Erfordernisse. Nicht Lernen und Qualifikationen machen das Herzstück der Montessori-Pädagogik aus, sondern die gesunde Entwicklung und der unverquerte ‚Selbstaufbau‘ der kindlichen und jugendlichen Individualität. Eine ‚Erziehung vom Kinde aus‘ also!“[19]

Montessori und „das vermessene Kind“

Sicher mag man zurecht über manche Beobachtungs- und Vermessungsmethoden gerade der frühen Montessori, die noch stark unter dem Einfluss der damaligen biologisch orientierten Anthropologie stand, die Stirn runzeln. Es erscheint mir aber einigermaßen absurd, wenn Frau Seichter allen Ernstes Montessori als Ideengeberin für heutige Gen-Experimente haftbar machen will. So behauptet sie etwa, „Montessoris embryologische (und nach wie vor spirituell-religiöse) Vorstellungen von einem ‚immanenten Bauplan‘ werden in diesen Tagen wissenschaftliche Realität.“ (S. 13) Montessori habe mit ihren „eugenisch motivierten Erlösungsphantasien“ die heutige Vision vom „Design-Baby“ vorweggenommen.

Montessoris Verbesserungsideen und Hoffnungen waren immer eher darauf gerichtet, dass die im Kind schlummernden Kräfte und Talente, seine persönlichen Anlagen und Potentiale durch aufmerksame Erwachsene gefördert und individuell zu bestmöglicher Entfaltung gebracht werden. Sie betonte auch die „Werterfahrung“ der Persönlichkeit. Sie meinte damit nicht nur, dass sich Selbstwirksamkeit vor allem dann entwickeln kann, wenn ein Kind geliebt wird, sondern auch, „dass das Individuum sich für seine Entwicklung anstrengen und sich selbst üben muss und nicht abhängig von anderen sein darf. […] Freiheit ist die Unabhängigkeit, die man mit eigener Anstrengung erwirbt.“[20]

Es gehört wirklich viel Phantasie dazu, dies als ein Reglement schematischer Vorgaben anhand vermeintlicher Idealmuster und Standard-Normen zu interpretieren. Wie weit sich Frau Seichter damit von den tatsächlichen Grundintentionen Maria Montessoris entfernt hat, soll abschließend an einer Episode aus Montessoris Leben verdeutlicht werden:

„1946 sagte sie ihren Schülern, sie glaube, die Säuglinge würden durch die Art der Behandlung, die man ihnen nach der Geburt im Abendland routinemäßig angedeihen lasse, geschädigt. Anstatt sie zu baden, zu wiegen und zu messen, sollte man sie nur einfach einwickeln und an die Brust ihrer Mütter legen, und sie nicht in den ersten Lebensstunden von ihren Müttern trennen.

Das war für sie nicht etwa eine neue Art der Betrachtung. Schon im Frühjahr 1936, bei einem Besuch in Budapest, als Elise Braun in Wien von einer Tochter entbunden worden war, hatte Maria Montessori auf dem Rückweg nach Barcelona in Wien ihre Reise unterbrochen und war gekommen, um sich das Baby anzusehen. Sie stand lange an der Wiege und schaute auf das schlafende Kind. Als es Zeit wurde, das Baby zu stillen, wollte ‚Mammolina‘ dabeisein. Als sie sah, wie Lisl streng die Regeln ihres Wiener Kinderarztes befolgte, das Baby vor dem Stillen wog, und danach noch einmal, um festzustellen, wieviel es getrunken hatte, und nicht weiterstillen wollte, nachdem das Kind die vorgeschriebene achtzig Gramm Milch getrunken hatte, war Maria Montessori entsetzt gewesen:

‚Glaubst du nicht, daß die Kleine weiß, wann sie genug gekriegt hat?‘ schalt sie die junge Mutter und sagte ihr, sie solle die Waage fortwerfen und sich nach dem Instinkt des Babys richten, womit sie die Idee des ‚Stillens auf Verlangen‘ vorwegnahm, wie so viele andere Praktiken der Kindererziehung, lange ehe ihre ärztlichen Kollegen soweit waren.“[21] Von Heiner Barz (Stand: 19. Februar 2024)

Univ.-Prof. Dr. Heiner Barz, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat sich seit vielen Jahren als Bildungsforscher mit Theorie, Empirie und Praxis der Reformpädagogik und aktuellen Bildungsproblemen befasst. Zum Thema erschien von ihm z.B. das “Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik” (Springer VS: 2018) und die Monographie “Reformpädagogik. Innovative Impulse und kritische Aspekte” (Beltz Verlag: 2018).

[1] Stefan T. Hopmann: Wie faschistisch ist Montessori? In „Die Furche“, 04.05.2022.

[2] Thomas Helmle: Zur Diskussion: Frischer Wind erforderlich. Zu einigen konzeptionellen Schwächen der Montessori-Pädagogik. In: Montessori (2023), Heft 1, S. 140-159.

Dr. Jörg Boysen: Montessori und Mussolini – Ein Interview. Auf der Website des Verbandes „Montessori Deutschland“ im Oktober 2023 publiziert: https://www.montessori-deutschland.de/ueber-montessori/maria-montessori/interview-zu-montessori-und-mussolini/

[3] https://www.cicero.de/kultur/serie-bildungsmisere-replik-montessori

[4] Günter Schulz-Benesch (2002): „Ein NS-Pamphlet gegen die Montessori-Pädagogik.“ In: Harald Ludwig; Christian Fischer, Reinhard Fischer (Hrsg.): Montessori-Pädagogik in Deutschland: Rückblick – Aktualität – Zukunftsperspektiven: 40 Jahre Montessori-Vereinigung e.V. Münster: LIT Verlag. S. 177-179.

[5] Winfried Böhm (1969): Maria Montessori. Hintergrund und Prinzipien ihres pädagogischen Denkens. Bad Heilbrunn/Obb. (Unveränderte 2. Auflage: 1991)

[6] Kramer, Rita: Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag. 1996. Amerikanisches Original: 1976. Deutsche Erstausgabe bei Kindler, München 1977. S. 419.

[7] Vgl. etwa Philipp Bloms großes Geschichtspanorama „The Vertigo Years“ (2008; dt. 2009: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München: Hanser Verlag).

[8] Dr. Jörg Boysen: Montessori und Mussolini – Ein Interview. Auf der Website des Verbandes „Montessori Deutschland“ im Oktober 2023 publiziert:

https://www.montessori-deutschland.de/ueber-montessori/maria-montessori/interview-zu-montessori-und-mussolini/

[9] Maria Montessori: The Ministry of the Race. In: D. D. Kanga (Ed.): Where Theosophy and Science Meet – A Stimulus to Modern Thought, Vol. II: God and Law. Adyar/Madras 1951, pp. 516-522.

[10] Maria Montessori: Das Ministerium für menschliche Entwicklung. In: Harald Ludwig (Hrsg.) (2013): Durch das Kind zu einer neuen Welt. Montessori – Gesammelte Werke, Band 15. Freiburg i.Br.: Verlag Herder. S. 297-304. S. 300.

[11] Winfried Böhm (Hrsg.) (³1985): Maria Montessori: Texte und Gegenwartsdiskussion. Reihe: Klinkhardts Pädagogische Quellentexte. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt. (5. erweiterte und verbesserte Auflag: 1996); Montessori GW Bd. 15 (vgl. Anm. 10).

[12] Vgl. Ludwig 2013, S. 298.

[13] Michael Knoll: John Dewey über Maria Montessori. Ein unbekannter Brief. In: Pädagogische Rundschau 50 (1996), S. 209-219.

[14] Hans Schmutzler (1991): Fröbel und Montessori. Zwei geniale Erzieher – was sie unterscheidet, was sie verbindet. Freiburg i.Br.: Herder Verlag.

[15] Boysen, Jörg; Dirk Randoll; Nina Villwock (2022): „Man lernt Sachen, die man wirklich braucht.“ Absolventenstudie: Ehemalige Montessori-Schüler:innen kommen zu Wort. Weinheim – Basel: Beltz Juventa. Und: Sylva Liebenwein, Heiner Barz, Dirk Randoll (2013): Bildungserfahrungen an Montessorischulen. Empirische Studie zu Schulqualität und Lernerfahrungen. Wiesbaden: Springer VS.

[16] Siehe oben (Anmerkung 2): Helmle (2023) und Boysen (2023). Aber auch schon die Schriften von Leenders, Hofer und Fuchs wurden aufmerksam rezipiert und ebenso kenntnisreich wie kritisch kommentiert: Hans-Dietrich Raapke: Montessori an den Pranger? In: Zeitschrift „Montessori“, 2002, Heft 3-4, S. 272-287. Erneut abgedruckt in: Harald Ludwig, Christian Fischer, Reinhard Fischer (Hrsg.) (2003): Verstehendes Lernen in der Montessori-Pädagogik, Reihe Impulse der Reformpädagogik. Münster: LIT Verlag. S. 232-246. Und: Hans-Dietrich Raapke (2008): Anmerkungen zum Begriff der „Normalisierung“ in der Montessori-Pädagogik. In: Das Kind, Heft 43. S. 150-154. Erneut abgedruckt in: Das Kind. 2014. Heft 56. S. 54-58.

[17] Birgitta Fuchs (2003): Maria Montessori. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim: UTB. – Christine Hofer (2001): Die pädagogische Anthropologie Maria Montessoris – oder: Die Erziehung zum neuen Menschen. Würzburg: Ergon Verlag. – Hélène Leenders (2001): Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus. Aus dem Niederländischen übersetzt von Petra Korte. Bad Heilbrunn/Obb.: Verlag Julius Klinkhardt.

[18] Vom 15. Januar 2024.

[19] Winfried Böhm (Hrsg.) (³1985): Maria Montessori. Texte und Gegenwartsdiskussion. Klinkhardts Pädagogische Quellentexte. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt Verlag.

[20] Maria Montessori: Moralische und soziale Erziehung (Vortrag von 1938 in Edinburgh) in: Durch das Kind zu einer neuen Welt, Freiburg 2017, S. 87

[21] Kramer, Rita: Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag. 1996. Amerikanisches Original: 1976. Deutsche Erstausgabe bei Kindler, München 1977. S. 412.

Weiterführende Literatur

Heiner Barz (Hrsg.) (2018): Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik. Wiesbaden: Springer VS.

Heiner Barz (2018): Reformpädagogik. Innovative Impulse und kritische Aspekte. Weinheim: Beltz.

Heiner Barz (2018): Montessori & Co. Eine kurze Geschichte der Reformpädagogik. In: Felixberger, Peter / Nassehi, Armin u.a.: Kursbuch 301 Gramm Bildung. Hamburg: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, S. 65-85.

Manfred Berger (2002): “Hilf mir, es allein zu tun!” – Vor 50 Jahren starb Maria Montessori. In: Martin R. Textor und Antje Bostelmann (Hrsg.): Das Kita-Handbuch. Zuerst erschienen bei Forum: Frau und Gesellschaft (siehe www.forumfrau.de), Februar 2002. Online:
https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/geschichte-der-kinderbetreuung/weitere-historische-beitraege/749/

Cristina De Stefano (2021): Kinder als Lehrer. Das Leben der Maria Montessori. Aus dem Italienischen von Franziska Kristen. München: btb.

„Alles ist gut, was Druck aus dem Regelsystem herausnimmt – und Schulen Freiräume gibt“: Montessori-Vorsitzender Boysen im Interview

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